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Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Das Redemanuskript von Prof. Dr. Wilfried Härle, Heidelberg, von der Konsultation zur EKD-Orientierungshilfe an der Evangelischen Akademie Bad Boll am 22. und 23. November 2013.
Quellen: 
Veröffentlichung
Samstag, 23. November 2013
Evangelische Akademie Bad Boll

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde. Dort, wo diese Orientierungshilfe ihre eigenen theologischen Prinzipien offenlegt, sprich sie (erneut) von „Orientierung“, eben von „theologischer Orientierung“. Damit meint sie nicht die Orientierung, die sie von irgendwoher empfangen hat, sondern diejenige, die sie durch diesen Text zu geben gedenkt. Und damit sind wir dann auch schon mitten in unserem Thema.

1 Die Verortung der theologischen "Orientierung" im Gesamtzusammenhang der Orientierungshilfe

In der Orientierungshilfe kommt die theologische Orientierung im 5. Abschnitt (S. 54-71) zu stehen – nach den zusammenfassenden Thesen (1), nach einem sozialwissenschaftlichstatistischen Überblick über die gegenwärtige Situation in Deutschland (2), nach einem geschichtlichen Rückblick auf die Entwicklung der letzten Jahrhunderte (3) und nach einer Einführung in die verfassungsrechtlichen Vorgaben (4). Diese Nachordnung müsste man dann nicht problematisieren, wenn die theologische Orientierung sich auch kritisch auf die Sozialwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft mit ihren Ergebnissen bezöge und diese nicht den fraglos vorausgesetzten Rahmen auch für die theologische Orientierung dieses Textes abgäben. Aber eine solche kritische Reflexion fehlt. Stattdessen bilden diese humanwissenschaftlichen Vorgaben ihrerseits den normativen Bezugsrahmen für die theologische Orientierung.

Das geschieht einerseits dadurch, dass die normativen biblischen und kirchlichen Vorgaben in Sachen Ethik der Geschlechtlichkeit durchgehend daran und daraufhin geprüft werden, ob sie unserer heutigen lebensweltlichen und rechtlichen Situation entsprechen. Und es geschieht andererseits dadurch, dass die in der Bibel und in der Geschichte festzustellende geschichtliche Wandelbarkeit und Vielfalt in Anspruch genommen wird als das ausschlaggebende Argument gegen eine normative Orientierung der gegenwärtigen christlich-ethischen Urteilsbildung an der biblischen und kirchlichen Überlieferung.

2 Abgrenzung und Begründung der theologische Orientierung in der Orientierungshilfe

Thetisch und programmatisch erfolgt diese Abgrenzung und Begründung im ersten Satz der Zusammenfassung der Theologische Orientierung (S. 13, 54 und 58): „Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familialen Zusammenlebens bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und damit Orientierung geben“.1 Das ist das hermeneutische Schlüsselargument in theologischer Hinsicht für die ganz Orientierungshilfe. Es besagt, dass angesichts biblischer Vielfalt und historischer Bedingtheit des familialen Zusammenlebens, Orientierung nicht aus den biblischen Texten, sondern nur aus deren kirchlich-theologischer Auslegung zu gewinnen ist. Dabei weckt die Formulierung, es „bleibt entscheidend“ den Eindruck, so sei es (jedenfalls im evangelischen Bereich) immer schon gewesen.

Zugleich will der Text der Orientierungshilfe Aussagen machen, die sich „nicht lediglich als Anpassung an neue Familienwirklichkeiten ... verstehen, sondern als eine normative Orientierung“ (S. 141). Und diese normative Orientierung wird in folgenden Worten zusammengefasst. „Vor dem Hintergrund der befreienden Botschaft des Evangeliums geht es darum, das Versprechen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen ernst zu nehmen und Gerechtigkeit auch in der Familie umzusetzen“ (S. 141f.). Und daran schließt sich dann wieder der kritische Satz an: „Die traditionellen Leitbilder halten den neuen Herausforderungen in Wirtschaft [!] und Gesellschaft sowie den vielfältigen Erwartungen an Familien nicht mehr stand“ (S. 142).

"Ohne dem Text Unrecht zu tun, kann man seine normative theologische Orientierung so zusammenfassen: Die Aussagen, die der Bibel und der kirchlichen Überlieferung in Sachen Lebensformen zu entnehmen sind, haben keine Orientierungsfunktion mehr"

Daraus zieht der Text die Konsequenz: „Wo Menschen auf Dauer im Zusammenhang der Generationen Verantwortung füreinander übernehmen, sollten sie Unterstützung in Kirche, Gesellschaft und Staat erfahren. Dabei darf die Form, in der Familie und Partnerschaft gelebt werden, nicht ausschlaggebend sein. Alle familiären Beziehungen, in denen sich Menschen in Freiheit und verlässlich aneinander binden, füreinander Verantwortung übernehmen und fürsorglich und respektvoll miteinander umgehen, müssen auf die Unterstützung der evangelischen Kirche bauen können“ (S. 141).

Ohne dem Text Unrecht zu tun, kann man seine normative theologische Orientierung so zusammenfassen: Die Aussagen, die der Bibel und der kirchlichen Überlieferung in Sachen Lebensformen zu entnehmen sind, haben keine Orientierungsfunktion mehr – und das betrifft vor allem die „traditionelle, bürgerliche Ehe und Familie“ – aber es gibt (auf dem Hintergrund des Evangeliums) ein maßgebliches Ethos der Freiheit, Gleichheit und (Familien-)Gerechtigkeit, das sich durch kirchlich-theologische Auslegung erheben lässt, und das hat orientierende Bedeutung.

3 Prämissen und Folgerungen für die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Bei alledem geht die Orientierungshilfe durchgehend von zwei Prämissen aus, die die ganze theologische Argumentation tragen, aber dringend überprüft werden müssen:

  • Die Vielfalt und die geschichtliche Veränderbarkeit biblischer Aussagen über geschlechterorientierte Lebensformen sind mit deren normativer Bedeutung nicht vereinbar.
  • Angesichts dieser Vielfalt und Variabilität kommt es nicht auf die biblischen Aussagen, sondern auf die kirchlich-theologische Auslegung dieser Aussagen an. Durch sie wird theologische Orientierung gegeben.

Diesen beiden Prämissen will ich mich nun zuwenden:

3.1 Geschichtlichkeit, Vielfalt und Normativität der Heiligen Schrift

Wenn man zwischen Geschichtlichkeit und Vielfalt einerseits und normativer Geltung andererseits einen Gegensatz konstatiert oder vermutet, dann geht man jedenfalls von Voraussetzungen aus, die mit dem christlichen Glauben wenig zu tun haben. Dessen Botschaft lautet ja nicht, dass wir es in der Offenbarung Gottes mit überzeitlichen Ideen oder Aussagen zu tun bekommen, sondern mit dem fleischgewordenen, also Mensch gewordenen Wort Gottes, das den Namen Jesus Christus trägt. Desgleichen ist die Bibel geschichtliches Zeugnis von der Selbstoffenbarung Gottes. Und dieses Zeugnis ist in bestimmten (uns fremden) Sprachen, zu einer bestimmten (uns fernen) Zeit, von bestimmten (uns persönlich unbekannten) Menschen verfasst worden. Und trotzdem hat es normative Bedeutung, weil sein Inhalt (res) die Selbstoffenbarung Gottes ist und weil es die einzige und authentische Quelle ist, die wir davon haben.

Wenn wir das „Sola scriptura“ nicht vom „Solus Christus“ her begründen, ableiten und begrenzen, dann ersetzen wir die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus durch eine Buchwerdung Gottes und machen aus dem Christentum eine Buchreligion. Menschwerdung heißt „Eingehen Gottes in die Geschichte“. Deshalb ist die Geschichtlichkeit, die die Vielfalt des Zeugnisses einschließt, nicht die Infragestellung der biblischen Autorität, sondern deren Vorzeichen. Anders ist sie uns nicht gegeben und nicht zu haben.

"Schriftsauslegung ist kein magischer Vorgang, der durch die Bibel selbst (irgendwie) vorgenommen wird, sondern sie erfolgt durch Menschen"

Aber in welcher Form kann dieses geschichtliche, vielfältige biblische Zeugnis normative Autorität sein? Dadurch, dass es die einzige uns zur Verfügung stehende Quelle ist, durch die wir von dieser Sache Kunde haben. Von der Sache der Schrift her eröffnet sich aber auch die Möglichkeit und partielle Notwendigkeit der Schriftkritik, also der Kritik des biblischen Textes anhand der durch die Bibel bezeugten Sache. Das ist das reformatorische Schriftprinzip im Unterschied zum Biblizismus.

Und diese Unterscheidung und die daraus resultierende Schriftkritik ist auch für die Thematik der Orientierungshilfe von großer Bedeutung. Das zeigt sich sowohl bei der Gegenüberstellung der sexualethischen Aussagen aus dem Heiligkeitsgesetz in 3. Mose 18-20 zu den Aussagen Jesu über „rein und unrein“ in Markus 7 als auch bei der Gegenüberstellung der schöpfungstheologischen und christologischen Aussagen über die Gleichstellung von Mann und Frau (in 1. Mose 1 und Gal 3,28) zu den Aussagen über die angeblich gottgewollte Unterordnung der Frau unter den Mann in verschiedenen biblischen Passagen. Wobei es allerdings beachtlich ist, dass die Bibel selbst in 1. Mose 3,16 diese Unterordnung nicht aus Gottes Schöpferwillen ableitet, sondern als eine Folge der Sünde einführt.

Die Orientierungshilfe irrt übrigens, wenn sie meint, eine solche Geschichtlichkeit und Vielfalt gebe es in der Bibel nur im Blick auf die Lebensformen. Sie gilt nicht weniger im Blick auf das in diesen Lebensformen gelebte bzw. zu lebende Ethos. Wenn die Orientierungshilfe den Eindruck erwecken will, ihre normative Orientierung an partnerschaftlicher Fürsorge, Geschlechtergerechtigkeit und an den Idealen der französischen Revolution sei der biblischen Überlieferung entnommen, so beruht das auf einer Täuschung, die vermutlich den Charakter einer Selbsttäuschung hat. Auch im Blick auf das dem Verhältnis der Geschlechter angemessene Ethos (ebenso wie auf die Lebensformen) nimmt uns der Blick in die Bibel die Ausrichtung an der von ihr bezeugten Sache, also an dem Willen Gottes für das menschliche Zusammenleben, der in Gottes Selbstoffenbarung zum Ausdruck kommt, nicht ab.

3.2 Die Auslegungsbedürftigkeit der Heiligen Schrift

Aber zeigen nicht gerade diese Überlegungen, dass es letztlich nicht die Schrift, sondern unsere (in diesem Fall meine) Auslegung der Schrift ist, auf die es ankommt? Dieser Vermutung steht der Spitzensatz Luthers entgegen, auf den in seiner Auseinandersetzung mit den römischen Ketzereivorwürfen, die gegen ihn erhoben wurden in methodischer Hinsicht alles zuläuft: dass die (Heilige) Schrift „ist ihre eigene Auslegerin ist“.2

Würde man diese Aussage so verstehen, als wolle Luther damit sagen, wer die Schrift auszulegen hat, dann wäre das eine unverständliche Aussage; denn Schriftsauslegung ist kein magischer Vorgang, der durch die Bibel selbst (irgendwie) vorgenommen wird, sondern sie erfolgt durch Menschen. Aber Luther redet an der zitierten Stelle nicht vom Subjekt der Schriftauslegung, sondernvon dem bei der Schriftauslegung anzuwendenden Maßstab, und davon gilt: Dieser Maßstab ist der Heiligen Schrift selbst zu entnehmen; denn es ist die von der Schrift (und nur von ihr) bezeugte Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus zum Heil der Welt.3 Die Pointe dieser These und der Formel „sui ipsius interpres“ wird nur dann erfasst, wenn man beachtet, wogegen sie sich richtet. Und das geht aus Luthers Text eindeutig hervor: gegen die Annahme, die kirchlich-theologische Auslegung der Schrift – z. B. durch das Lehramt in Rom – sei die normative Autorität, an der wir uns zu orientieren hätten. Wenn diese Auslegung an die Stelle des auszulegenden biblischen Textes und der durch ihn bezeugten Sache tritt, dann wird damit das reformatorische Schriftprinzip preisgegeben, weil es dann keine Instanz mehr gibt, an der unsere Auslegung zu messen, zu überprüfen und zu kritisieren wäre.

3.3 Biblisch fundierte Folgerungen für das geschlechtliche Leben

Es ist nicht viel, aber es ist von großer Bedeutung, was durch die so verstandene biblische Überlieferung aus der Selbstoffenbarung Gottes für das geschlechtliche Leben zu entnehmen ist. Ich fasse das in sechs Punkten zusammen:

  • 1.) die Anerkennung der Geschlechtlichkeit als Gottes guter Schöpfungsgabe in dieser Welt, die durch die Macht der Sünde aber auch gefährdet ist, wobei weder diese Gabe noch die Art und Weise, wie sie im Leben in Anspruch genommen (und missbraucht) wird, für alle Menschen gleichartig ist;
  • 2.) die Auszeichnung der auf lebenslange Dauer angelegten, umfassenden Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau,4 die den Raum bildet, in dem erfüllte Sexualität gelebt wird und Kinder in Geborgenheit und Freiheit geboren werden und aufwachsen können;
  • 3.) die Schutzbedürftigkeit dieser Lebensgemeinschaft durch die Rechtsform (Institution) der Ehe und Familie, die als weltliche Ordnung die Risiken dieser Lebensgemeinschaft nicht vermeidet oder eliminiert, aber abfedert, so wie andere rechtlich geordnete Lebenspartnerschaften (Institutionen) der Schutzbedürftigkeit anderer Lebensgemeinschaften Rechnung tragen können;
  • 4.) die Charakterisierung des Ehebruchs und der Ehescheidung als dem Schöpferwillen widersprechendes Übel, das freilich angesichts der Härte des menschlichen Herzens5 unter Umständen ein unvermeidbares Übel ist;
  • 5.) die uneingeschränkte Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit von Frau und Mann in ihrer Gottesbeziehung und darum auch in ihrer Beziehung zueinander6 sowie
  • 6.) die herausragende Stellung der Kinder und ihres Wohles als Orientierungspunkt und als Maßstab für das menschliche Zusammenleben vor Gott und unter Gott.7 In dieser Hinsicht schließt die weltliche Ordnung des familialen Lebens sogar nahtlos an die Verkündigung der Gottesherrschaft an.

Dieses Wenige, aber Gewichtige dürfen wir den Menschen nicht vorenthalten, wenn wir nicht unseren Auftrag verkürzen wollen. Und mit diesen wenigen, aber gehaltvollen Aussagen lässt sich echte Orientierung geben.

4 Das Erfordernis eines gesamtgesellschaftlichen Leitbildes für die theologische Orientierung

Da die Orientierungshilfe von ihrem Ansatz her die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Lebensformen tendenziell vergleichgültigt, ja für illegitim erklärt, kommt sie im Blick auf die geschlechterorientierten Lebensformen zu keinen angemessenen Differenzierungen im Blick auf die hier benötigten Institutionen. Sie kann auf diese Weise weder Lebensformen auszeichnen, die als Leitbild geeignet sind, noch kann sie Lebensformen ausschließen, weil sie dem christlichen Menschenbild widersprechen und darum nicht gefördert, ja möglicherweise nicht einmal geduldet werden dürfen, sondern zu Recht unter staatlicher Strafandrohung stehen oder gestellt gehören.

Ich beginne mit diesem zuletzt Genannten, das in der Orientierungshilfe gar nicht im Blick ist. Ich sage vorsichtiger: das in der Orientierungshilfe nicht im Blick sein kann, wenn sie sagt, alle Lebensformen, in denen verbindlich, fürsorglich und verlässlich zusammengelebt werde, seien kirchlicherseits nicht nur zu tolerieren, sondern zu unterstützen (S. 141). Das kann doch wohl nicht für Polygamie oder Bigamie gelten, für pädophile oder inzestuöse Lebensformen, wie sie in unserer Gesellschaft faktisch leider in großer Zahl praktiziert werden.

"Zu diesem Leitbild gehören auch die Grenzen, die anzeigen, was – um der Menschen, vor allem um der nachwachsenden Kinder willen – in einer Gesellschaft nicht toleriert oder akzeptiert werden kann"

Was wir brauchen, ist ein gesamtgesellschaftliches Leitbild für geschlechterbezogene Lebensformen (Institutionen), für das die christlichen Kirchen auch dem Staat und der Gesellschaft gegenüber argumentativ eintreten können und sollten.8 In diesem Leitbild müssen Ehe und Familie als die Lebensformen, die umfassend der Weitergabe, Erhaltung und Entwicklung menschlichen Lebens dienen, einen zentralen Ort einnehmen. Daneben muss es aber in diesem gesamtgesellschaftlichen Leitbild auch anerkannte und gewürdigte Lebensformen für die Menschen geben, für die eine Ehe und Familie (von ihrer Lebensplanung, ihrem Geschick oder ihrer Veranlagung her) nicht in Frage kommt: für alleinstehende, verwitwete oder geschiedene Menschen sowie für Menschen, die in einer gleichgeschlechtlichen Zweierpartnerschaft leben.

Das alles gehört zu einem solchen gesamtgesellschaftlichen Leitbild. Aber zu diesem Leitbild gehören auch die Grenzen, die anzeigen, was – um der Menschen, vor allem um der nachwachsenden Kinder willen – in einer Gesellschaft nicht toleriert oder akzeptiert werden kann: z.B. Polygamie, Bigamie, Inzest und Pädophilie. Möglicherweise wird darüber in unseren Kirchen gestritten werden, aber wir können uns um diese Frage nicht drücken.

Ein solches gesamtgesellschaftliches Leitbild bietet die Orientierungshilfe – wegen ihres Desinteresses an Lebensformen, aber auch aufgrund ihrer enggeführten theologische Orientierung – leider nicht. Aber sie fordert die evangelische Kirche (und vielleicht nicht nur sie) dazu heraus, ein solches gesamtgesellschaftliches Leitbild zu entwickeln. Und dafür kann und sollte man ihr dankbar sein.


Anmerkungen:

1 Ähnlich im Schlussabschnitt unter den Empfehlungen: „Die Bibel beschreibt im Alten und Neuen Testament das familiale Zusammenleben in einer großen Vielfalt. Das historisch bedingte Ideal der bürgerlichen Familie kann daher biblisch nicht als einzig mögliche Lebensform begründet werden“ (S. 143). [zurück]

2 So in seiner 1520 verfassten Bekräftigung aller von der römischen Kirche verworfenen angeblichen Irrlehren: Assertio omnium articulorum…, in: LDStA 1, Leipzig 2006, S. 80, Z.3.: Scriptura sit „sui ipsius interpres“. [zurück]

3 An anderer Stelle nennt Luther das bekanntlich noch kürzer und einprägsamer das, „was Christum treibet“. Vorrede auf die Epistel S. Jakobi und Judae (1522), in: WA DB 7,385,22-32. Für das Verstehen der darin sichtbar werdende hermeutischen Position Luthers ist immer noch lesenswert: G. Ebeling, „Sola scriptura“ unbd das Problem der Tradition, Göttingen (1964) 19662, S. 91-143. Darin hat Ebeling die schöne Formulierung von „der erleuchtenden Macht ihrer [sc. der Schrift] Sache“ geprägt. [zurück]

4 Das Alte Testament kennt und beschreibt polygame Verhältnisse, die in Israel (z. B. bei Abraham, Jakob, Samuel, David und Salomo) praktiziert wurden, es leitet diese aber nie aus dem Willen oder aus der Selbstoffenbarung Gottes ab und es verschweigt nicht, welches menschliche Herzeleid und welche geistlichen Verirrungen aus ihnen entstehen können. [zurück]

5 Mk 10,5f., par. Mt 19,8. [zurück]

6 Die faktische und auch an mehreren Bibelstellen programmatisch geforderte Unterordnung der Frau unter den Mann hat in der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, im Sinaibund und in der Schöpfung keinen Anhaltspunkt. Dasselbe gilt übrigens für die im Alten Bund teilweise praktizierte Polygamie. In beiden Fällen handelt es sich offenbar um Übernahmen aus dem gesellschaftlichen Umfeld. [zurück]

7 Siehe dazu Mk 9,36f., parr. Mt 18,2-5 und Lk 9,47f. sowie Mk 10,13-16, parr. Mt 19,13-15 und Lk 18,15-17. Diese theologisch begründete Hervorhebung der Kinder verdient auch deswegen besondere Beachtung, weil die Bande der Familie zu dem gehören, was gemäß der Lebenspraxis und Verkündigung Jesu im Konfliktfall um des Gottesreiches willen drangegeben und verlassen werden muss. Siehe dazu Mk 3,31-35, parr. Mt 12,46-50 und Lk 8,19-21; Mk 10,28-31, parr. Mt 19,27-29 und Lk 18,28-30 sowie Lk 14,26, par. Mt 10,37f. ferner 1 Kor 7,29. Vgl aber auch schon im AT die Aussagen über die Leviten Dt 33,9. [zurück]

8 Den Grundriss eines solchen gesamtgesellschaftlichen Leitbildes hat bereits die Theologische Kammer der EKKW in ihren theologischer Thesenreihe: Was dem Leben dient. Familie – Ehe – andere Lebensformen (Didaskalia, Heft 49), Kassel 1998 vorgelegt. Es hätte sich für die OH gelohnt, sich damit zumindest auseinanderzusetzen. [zurück]

Mehr Informationen zur Tagung in Bad Boll finden Sie hier.