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Welche Kirchen brauchen Familien?

Ein Vortrag bei der Themensynode "Familie" des Ev.-Luth. Kirchenkreises Hamburg-West/Südholstein von Cornelia Coenen-Marx, Referentin Sozial- und Gesellschaftspolitische Fragen der EKD und Geschäftsführerin der Kommission, die das Papier "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit" verfasst hat.
Veröffentlichung
Samstag, 2. November 2013
Themensynode "Familie" des Ev.-Luth. Kirchenkreises Hamburg-West/Südholstein

1. Was für eine Debatte!

In der letzten Woche wurde der Reader zur Familienschrift der EKD für die Synode versandt – ein Booklett von 170 Seiten, in dem wir die aus unserer Sicht wichtigsten Vorträge, Artikel und Medienäußerungen zur Orientierungshilfe "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken" versammelt haben. Nicht mehr als zwei Artikel pro Journalist, nicht mehr als eine Stellungnahme pro Institution; es hätten leicht mehr als 300 Seiten werden können. "Sind Sie nicht überrascht über die Diskussion?" wurde ich in diesem Sommer immer wieder gefragt. Doch, zunächst einmal war ich überrascht. Nicht nur über Ausmaß und Heftigkeit der Debatte, sondern auch und vor allem über ihren Focus.

Denn der Rat der EKD hatte im Jahr 2008 eine ad-hoc-Kommission berufen, um kirchliche Handlungsempfehlungen für die aktuellen familienpolitischen Herausforderungen zu formulieren. Die Kommission unter Leitung der ehemaligen Familienministerin Dr. Christine Bergmann sollte sich mit der offen-sichtlichen Spannung zwischen dem Wunsch nach stabilen Ehen und Familien einerseits und der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit einer hohen Scheidungsrate und einer große Zahl Alleinlebender und Alleinerziehender andererseits auseinander zu setzen. Stellvertretende Vorsitzende wurde Prof. Dr. Ute Gerhard, ehemals Vorsitzende der EAF; die sich seit langem mit dem Thema Care-Arbeit, also mit der Bedeutung von Erziehung und Pflege für die Wohlfahrtsentwicklung, beschäftigt hat. Die Kommission hatte insgesamt 14 Mitglieder: Soziologinnen und Soziologen, Theologinnen und ein Theologe, Juristinnen – Menschen aus Politik und Kirche, Wissenschaft, Diakonie und Verbände. Das ist die übliche Zusammensetzung für eine sozialpolitische Kommission. Diesmal waren es 14 Personen, darunter drei Männer. Das gab im Nachhinein Anlass zu Fragen. Tatsächlich spiegelt sich aber in der einzigartigen Dominanz von Frauen die Realität in diesem Arbeitsfeld.

"Die mediale wie die innerkirchliche Debatte, die durch die vorgelegte Orientierungshilfe ausgelöst wurde, dreht sich allerdings bisher nicht um den familienpolitischen Schwerpunkt des Textes, sondern im Wesentlichen um das theologische Kapitel"

Die Kommission sollte Vorschläge für eine Weiterentwicklung des deutschen Sozialstaatsmodells im europäischen Vergleich machen, sie sollte angesichts veränderter Geschlechterrollen Empfehlungen für die Weiterentwicklung von Renten- und Krankenversicherungssystemen, aber auch für die steuerliche Entlastung von Familien- und Sorgearbeit geben. Und natürlich sollte auch das Verhältnis von institutioneller und familialer Erziehung thematisiert werden. Auf dem Hintergrund dieses Auftrags hat sich die ad-hoc-Kommission mit der soziologischen Wirklichkeit, den familienpolitischen Paradigmen, der Geschichte und Rechtslage beschäftigt und hat Herausforderungen und Brennpunkte der Familienpolitik benannt.

Dazu gehört die Frage nach Zeit für die Familie – Zeitpolitik war ja auch das Thema des letzten Familienberichts der Bundesregierung –, das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Zusammenarbeit von Familien und Institutionen bei Erziehung und Bildung, die neue Entwicklung der Generationenbeziehungen – wir sprechen inzwischen von multilokalen Mehrgenerationenfamilien oder auch von "Bohnenstangenfamilien" – die Fragen der häuslichen Pflege, Gewalt in Familien und schließlich die Herausforderungen der Migration und das Auseinanderdriften der Gesellschaft im Blick auf Reichtum und Armut.

Die mediale wie die innerkirchliche Debatte, die durch die vorgelegte Orientierungshilfe ausgelöst wurde, dreht sich allerdings bisher nicht um den familienpolitischen Schwerpunkt des Textes, sondern im Wesentlichen um das theologische Kapitel. Dabei kommt die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Herausforderungen, theologischem Nachdenken, der historischen Verortung biblischer Texte, ihrer je zeitgenössischen Auslegung und kirchlichem Handeln allerdings kaum in den Blick. Die Kirche erscheint als Agentur für zeitlose Normen und Werte. Nun ist es angesichts einer in moralischen Fragen relativ verunsicherten Gesellschaft grundsätzlich positiv, dass den Kirchen noch immer ein hoher Vertrauensvorschuss entgegengebracht wird, wenn es um Zusammenhalt und Gerechtigkeit geht. Die Debatte zeigt aber auch, dass das Bewusstsein für die Erfahrungs- und Kontextbezogenheit unserer Werte fehlt. Im Wertewandel ist Kirche als Bollwerk gegen den Werteverfall gefragt. Der Umgang mit biblischer Hermeneutik in Kirche und Gesellschaft spielt also eine zentrale Rolle. Das wurde in den letzten Wochen deutlich und soll weiter bearbeitet werden. Die Frage nach dem Familienbild der Kirche, oder genauer gesagt, nach den Familienbildern, die die Kirche im Lauf der Geschichte vertreten hat, muss deshalb im Spannungsfeld zwischen aktuellen Herausforderungen, Geschichte und Theologie gelesen werden.

2. Familie – Institution im Wandel

Was ist Familie? Am Ursprung des Volkes Israel stehen Jakob mit Lea und Rahel, ihren beiden Mägden und den 12 Söhnen – ein hochkompliziertes Arrangement von Liebe und Nachkommenschaft, das durch Rechte und Pflichten geregelt ist. Am Anfang des Protestantismus steht das evangelische Pfarrhaus: Der Mönch Martin Luther, die entlaufene Nonne Katharina von Bora, ihre Kinder, die Studenten, Gäste im Haus – Familie als Erwerbs- und Fürsorgegemeinschaft, in der auch die Arbeit der Hausfrau zum Beruf werden konnte. Ganz ähnlich noch das Pfarrhaus der 50er Jahre, in dem ich aufgewachsen bin: der große Mittagstisch mit Vikar und Kindergärtnerinnen, die bei uns lebten, der Haustochter aus Neukirchen-Vluyn, meiner Urgroßtante, dem Urgroßonkel und immer mit Pflegekindern. Der Preis, den meine Mutter zahlte, als sie nach ihrem Studium ihre Berufstätigkeit aufgab, wurde mir erst später bewusst. Als ich 13 war und dieses Idyll endete, als wir zu fünft in ein Reihenhaus zogen – Vater, Mutter und drei Kinder – erschien mir das zum Ersticken eng.

Was ist Familie? Über Jahrhunderte zuerst eine Hausgemeinschaft. Vom ganzen Haus war denn auch die Rede – nicht einmal der Begriff "Familie" hat eine Rolle gespielt. Und was ist Ehe? Über lange Zeit eine Rechtsbeziehung, zu der auch mehr als eine Frau gehören konnte. Die Zeit, in der Familien Eigentums- und Gewaltverhältnisse waren, ist noch nicht lange vorbei – und auch die Zeit der Geschlechterhierarchie nicht. Bis zu Beginn der 70er Jahre entschieden Männer als Haushaltsvorstand über die Erwerbstätigkeit ihrer Frauen. Und erst in dieser Zeit gewannen Pastorinnen in der ev. Kirche die gleichen Rechte wie ihre Kollegen. Ich bin deshalb überzeugt, dass die unterschiedlichen Familienformen von heute – die so genannte klassische Familie, Patchworkfamilien, Alleinerziehende, Regenbogenfamilien – weit mehr gemeinsam haben als die traditionelle Familie mit den unterschiedlichen Formen in Geschichte und Tradition, oder auch mit den unterschiedlichen Familienformen der Bibel, ja noch der Reformations- und Neuzeit. Was wir unter Familie verstehen, ist in einem dauernden Wandel begriffen – und es wäre viel zu kurz gegriffen, diesen Wandel als Verfallsgeschichte zu verstehen. Es geht eben zugleich um eine Befreiungsgeschichte. Gleichwohl gehören dazu auch heute große Veränderungsprozesse und Herausforderungen. Drei greife ich heraus.

"Familie ist nicht mehr die vielbeschworene "Gemeinschaft des Blutes", sie ist nicht einfach Schicksalsgemeinschaft, sondern mehr und mehr auf Entscheidungen füreinander gegründet"

Die Zeit für Familiengründung ist knapp geworden. Wir alle haben zehn gesunde Jahre an Lebenserwartung hinzu gewonnen; Ehen dauern ein Vielfaches länger, als sie noch im 19. Jahrhundert mit seiner hohen Frauen- und auch Kindersterblichkeit halten konnten. Viele Kinder wurden damals ganz selbstverständlich von "Stiefmüttern", Schwestern und Tanten erzogen. Heute kennen wir Patchworkfamilien, aber eben auch mehr und mehr Goldene Hochzeiten. Gleichwohl ist die Zeit zur Familiengründung knapp geworden. Lange Ausbildungszeiten und schwierige Berufseinstiege haben zur Folge, dass die Geburt von Kindern im Lebenslauf immer weiter hinausgeschoben wird: Das Durchschnittsalter der Erstgebärenden liegt gegenwärtig bei 29 Jahren (Ostdeutschland: 27 Jahre), 60% der Kinder werden von Müttern zwischen 26-35 Jahren geboren (Statistisches Bundesamt 2012: 9f.). Und – auch daran sei hier erinnert – ein nicht kleiner Teil der betroffenen Frauen leiden darunter, dass ihr Kinderwunsch sich nicht, wie geplant erfüllt, weil die Zeit knapp geworden ist, weil sie den richtigen Partner nicht gefunden haben, weil berufliche Karriereschritte, Familiengründung und Pflege der Eltern in eine Phase fallen – die Rushhour des Lebens. Reproduktionsmedizin spielt bei der Familienplanung eine immer größere Rolle. 40 Prozent der Frauen, die über 35 schwanger werden, wenden solche Methoden an. Und inzwischen leben in Deutschland 100.000 Samenspenderkinder.

Ein Drittel aller Kinder werden zudem nichtehelich geboren. Das sind doppelt so viele wie noch vor zwanzig Jahren. Hier besteht allerdings ein markanter deutsch-deutscher Unterschied: Im Westen sind es nämlich nur 27 % der Kinder, im Osten 61 %. Auch wenn Hochzeiten groß gefeiert werden: die Attraktivität der Ehe sinkt und dem entspricht auch ein Rückgang kirchlicher Eheschließungen. Die Zahl der Trauungen mit Taufen, der so genannten Traufen, steigt allerdings: denn die ist Ehe zunehmend nicht mehr Voraussetzung, sondern Folge gemeinsamer Kinder. Diese Veränderung der Perspektive wird oft übersehen, wenn Ehe und Familie in einem Zusammen-hang genannt werden.

Die Vielfalt des Familienlebens nimmt also zweitens zu. Der Anteil Alleinerziehender (19 %) und nichtehelicher Lebensgemeinschaften (knapp 9 %) ist deutlich angestiegen – auch hier zeigt sich allerdings ein großer Unterschied zwischen Ost und West. In Ostdeutschland machen verheiratete Familien nur noch knapp die Hälfte aus, während jede vierte Familie eine Ein-Eltern-Familie ist und jede fünfte auf Grundlage einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft beruht. Rund 11.500 Kinder, die meist aus früheren heterosexuellen Partnerschaften stammen, wachsen zudem in Regenbogenfamilien auf. Zwar sind noch 72 % der Familien Ehepaare mit Kindern (BMFSFJ 2012: 22), aber Familien auf Ehebasis sind zunehmend Patchwork-Konstellationen. Das alles bedeutet: Familie ist nicht mehr die vielbeschworene "Gemeinschaft des Blutes", sie ist nicht einfach Schicksalsgemeinschaft, sondern mehr und mehr auf Entscheidungen füreinander gegründet.

Die Soziologie spricht inzwischen von Familie als "Herstellungsgemeinschaft" – sie schaut auf das "doing family". Familie ist Geschenk, aber Familie zu leben, braucht eben auch bewusste Arbeit an einer gemeinsamen Identität und Kultur und Zeit für vielfältige Kontakte – zu Hause, aber auch mit Elternteilen und Verwandten, die an anderen Orten wohnen. Ein Projekt wie "Mein Vati kommt", mit dem Besuche von Vätern bei ihren Kindern unterstützt werden, zeigt, dass es da-bei nicht nur um Zeit geht, sondern auch um Geld. Auch in Brüchen Zusammenhalt zu leben ist eben leichter, wenn man das Ganze finanziell abfedern kann.

"Das westdeutsche Modell der Familienpolitik [...] geht dabei traditionell von der Familie als Erwerbs- und Fürsorgegemeinschaft aus – mit vollerwerbstätigem Familienvorstand und einer Hausfrau und Mutter, die für Erziehung und Pflege sorgt"

Schließlich wächst drittens die gesellschaftliche und ökonomische Spreizung – nicht nur deshalb, weil sich die sozialen Milieus in Deutschland in hohem Maße auseinander entwickeln. Auffällig ist die Polarisierung sozia-ler Lebenslagen zwischen Ein- und Zwei-Verdiener Haushalten, vor allem aber zwischen denen, die für Kinder sorgen und denen, die keine Kinder zu versorgen haben. Familienarbeit wird finanziell nur honoriert, wenn sie Ehe- oder Lebenspartnerschaft basiert ist – eben mit dem Ehegattensplitting. Auch deshalb sind Alleinerziehende, die kaum in Vollzeit arbeiten können, überdurchschnittlich häufig von Einkommensarmut betroffen. Mit einem Kind sind sie zu 46 %, mit zwei und mehr Kindern sogar zu 62 % armutsgefährdet. In Paarhaushalten liegt die Armutsrisikoquote dagegen je nach Kinderzahl zwischen 7 und 22 %. Kinder, die in diesen Familien groß werden, erfahren häufig Ausgrenzung – in ihren Familien häufen sich die Unterversorgungslagen, nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch, was Gesundheit und Bildung angeht. Der Streit um Betreuungsgeld und Krippenplätze dreht sich nicht zuletzt um die Frage, was nötig ist, um die Chancen dieser Kinder zu verbessern.

Die Zahl der Kinderkrippen, Kindergärten und Schulhorte ist in Deutschland Ost und West ähnlich unterschiedlich wie die Situation von Ehe und Familie. Hier zeigt sich der deutliche Zusammenhang von Familienpolitiken und gesellschaftlicher Entwicklung. Deshalb ein paar Hinweise zu unserem familienpolitischen Paradigma: Das westdeutsche Modell der Familienpolitik, das uns nach wie vor selbstverständlich erscheint, setzt mit der katholischen Soziallehre auf Subsidiarität: es gibt der kleinsten Einheit des persönlichen Miteinanders Raum und schafft dafür einen gesellschaftlich unterstützenden Rahmen. Es geht dabei traditionell von der Familie als Erwerbs- und Fürsorgegemeinschaft aus – mit vollerwerbstätigem Familienvorstand und einer Hausfrau und Mutter, die für Erziehung und Pflege sorgt. Diese Gemeinschaft wird vom Staat gefördert und finanziell gestützt – durch Ehegatten-Splitting und Mitversicherung von Frauen und Kindern über die an der Erwerbstätigkeit angekoppelten sozialen Sicherungssysteme. Zugleich baute das Bildungssystem von Kindergärten bis Halbtagsschulen darauf, dass einer der Ehepartner, in der Regel die Frauen, allenfalls halbtags arbeitete.

Mein Kindergartenlied drückte das aus: "Zwölf Uhr hat’s geschlagen, die Spielzeit ist aus, nun gehen wir alle recht fröhlich nach Haus – zu Hause, da wartet die Mutter auf mich und war ich recht artig, dann freuet sie sich." Wehe dem Schlüsselkind, dessen Mutter nicht warten konnte. Wehe den Rabenmüttern dieser Zeit. Harald und Reimut, die Kinder unserer Haushaltshilfe, kamen Gott sei Dank auch an den Mittagstisch im Pfarrhaus.

Dieses deutsche, subsidiäre Modell steht in Europa familienpolitisch in der Mitte – zwischen hoher Frauenerwerbstätigkeit, Individualbesteuerung, staatlicher Fürsorge und Ganztagsschulen im staatlich-lutherischen Skandinavien oder im laizistisch-zentralistischen Frankreich einerseits und einer noch stärkeren Privatisierung von Familien und Fürsorgeleistungen im katholischen Italien oder Spanien. Dabei zeigt sich: es gibt keinen Zusammenhang zwischen hoher Geburtenrate und geringer Frauenerwerbstätigkeit – im Gegenteil. Wo die Infrastrukturleistungen Erwerbstätigkeit ermöglichen, wie in Frankreich oder Skandinavien, ist die Geburtenrate hoch, wo sie fehlen, besonders niedrig. Und gerade in der Wirtschaftskrise zeigt sich, wie sehr Familien im Süden überfordert werden.

"Die Vielfalt heutigen Familienlebens ist ein starkes Argument für individuelle Gestaltungsfreiheit – doch braucht auch Wahlfreiheit eine politische Rahmensetzung und Infrastruktur, die sie ermöglicht"

Die Gleichberechtigung in der Erwerbsarbeit, die sich die Frauenbewegung im Westen seit Ende der 60er Jahre auf die Fahnen geschrieben hatte, galt lange Zeit als "eine der größten Errungenschaften" der DDR und wurde seit den 70er Jahren durch ein ganzes Bündel sozialpolitischer Maßnahmen mit Hilfen für Mütter und Kinder wie zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestützt. Damit sollte sowohl der 'Wille zum Kind' gestärkt werden; es ging aber auch um die Rekrutierung von Frauen für den Arbeitsmarkt. Und tatsächlich lag die Frauenerwerbsbeteiligung im Osten 1989 bei fast 90 % im Gegensatz zu 55 % in Westdeutschland. Inzwischen liegt sie bei 70 % in Gesamtdeutschland – gleichwohl ist die Erwerbsstundenzahl nicht gewachsen – der Normalfall ist die Teilzeit für Frauen. Entgegen der politischen Zielsetzung blieb aber Familie auch in der DDR Privatsphäre - wie schon im Dritten Reich ein Schutzraum, in dem sich individuelle Initiativen entwickeln konnten. Auf diesem Hintergrund finden wir in allen Ländern Mitteleuropas, die Erfahrungen mit Diktaturen gemacht haben, einen rechtlichen, oft verfassungsrechtlichen, Schutz von Familien- und Elternrechten gegen Eingriffe des Staates, die Länder wie Großbritannien nicht kennen.

Bis heute sind deshalb auch die Leitbilder der Familienpolitik strittig. Das spürt man nicht zuletzt an der gewissen Tabuisierung der durchaus unterschiedlichen familienpolitischen Geschichte in Deutschland. Dass nämlich "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit" als erster EKD-Text konsequent beides darstellt, wird durchweg keinesfalls gewürdigt – im Gegenteil: immer wieder wird der Eindruck vermittelt, die Schrift enthalte ein sozusagen sozialistisches Gesellschaftsbild der 70er Jahre. Dabei unterscheiden sich die politische und wirtschaftliche Zielsetzung in der heutigen Bundesrepublik kaum noch von der oben beschriebenen: angesichts des demografischen Wandels geht es um eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und zugleich um die Steigerung der Geburtenrate. Und selbst die Bertelsmann-Stiftung lobt inzwischen ostdeutsche Ganztagsschulen und Lehrerausbildung. Gleichwohl ist die Frage, in welchem Maße familienpolitische Leitbilder überhaupt eine Rolle spielen dürfen, bis heute strittig. Und die Vielfalt heutigen Familienlebens ist ein starkes Argument für individuelle Gestaltungsfreiheit – doch braucht auch Wahlfreiheit eine politische Rahmensetzung und Infrastruktur, die sie ermöglicht.

"Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken" – der Titel der EKD-Schrift ist Programm. Es geht darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Menschen ermöglichen, die Gemeinschaft zu leben, die sie leben wollen. Eine Studie des Instituts für Bevölkerungsforschung, die vor einem halben Jahr erschien, zeigt: 88 % der Befragten zwischen 20 und 39 Jahren verstehen auch schwule oder lesbische Lebensgemeinschaften mit Kindern als eine Form der Familie. Fast genauso hoch, jeweils über 80 %, ist die Zustimmung im Blick auf Patchwork-Familien und alleinerziehenden Müttern. Und 82 % wünschen sich Kinder. Der Wille zum Kind ist also da – was fehlt, sind stärkende Strukturen und unterstützende Hilfen.

3. Gesellschaftliche Leitbilder von Familie

Zwischen Fürsorge und Erwerbsarbeit "Familie ist, wo Kinder sind", heißt denn auch die politische Formel, mit der die Vielfalt der Familienformen in einem neuen Leitbild zusammengefasst wird. Dieser so genannte erweiterte Familienbegriff ist aber angesichts des demographischen Wandels unvollständig: Familie ist überall da, wo private Sorgearbeit geleistet und Zusammenhalt zwischen den Generationen gestaltet wird – das gilt auch für erwachsene Kinder mit ihren pflegebedürftigen Eltern. Die allermeisten Menschen sehnen sich nach einem solchen Raum der Geborgenheit, der wechselseitigen Fürsorge und Entlastung, nach einem Ort der Liebe und Freundschaft und Stabilität. Familie ist Heimat in unsicheren Zeiten. Gleichwohl oder vielleicht gerade deshalb zerbrechen Familien an äußerer und innerer Überforderung.

Familien können ihre Leistungen in Erziehung und Bildung, Pflege und Re-produktion nur erbringen, wenn die unbezahlte und unter bestimmten Aspekten auch unbezahlbare private Sorgearbeit gesellschaftlich honoriert wird. Die Funktionsfähigkeit unseres Sozialstaats beruht nämlich nicht nur auf den Leistungen der Sozialversicherung, die aus Erwerbsarbeit finanziert werden, sondern weit mehr auf der alltäglichen Haus- und Erziehungsarbeit, die in den eigenen vier Wänden geschieht und in der Regel unsichtbar bleibt. Arbeit, die schon immer im Schatten stand, und zunehmend abgewertet wurde. Zunächst auf dem Hintergrund einer traditionellen Familienverfassung mit geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung, dann durch die Dynamik einer berufsorientierten Emanzipationsbewegung, die die traditionelle Geschlechter-hierarchie auflöste. Am Ende dieser Entwicklung steht heute eine ökonomisierte Erwerbs- und Konsumgesellschaft, in der nichts gilt, was nichts kostet. Das gilt für die Fürsorgearbeit im privaten Bereich, aber auch für die professionelle Sorgearbeit, die nach wie vor ungleich schlechter bezahlt wird als die Arbeit in der Produktion.

"Allerdings kann und muss man fragen, ob unsere Vorstellungen von Karriere überhaupt noch zielführend sind. Und tatsächlich fragen sich das mehr und mehr Männer und Frauen"

Wenn aber alle erwachsenen Erwerbstätigen – Frauen wie Männer, unabhängig von ihren familialen Verpflichtungen – dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen sollen, wie es sowohl im SGB II als auch im Unterhaltsrecht voraus gesetzt wird – und wie es nach der jüngsten "Brigitte-Studie" von Jutta Allmendinger vom Wissenschaftszentrum heute junge Männer wie Frauen für selbstverständlich halten – dann brauchen Familien mehr Unterstützung bei Erziehung und Bildung, bei der Pflege und in Krisensituationen. Und das bedeutet auch: die professionelle Sorgearbeit muss so finanziert werden, dass diese Berufe für Männer und Frauen attraktiv bleiben oder wieder werden. Fehlende Betreuungseinrichtungen, aber auch die nach wie vor unterschiedlichen Einkommen von Männern und Frauen führen zurzeit dazu, dass vor allem Frauen ihre beruflichen Ambitionen zurückstellen, sobald Kinder geboren werden. Auch Paare mit anfangs partnerschaftlicher Rollenteilung geben diese spätestens mit der Geburt des zweiten Kindes zugunsten traditioneller Formen auf. Frauen übernehmen den Hauptteil der Familien- und Hausarbeit. Laut Brigitte-Studie von Jutta Allmendinger stimmten im Jahr 2012 53% der Frauen der Aussage zu: "Wer Kinder hat, kann keine wirkliche Karriere machen." (bei der Vorläuferstudie 2007 sagten das nur 36%). Die befragten Frauen, die Kinder bekommen haben, fühlten sich beruflich ausrangiert.

Allerdings kann und muss man fragen, ob unsere Vorstellungen von Karriere überhaupt noch zielführend sind. Und tatsächlich fragen sich das mehr und mehr Männer und Frauen. Nach einer Studie des Instituts für Arbeit und Beschäftigung (IAB) im Zusammenhang mit dem jüngsten Familienbericht der Bundesregierung wünschen sich Frauen zwar eine längere Arbeitszeit, nämlich die so genannte lange Teilzeit von 30 Stunden- aber Männer wünschen sich das gleiche. Weniger Zeit im Büro und mehr in der Familie.

Kinder, Küche und Erwerbsarbeit sind aber immer noch schwer zu vereinbaren. Offenbar stimmen weder die finanziellen noch die zeitpolitischen Voraussetzungen. Und wenn man die alte Formel noch einmal anschaut: Erwerbsarbeit auf der einen Seite und Kinder, Küche und Kirche auf der anderen – Ökonomie also auf der einen und Familie und Religion auf der anderen, dann wird uns bewusst: Es ist eben auch eine Frage der Zeit, ob Kirche und Religion zwischen Küche und Erwerbsarbeit überhaupt noch eine Rolle spielen. Nach wie vor ist Familie die wichtigste religiöse Sozialisationsinstanz, aber für das Abendgebet, den Sonntag, für Feste brauchen Familien gemeinsame Zeit. Diese Zeit ist bedroht. Und das bedeutet für die Kirche: die religiöse Funktion der Familien ist von erheblichen Traditionsabbrüchen bedroht. Dabei ist deutlich: Mehr als Familien Kirche brauchen, braucht Kirche Familien, sie lebt von Familienleistungen - von der religiösen Erziehung bis zu Fürsorge und Ehrenamt.

"Sorgende und fürsorgliche Tätigkeiten in der Familie sind Arbeit; sie unterscheiden sich aber ihren Anforderungen und ihrer Qualität grundlegend von Lohnarbeit"

Angesichts der Reproduktionskrise, des demographischen Wandels und des tiefgreifenden Strukturwandels am Arbeitsmarkt stehen wir sozialpolitisch vor der Herausforderung, Bildung, Erwerbsarbeit und die Fürsorge im Erwerbs-verlauf zu entzerren, gerechter zwischen den Geschlechtern zu verteilen und neue Arrangements zwischen Familien und Dienstleistungen zu schaffen. Wenn das nicht gelingt, droht das Care-Defizit, von dem der Siebte Familien-bericht der Bundesregierung bereits spricht. Vor allem aber brauchen Haus- und Familienarbeit, Erziehung und Pflege eine neue gesellschaftliche Wert-schätzung – und zwar jenseits der geschlechterspezifischen Arbeits- und Rollenteilung. In unserer Arbeitsgesellschaft zählt nur, was jemand beruflich leistet – hier kann und muss Gemeinde Alternativen bilden. Zugleich aber muss die Zeit, die Väter und Mütter, Töchter, Söhne und Partner mit Erziehungs- und Pflegeaufgaben verbringen, mit beruflichem Einsatz vereinbar sein und sich auch in Steuer und Sozialversicherungsrecht niederschlagen – und das bedeutet: das traditionelle Modell des Ehegattensplittings und der Mitversicherungsleistungen muss so weiter entwickelt werden, dass es auch anderen Familienformen dient. Gesine Schwan hat diese Idee im Modell ei-ner partnerschaftlichen Familie als öffentliches Gut entwickelt.

Dabei muss man sich klarmachen: eine vollständige Delegation der Carearbeit an Dienstleister ist nicht denkbar. Weil die notwendigen Fachkräfte fehlen, weil die Finanzierung einer solchen Infrastruktur eine erhebliche gesellschaftliche Umverteilung zur Folge hätte, vor allem aber, weil es bei den Care-Aufgaben um mehr als um bezahlbare Dienstleistungen geht. Ehen sind Rechtsbeziehungen, aber sie sind keine Geschäftsbeziehungen wie die zwischen Unternehmen - auch wenn dieser Vergleich neuerdings beim Ehegattensplitting genutzt wird. Sorgende und fürsorgliche Tätigkeiten in der Familie sind Arbeit; sie unterscheiden sich aber ihren Anforderungen und ihrer Qualität grundlegend von Lohnarbeit. Ihr Ziel ist nicht die Herstellung eines Produkts, sondern das für andere Dasein und Zeit haben, das Sich-Kümmern um das Wohlergehen eines/r anderen, um die Reproduktion und den Schutz des Lebens. Im Unterschied zu Erwerbsarbeit geht es also nicht die Einsparung von Zeit und Effizienzsteigerung. Es geht nicht nur um gute Verhandlungen zwischen Partnern und um Zeitmanagement mit Quality-Time für die Kinder. Es geht um die Grundbedingungen ‚guten Lebens’, die unentbehrlich sind für die Solidarität innerhalb der Familien, für das gedeihliche Aufwachsen von Kindern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deswegen wünschen sich nicht nur Kinder, sondern eben auch Väter und Mütter mehr Zeit miteinander und eine bessere Balance von Erwerbs- und Familienarbeit.

4. Familienpolitik und Kirche – zur Rolle von Kirche und Theologie in der Leitbilddebatte

Die Orientierungshilfe "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit deutet die Situation von Familien auf dem Hintergrund moderner Vorstellungen von Autonomie, Gleichheit und Gerechtigkeit. Sie macht aber zugleich deutlich, dass die wechselseitige Angewiesenheit aller in den Modernisierungsprozessen unterschätzt wurde – eben mit dem Ergebnis, dass Erwerbsarbeit heute höher gewertet wird als Care-Arbeit und die Ressourcen für Care-Arbeit schwinden. Dass Angewiesenheit für unser Menschsein konstitutiv ist, ver-sucht das theologische Kapitel am Beispiel der Schöpfungserzählung wie des Segenshandeln Gottes in den Mittelpunkt zu rücken – und geht dabei zugleich historisch-kritisch mit dem zeitgenössisch-hierarchischen Geschlechterverhältnis der Texte um. "Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei", zitiert der Text die Schöpfungserzählung – nimmt dann aber das Stich-wort der "Gehilfin" mit all seinen Konnotationen von Nach- und Unterordnung nicht wörtlich auf. Nach evangelischem Verständnis dürfen Freiheit und Bin-dung, Autonomie und Angewiesenheit nicht gegeneinander ausgespielt wer-den. Um es ganz deutlich zu sagen: nicht nur Kinder und pflegebedürftige Menschen sind auf andere angewiesen – und nicht nur Frauen, Mütter und Schwestern sind für Zuwendung zuständig.

Leitlinie einer evangelisch ausgerichteten Förderung von Familien, Ehen und Lebenspartnerschaften muss die konsequente Stärkung aller fürsorglichen Beziehungen sein. Wo Menschen auf Dauer und im Zusammenhang der Generationen Verantwortung füreinander übernehmen, sollten sie Unterstützung in Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen finden – mit praktischen Hilfen, mit gottesdienstlichen, pädagogischen und diakonischen Ange-boten. Die Form, in der Familie und Partnerschaft gelebt werden, darf dabei nicht entscheidend sein. Alle familiären Beziehungen, in denen sich Menschen in Freiheit aneinander binden, füreinander Verantwortung übernehmen und eine verlässliche Partnerschaft eingehen, müssen auf die evangelische Kirche bauen können.

Sätze wie diese allerdings haben in der Debatte um die Orientierungshilfe auch heftigen Widerspruch ausgelöst. Insbesondere im kirchlichen Kontext wird die Zuordnung von "Ehe und Familie" offenbar nach wie vor als selbst-verständlich voraus gesetzt. Insofern haben Alleinerziehende das richtige Gefühl, wenn sie Sorge haben, als unvollständige Familie gesehen zu wer-den, wenn sie ihre Kinder taufen lassen. Die Entscheidungen des Bundes-verfassungsgerichts zur Gleichstellung homosexueller Partnerschaften sind vielen ein Dorn im Auge. Beim Lesen mancher Briefe und Mails – es waren mehr als 600 Mails, von denen mehr als die Hälfte zustimmend war, und 300 Briefe, die meisten kritisch – habe ich den Eindruck gewonnen, dass diejenigen, die sich rechtlich oder politisch auf Seiten der im Bundesverfassungsgericht unterlegenen Minderheit fühlen, eine bremsende Funktion der Kirche gegenüber Politik und Verfassungsorganen erwartet hätten.

"Das subsidiäre familienpolitische Modell in Deutschland ist im Miteinander der beiden großen Kirchen ganz wesentlich von der christlichen Soziallehre geprägt. Und dieses Leitbild wirkt bis heute nach"

Die wechselseitige Einflussnahme bzw. Bedingtheit von Politik, gesellschaftlichen Entwicklungen und Kirche als Institution und politischem Akteur lässt sich am Beispiel von Ehe und Familie in Deutschland besonders gut nachverfolgen. "Kinder, Küche, Kirche" waren nie unpolitisch – im Gegenteil: in diesem Feld hat sich die Kirche immer wieder positioniert – ob es um Eltern-rechte und Kindererziehung, oder auch um die Verhinderung der Erwerbstätigkeit von Frauen ging. Das subsidiäre familienpolitische Modell in Deutschland ist im Miteinander der beiden großen Kirchen ganz wesentlich von der christlichen Soziallehre geprägt. Und dieses Leitbild wirkt bis heute nach – von den Sozialsystemen bis zur Halbtagsschule. Das bedeutet aber auch: die Kirche, die für den subsidiären Entwicklungspfad der Familienpolitik, wie auch für die Entwicklung von Erziehung und Pflege in Deutschland wesentlich Verantwortung trägt, hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich über die Zukunft von Familien zu äußern. Gleichwohl hinterlassen viele der kritischen Zuschriften den Eindruck, dass Familie nach wie vor als "unpolitischer" Bereich neben Politik und Erwerbswelt wahrgenommen wird. Wo es um Liebe und Zusammenhalt geht, sind Gerechtigkeits- oder Verteilungsfragen tabu. Nun stehen Politik und politische Werte wie Gerechtigkeit oder Gleichheit und Freiheit ohnehin zurzeit nicht im Zentrum des Interesses – stattdessen geht es um Tugenden; Lebensregeln und eben auch um Familie. Manche sprechen schon vom neuen Biedermeier in einer Zeit der großen Umbrüche, in der kaum noch jemand auf einen neuen Gesellschaftsentwurf hofft.

Wer die jüngere Geschichte der sozial- und gesellschaftspolitischen Schriften kennt, wird wissen, dass wir nicht zum ersten Mal eine so heftige Debatte erleben. Auch in der Auseinandersetzung mit der "Unternehmerdenkschrift" gab es ähnlich grundsätzliche Kritik, wenn auch aus einem anderen politischen "Lager". Auch damals wurde beklagt, dass der theologische Teil zu "dünn" sei, es gab Unterschriftenaktionen und Erklärungen mit dem Ziel der Rücknahme des Textes, eine Gegenschrift entstand, bei der dann folgenden EKD-Synode wurde protestiert. Merkwürdigerweise haben viele diese Auseinandersetzung vergessen – wohl weil das Thema "Unternehmen und Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft" anders als das Thema "Familie" nicht ans Selbstverständnis kirchlichen Handelns rührt. Hier zeigt sich noch immer eine deutliche Spaltung zwischen der Welt von Wirtschaft und Arbeit mit ihrer ökonomisch-politischen Ausrichtung auf der einen Seite und der Welt von Kinder, Küche und Kirche auf der anderen. Geld oder Liebe – Politik oder Religion – Außen und Innen – Männer- und Frauenwelt: Es scheint, als sei diese Dichotomie noch immer nicht überwunden. Dabei müssen wir uns bewusst machen, dass die so genannten "weichen", die Fürsorge-Werte in Politik und Management, den "harten" ökonomischen immer noch nachgeordnet werden. Die Konsequenzen für Reproduktion und Wohlfahrt könnten gravierend werden – und sich am Ende auch ökonomisch auswirken. Darum ist es eben doch notwendig, zu fragen, wem die bisherige Verfasstheit von Ehe und Familie nützt. Die Orientierungshilfe scheut sich nicht, auch Ungerechtigkeiten in der bisherigen Ordnung von Ehe- und Familienpolitik – wie die Benachteiligung Alleinerziehender oder die Frage der Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften zu benennen. Darin liegt keine grundsätzliche Abkehr vom Leitbild Ehe, wohl aber das Bemühen um klare Kriterien des Gelingens und der Zukunftsfestigkeit aller familiären Formen, die auf verlässlichen Gemeinschaften basieren

5. Und die Theologie?

Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familiären Zusammenlebens entsprächen ein normatives Verständnis der Ehe als "Göttliche Stiftung" und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus einer vermeintlichen "Schöpfungsordnung" weder der Breite des biblischen Zeugnisses noch unserer Theologie, sagte der Ratsvorsitzende bei der Pressekonferenz zur Orientierungshilfe. Die Schrift setze vielmehr das geschichtliche Gewordensein und den Wandel familiärer Leitbilder vo-raus. Dabei könne sie sich auch auf Martin Luther beziehen, der bei aller Hochschätzung als "göttlich Werk und Gebot" die Ehe zum "weltlich Ding" erklärt, das von den Partnern gestaltbar ist und gestaltet werden müsse – als generationenübergreifender Lebensraum mit Verlässlichkeit in Vielfalt, Verbindlichkeit in Verantwortung, Vertrauen und Vergebungsbereitschaft, Für-sorge und Beziehungsgerechtigkeit. Aus einem evangelischen Eheverständnis kann also deshalb eine neue Freiheit auch im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen erwachsen – im Umgang mit Geschiedenen genauso wie mit Einelternfamilie oder auch mit gleichgeschlechtlichen Paaren. Für diese Gestaltungsaufgaben empfiehlt der Text gleichwohl einen verbindlichen institutionellen Rechtsrahmen, an dem zum Beispiel auch finanzielle Entlastungen andocken können.

Der Modus, in dem hier Theologie entwickelt wird, ist, wie Dr. Stephanie Schardien kürzlich dargestellt hat, nicht erhaltungstheologisch, sondern gestaltungstheologisch. Der Text der Orientierungshilfe geht nicht von natur-rechtlich-ontologischen Überlegungen, sondern von Glauben und Weltgestaltung des Einzelnen wie der Christen-Gemeinschaft aus. Wer Naturrecht und ontologische Überlegungen der Geschlechterdifferenz zugrunde legt, um zu beschreiben, dass der Mensch auf ein Gegenüber angewiesen ist, wird Homosexualität, Transsexualität usw. als Abweichung betrachten müssen.

"Der Versuch, die biblischen Texte einer solchen Überformung oder zeitlosen Abstraktion zu entkleiden, um ihre befreiende Kraft wahrzunehmen, wird als 'desorientierend' kritisiert"

Medizinisch und psychologisch gesehen ist es aber mit der Polarität der Geschlechter nicht so einfach, wie einige glauben möchten – manche sprechen inzwischen von insgesamt acht Geschlechtern. Und auch das Generativitätsverhalten hat sich eben seit Pille und Reproduktionsmedizin radikal verändert. Das Geschlechterschicksal, die "Natur der Frau" wird nicht mehr als so zwingend erlebt – Menschen haben angesichts ihrer Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten aber viel mehr mit Grenzerfahrungen, Scheitern und Einsamkeit zu tun. Der Segen, von dem die Familienschrift spricht, meint des-halb auch nicht nur den Schöpfungssegen, sondern eben auch den immer wieder erneuerten Segensbund Gottes, dem unser Bund entsprechen soll. Dahinter steht eine hier nicht entfaltete, dynamische Bundestheologie. Wenn man sich klar macht, dass die Propheten Israel als Gottes Braut und Geliebte verstehen, mit der er bei allen Brüchen und Enttäuschungen mit Geduld und Liebe immer neu beginnt, dann wird man vielleicht auch anders über Neuanfänge nachdenken.

"Schöpfungsordnung", "Scheidungsverbot" und Ablehnung von "Homosexualität" in der Bibel bilden dagegen die "Ecksteine" für die biblisch-theologische Kritik. In all diesen Fällen enthält die Orientierungshilfe implizit oder explizit eine andere "Einordnung". Polarität wird eben nicht nur als Geschlechterpolarität verstanden, das Scheidungsverbot wird vor allem als Schutz der Schwächeren interpretiert, die biblische Ablehnung der Homosexualität wird darin begründet, dass ein unserem heutigen vergleichbares Konzept homosexueller Liebe auf Augenhöhe nicht existierte. Gleichwohl wird nicht erst heute das eigene, zeitbedingte Selbstverständnis in diese Texte "hineingelesen", während irritierende Wahrnehmungen in biblischen Texten (gesegnete Vielehen, Rechtlosigkeit von Frauen und Kindern etc.) ausgeblendet werden. Dabei spielen agendarische "Deutungen" ("Hört Gottes Wort von der Stiftung und Ordnung des Ehestandes"), aber auch Katechismustexte eine wesentliche Rolle. Am Beispiel der Sonntagsheiligung hat Jürgen Ebach aber auch gezeigt, wie Luthers Kleiner Katechismus das Sabbatgebot überformte. Der Versuch, die biblischen Texte einer solchen Überformung oder zeitlosen Abstraktion zu entkleiden, um ihre befreiende Kraft wahrzunehmen, wird dann als "desorientierend" kritisiert.

6. Konsequenzen für Kirche und Diakonie

"Überrascht Sie die Debatte?" Ja – aber sie hat mir geholfen zu verstehen, dass das Care-Defizit, auf das wir zugehen, noch immer nicht wirklich wahr-genommen wird. Dass die familienpolitischen Herausforderungen vor denen wir stehen, noch immer als private und nicht als öffentliche begriffen werden und dass wir nach wie vor dazu neigen, in diesem Bereich eher moralisch als sozialethisch zu denken. So geht es also um Religion, um Normen und Werte – und eben nicht um Gesellschaftspolitik. Und die familienpolitischen oder auch die kirchlich-diakonischen Handlungsfelder im Text werden so gut wie nicht diskutiert. Ebenso wenig wird gesehen, dass Diakonie und kirchliche Familienverbände das hier beschriebene erweiterte Familienbild seit langem vertreten. Hier wird die bekannte Spaltung zwischen verfasster Kirche und ihren Verbänden sichtbar, deren politische oder familienpolitische Äußerungen als nachgeordnet verstanden werden, obwohl die soziologisch-politische Expertise gerade hier vorhanden ist. Wer die Kirche vor allem als Normen- und Werteagentur erlebt, nimmt oft die breite diakonischen Handelns sowie die vielfältige Praxis in sozialen Projekten und Einrichtungen nicht wirklich zur Kenntnis. Gleichwohl wird die Zuständigkeit für lebensweltliche Themen seit langem an Verbände, insbesondere an die Diakonie "ausgelagert" – oft gelingt es so, Konflikte zwischen Norm und Lebenswelt zu vermeiden. In der Konsequenz wurde das kirchlich so zentrale Handlungsfeld "Familie" in den letzten Jahren nicht systematisch weiterentwickelt und unterliegt in Landeskirchen und Diakonischen Werken ganz unterschiedlichen Zuständigkeiten; eine produktive Zusammenarbeit zwischen Gemeinden und funktionalen Diensten fehlt.

Dabei ist gerade in diesem Arbeitsfeld erkennbar, wie wichtig es ist, dass Kirche und Diakonie, Orientierung und ein realistischer Blick auf die Wirklichkeit zusammen kommen – und dass auch Gemeinden und Fachdienste auf Kirchenkreisebene mehr miteinander verknüpft werden.

Welche Kirchen brauchen also Familien?

1.) Eine Kirche, die offen ist für Rollenveränderungen – zwischen den Geschlechtern wie bei den Altersbildern. Und dabei geht es ans Eingemachte. Denn mehr als Familien Kirche brauchen, braucht die Kirche Familien: im Blick auf Ehrenamt, Fürsorge und religiöse Sozialisation. Das alles ist tangiert von den neuen Rollenbildern: Frauen- und Männer-gruppen, Ehrenamt und Altenarbeit in Kirche müssen sich so ändern, dass die Kompetenzen und Lebensschwerpunkte von Menschen, aber auch ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft und Zuwendung und ihr Einsatz fürs Gemeinwesen ernst genommen werden.

2.) Eine Kirche, die Hochzeiten feiert und Krisen ernst nimmt: Kirche ist nach wie vor der Ort, wo Taufen und Konfirmationen, Weihnachten gefeiert wird, wo Beerdigungen begangen werden. Mit solchen Festzeiten verknüpfen sich heute ganz neue Herausforderungen, Brüche ernst zu nehmen und Zusammenhalt zu gestalten. Kirche als Gemeinde kann diesen Herausforderungen nur gerecht werden, wenn sie mit Kirche als Diakonie zusammenarbeitet, Beratung ernst nimmt und Angebote an den Knoten- und Krisenpunkten des Lebens verknüpft.

3.) Gemeinden, die mit der Trägerschaft von Tageseinrichtungen und Familienzentren punkten: Dabei geht es nicht nur um den quantitativen, sondern auch um den qualitativen Ausbau der Tageseinrichtungen für Kinder. Denn angesichts der Schwierigkeiten der in vielen Fällen finanzschwachen Kommunen, allein das quantitative Ausbauziel zu erreichen, droht die Verbesserung der Qualität der angebotenen Bildungs- und Betreuungsplätze zu kurz zu kommen. Gerade hier ist die Kirche gefragt – immerhin war sie die allererste Trägerin von Kindergärten – im 19. Jahrhundert, als Familien in der ersten Industrialisierungswelle überfordert waren. Nicht zuletzt geht es darum, in Familienbildungsstätten und Familienzentren die Elternarbeit zu stärken und auch auf religiöse Bildung und Wertekompetenz zu achten.

4.) Eine Kirche, die bewusst Zeitpolitik betreibt: Dabei geht es einerseits um die Trägerschaft von Einrichtungen und deren Vereinbarkeit mit der Erwerbswelt – nicht nur im Blick auf Produktion und Dienstleistung, sondern auch im Blick auf die eigene diakonische Arbeit. Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenheimen z.B. könnten durchaus auf ein Kinder-hotel angewiesen sein. Zum anderen geht es um die Zeiten der Angebote für Gottesdienste, Feste, Familienfrühstücke etc. Die Kirche muss hier wie bei der Gestaltung von Festen Akzente setzen, die auf die geringe Zeit von Familien Rücksicht nimmt und sie gestalten.

5.) Eine Familiaritas aller Generationen: Wenn es um die Weitergabe von Glauben und Werten, Traditionen und Erfahrungen geht, brauchen Familie und Gesellschaft alle Generationen. Das gilt auch für plötzlichen Kinderbetreuungsengpässe oder finanziellen Notsituationen: ohne die private Solidarität der älteren Generation geriete die jüngere in Schwierigkeiten – und der private "Austausch" von Leistungen entspricht dem sozial-staatlichen in den Sicherungssystemen durchaus. Die multilokale Mehrgenerationenfamilie funktioniert, aber sie stößt in einer mobilen Welt an Grenzen in Zeit und Raum. Die unmittelbaren, lokalen Netzwerke werden löchriger. Hier ist Kirche gefragt. Und wo die nächsten Verwandten fehlen, brauchen nicht nur junge Familien, sondern auch Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen nachbarschaftliche Unterstützung für ihre belastende Situation. Hier kann Gemeinde mit dem Aufbau von Netzwerken viel zur Entlastung beitragen. Sie kann wieder mit Leih-Omas, Mentorinnen etc. Wahlfamilie werden, so wie sie es neutestamentlich war.

6.) Eine gemeinwesenorientierte Kirche: Und nur die Pflege, auch die Hilfe bei familiären Krisen und Problemen wird der Diakonie zugeordnet – das gilt für soziale und ökonomische Notlagen, genauso wie für die Arbeit mit Alleinerziehenden oder Adoptivfamilien. Die damit verbundene Spaltung in die klassische Familie und "Defizitmodelle" aller Art verhindert den offenen Blick auf die Wirklichkeit in den Gemeinden, zu denen die Pendler-Paare genauso gehören wie Singles, die Familien mit behinderten Kindern und die Seniorenwohngemeinschaften genauso wie die Pflegefamilien, die Regenbogenfamilien und ambulante Wohngruppen der Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Jede Familie ist anders – und es geht darum, rund um Hochzeiten und Trennungen, Taufen und Konfirmationen, Umzüge, Krankheitserfahrungen oder diakonische Krisenintervention genau und sensibel hinzusehen, und Familien mit den passenden Angeboten anzusprechen. Das kann nur gelingen, wenn Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen sich noch stärker miteinander und mit der Zivilgesellschaft vernetzen.

7.) Eine moderne Arbeitgeberin: Auch als Arbeitgeberin ist Kirche gefragt, wenn es darum geht, Familie zu unterstützen: Das betrifft die Tarifgestaltung in den Erziehungs- und Pflegeberufen, genauso wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, es betrifft aber auch die Erwartung an Pfarre-rinnen und Pfarrer. Pfarrhäuser bilden den Wandel ab: die wachsende Vielfalt von Familienformen hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu Konflikten geführt – von der Berufstätigkeit der Pfarrfrauen bis zum Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Partner und der bi-religiösen Ehe einer Vikarin. Teilzeitbeschäftigungen und Pendelbeziehungen gibt es in-zwischen auch im Pfarrhaus, auch hier wird um eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie gerungen, genauso wie um einen angemessenen Umgang mit Scheidungen und die Frage, wie Familie als Wahlverwandtschaft gelebt werden kann. Diese Erfahrung kann auch ein Schatz sein, den die Kirche in die Gesellschaft einzubringen hat.

8.) Familienkompetente und politisch wache Gemeinden: Aus all dem resultieren neue Anforderungen für alle, die Verantwortung in der Gemeinde übernehmen, die planen und gestalten. Sie sollten die Gegebenheiten und Veränderungen nicht nur sensibel wahrnehmen, sondern sie bei der Entwicklung von Angeboten gezielt berücksichtigen. Sie brauchen ein Bewusstsein für die engen Zeitspielräume von Familien, wenn es um Gottesdienstzeiten oder um Öffnungszeiten von Einrichtungen geht. Sie sollten sich einbringen in kommunale Netzwerke und Prozesse und mit anderen Trägern und Initiativen in der Zivilgesellschaft zusammen arbeiten. Sie sollten sich politisch einmischen, wenn es um Quartiersentwicklung und Verkehrssysteme, um Schwimmbäder und die Qualität von Einrichtungen geht. Kirchen haben die Möglichkeit der Mitarbeit von Jugendhilfeausschuss bis zum Sozialausschuss, von der Stadtplanung bis zu den neuen Netzwerken der Bürgerbeteiligung. Sie müssen sie nutzen.

"Was ich Euch flüstere ins Ohr, das predigt auf den Dächern", sagt Jesus. Nutzt also Euer Wissen aus Seelsorge und Gemeinwesendiakonie und macht öffentlich, worunter Menschen leiden, wonach Menschen sich sehnen und welche Rahmenbedingungen sie brauchen, wenn es um Familie geht.