6.2 Erwerbsarbeit und Sorgetätigkeiten in der Familie

Die Gleichzeitigkeit von Erwerbsarbeit und familiärer Sorge wird vor allem als Problem der Kinder und ihrer Mütter wahrgenommen. Erst in jüngster Zeit sind familienfreundliche Arbeitszeiten auch ein Thema für Väter. Die Zunahme der Mütter-Erwerbstätigkeit geht vor allem auf eine Zunahme von Teilzeitarbeit und prekärer Beschäftigung zurück, das Erwerbsarbeitsvolumen von Frauen hat dagegen nicht zugenommen. Gleichwohl hat das zumindest in Westdeutschland lange vorherrschende männliche Ernährermodell an Dominanz eingebüßt und ist durch vielfältige Arrangements abgelöst worden: das modernisierte Ernährermodell mit der zuverdienenden Partnerin, zwei in Vollzeit erwerbstätige Elternteile, aber auch Frauen als Familienernährerinnen, insbesondere im Falle der Alleinerziehenden. Unabhängig davon, wie viele Stunden Frauen erwerbstätig sind, obliegt ihnen in jedem Fall die Hauptlast der Haus- und Sorgearbeit. Zwar hat der technische Fortschritt die Hausarbeit zum Teil erleichtert und verändert, doch ist das Stundenvolumen gleich geblieben. Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit in der Familie ist vor allem durch persönliche Beziehungen geprägt und nicht gleichermaßen von bezahlten Kräften leistbar. Wo das dennoch geschieht, handelt es sich in der Regel um Schwarzarbeit oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse, in denen Hausarbeit auf andere Frauen, meistens Migrantinnen, verlagert wird.

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Die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit ist in Westdeutschland seit den 1960er Jahren ein Kernpunkt familien- und sozialpolitischer Debatten und bis heute ein nicht gelöstes Problem, weil die normativen Leitbilder und tradierten Geschlechterrollen nicht mit dem sozialen Wandel und der ökonomischen Entwicklung Schritt hielten. Insbesondere die Frage der Erwerbstätigkeit von Müttern stand mit der „Normalisierung“ der Lebensverhältnisse nach zwei Weltkriegen und zunehmender Prosperität sowohl in der politischen Öffentlichkeit als auch in der Forschung im Zentrum ideologisch geführter Auseinandersetzungen, zumal sich westdeutsche Politik in dieser Zeit in deutlicher Abgrenzung von der in der DDR durchgesetzten Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt und der damit notwendigen Versorgung mit Einrichtungen zur „kollektiven“ Kleinkinderziehung als wertkonservative Alternative profilierte. Bis heute werden leidenschaftliche Debatten über eine mögliche Schädigung insbesondere frühkindlicher außerhäuslicher Betreuung vor dem dritten Lebensjahr geführt. Eine repäsentative Langzeitstudie liegt für Deutschland nicht vor, ein erster Schritt in diese Richtung sind die NUBBEK-Studien (2012). Der kritische Vergleich internationaler Studien zeigt, dass es insbesondere auf die Qualität der Einrichtungen (Gruppengröße, Qualifikation der Fachkräfte) sowie die Kooperation mit den Eltern ankommt. Einigkeit besteht ebenso darüber, dass Kinder aus bildungsungewohnten Familien deutlich mehr von außerhäuslicher Kindertagesbetreuung profitieren als Kinder aus bildungsnahen Familie. Ebenso unstrittig ist die große Bedeutung von Feinfühlichkeit und Responsivität der primären Beziehungspersonen, meist der Mütter (NUBBEK 2012; Rossbach 2006).

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Seit den 1970er Jahren steigt die Erwerbsbeteiligung von Müttern in Westdeutschland, wenn auch zunehmend in Teilzeit. Die Bildungsexpansion, von der insbesondere Mädchen und Frauen profitierten, die ökonomischen Veränderungen hin zur Dienstleistungsgesellschaft und die nicht zuletzt durch eine „neue“ Frauenbewegung angestoßenen kulturellen Veränderungen stellten die traditionelle Arbeits- und Rollenteilung in Frage. Obwohl mit der Familienrechtsreform von 1977 nun auch im Familienrecht partnerschaftliche Lebensentwürfe gelebt werden können und die „Zweiverdienerfamilie“ und „aktive Vaterschaft“ als neue Leitbilder gelten, stieg die Frauen- und Müttererwerbstätigkeit in Westdeutschland bis 1990 im Vergleich zu anderen westlichen Industrieländern (Skandinavien und Frankreich), erst recht aber zur DDR, nur sehr allmählich an. Der Grund hierfür waren und sind im Wesentlichen die normativen und strukturellen Rahmenbedingungen, die weiterhin die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung stützen, wie die auf das männliche Ernährermodell zugeschnittene Sozialversicherung, das Ehegattensplitting, Diskriminierungen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und beim Lohn, vor allem die fehlenden Einrichtungen für die Kinderbetreuung. Große Wirkkraft entfaltet in Westdeutschland - im Gegensatz zu den Erfahrungen und der Lebenspraxis ostdeutscher Frauen - nach wie vor das typisch deutsche Leitbild der „guten Mutter“, deren Gegenbild, „die Rabenmutter“, in anderen europäischen Sprachen und Kulturen kaum verständlich zu machen ist.

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Seit 1990 ist die Frauenerwerbsquote in Gesamtdeutschland - insbesondere aufgrund des Erwerbsverhaltens ostdeutscher Frauen, das vor der Vereinigung bei 90% lag - weiterhin gestiegen. Die Frauenerwerbsquote in Deutschland liegt heute im europäischen Vergleich über der von der Europäischen Union in ihrer Lissabon-Strategie seit 2010 geforderten Zielvorgabe von 60%, jedoch um den Preis hoher Teilzeitquoten (BMFSFJ 2011). Denn die Zahlen verdecken die Tatsache, dass sich hinter der höheren Erwerbsbeteiligung von Frauen ein dramatischer Anstieg von Teilzeit- und geringfügigen bzw. prekären Beschäftigungen verbirgt, der Umfang des Arbeitsvolumens und das damit erzielbare Einkommen aber insgesamt nicht zugenommen haben. Wegen der Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen, die im Durchschnitt aller Branchen in Deutschland nach wie vor 23% (ebd.) betragen, sind diese Formen der Erwerbstätigkeiten nicht Existenz sichernd und ermöglichen weder wirtschaftliche Eigenständigkeit noch Unabhängigkeit. Darüber hinaus fördern sie systematisch die Altersarmut von Frauen, insbesondere von Müttern, da die für Kinder und/oder pflegebedürftige Angehörige aufgebrachte Zeit nach wie vor nur unzureichend als Anspruch begründend anerkannt wird.

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Weltweite Transformationsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft wie die Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, das Erfordernis der Mobilität und die zunehmende Prekarisierung von Erwerbsarbeit vor allem im Bereich der Dienstleistungen haben die Gesellschaft stark verändert und das in Westdeutschland vorherrschende männliche Versorger- und Ernährermodell spätestens seit 1990 brüchig werden lassen. Die Veränderungen in der Erwerbsarbeit haben nachhaltige Auswirkungen auf die privaten Lebensformen der Familien. Die verschiedenen Formen ungesicherter, befristeter und nicht Existenz sichernder Beschäftigungsverhältnisse beeinträchtigen die Lebens- und Familienplanung gerade auch in der „Rush hour“ des Lebens, in der für den Beruf und die Gründung einer Familie gleichzeitig die Weichen gestellt werden müssen. An die Stelle des männlichen Ernährermodells ist daher zunehmend ein sog. modernisiertes Ernährermodell getreten, das durch die Zuarbeit der Frau zum Familieneinkommen gekennzeichnet ist. Inzwischen kommen nun auch Frauen als Familienernährerinnen in den Blick. In einem Drittel der Familienhaushalte erwirtschaften heute Mütter und Väter zu gleichen Anteilen das Familieneinkommen. Aber immer mehr Mütter bestreiten das Hauptfamilieneinkommen. Das ist zum einen die große Zahl der Alleinerziehenden, zum anderen handelt es sich um jene Familien, in denen Frauen überwiegend oder ganz für den Familienunterhalt aufkommen, weil ihre Ehemänner oder Partner als Arbeitslose, niedrig oder prekär Beschäftigte keinen größeren Beitrag zum Haushaltseinkommen leisten können. Schließlich haben die Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre (Hartz-Reformen) im Einklang mit europäischen Beschäftigungsnormen die Verpflichtung aller erwerbsfähigen Haushaltsmitglieder verstärkt, zur Erwirtschaftung des Haushaltseinkommens beizutragen (das sog. adult worker model). Die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt ist daher längst nicht mehr nur der Forderung nach Emanzipation geschuldet, sondern hat sich für die Mehrheit der Familien zu einer ökonomischen Notwendigkeit gewandelt.

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Jenseits ökonomischer Zwänge orientieren sich junge Männer und Väter nicht mehr selbstverständlich am Leitbild des „Familienernährers“. Der „aktive Vater“ ist nicht nur in vielen Werbespots präsent. Auf der Ebene der Einstellungen hat die Zustimmung zu gleichberechtigten Formen der Partnerschaft deutlich zugenommen. Rund drei Viertel (71%) der Männer in Deutschland möchten gerne aktive Väter sein (Fthenakis/Minsel 2002, 65ff.). Allerdings sieht die praktische Umsetzung anders aus. Nur rund ein Fünftel der Männer in Deutschland praktizieren engagierte Vaterschaft (Volz/Zulehner 2009, 69ff. und 88ff.). Damit wird Vereinbarkeit von einem Frauen- und Familienthema nur sehr allmählich auch zu einem Männerthema, denn Väter begegnen in ihrer Berufswelt ähnlichen Widerständen wie berufstätige Mütter. Hinderlich für die Vereinbarkeit und mehr Engagement in der Familie ist nicht zuletzt eine ausgeprägte „Anwesenheitskultur“ in deutschen Unternehmen. Andererseits zeigen die Ergebnisse des Familien-Audit, dass Unternehmungen bzw. Verwaltungen, die mit Müttern wie Vätern flexible familienfreundliche Regelungen praktizieren, gute Erfahrungen machen: zufriedene Mitarbeitende sind bessere Mitarbeitende. Familienfreundliche Arbeitsplätze und Arbeitszeiten scheinen selbst in kleineren bzw. Mittelbetrieben leichter realisierbar zu sein, wenn Vorgesetzte selbst Väter sind oder waren. Hauptwünsche der Väter sind eine Reduktion und eine Flexibilisierung ihrer wöchentlichen Arbeitszeit. Auf der Wunschliste der Mütter steht hingegen eine Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit.

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Eine gleichberechtigte Aufteilung der Familien- und Erwerbsarbeit wird bislang zu wenig vorgelebt, sie ist zudem in Gesellschaft, Öffentlichkeit und Erwerbsleben weder akzeptiert noch institutionalisiert. Trotz der bemerkenswerten Veränderung der Einstellungen von Männern insgesamt und Vätern im Besonderen, wird die Versorgung und Erziehung von Kindern sowie die Alltagsarbeit immer noch überwiegend von Frauen geleistet. Denn obwohl Frauen und Männer im jungen Erwachsenenalter heute im Hinblick auf ihre Ausbildung und ihre Lebenskonzepte gleiche Voraussetzungen mitbringen, wie niemals vorher, übernehmen Frauen, sobald Kinder geboren werden, den Hauptteil der Familien- und Hausarbeit und stellen ihre beruflichen Ambitionen zumindest zeitweise zurück. Auch Paare mit anfangs partnerschaftlicher Rollenteilung geben diese im Zeitverlauf mit der Geburt von Kindern zugunsten traditioneller Formen auf. Während Frauen ihre Erwerbstätigkeit in der Regel in den ersten zwei Lebensjahren des Kindes vollständig unterbrechen und danach ihre Erwerbstätigkeit meist in Teilzeit wieder aufnehmen, dehnen Väter mit zunehmender Kinderzahl ihre Erwerbstätigkeit aus. Ausschlaggebend für die Rückkehr zur traditionellen Arbeitsteilung sind neben den fehlenden Betreuungseinrichtungen nicht zuletzt die nach wie vor unterschiedlichen Einkommen von Männern und Frauen. Zeitbudget-Studien belegen zudem, dass Frauen, selbst wenn sie ebenfalls erwerbstätig sind, sich intensiver um den Haushalt und die Betreuung der Kinder kümmern als Männer (Statistisches Bundesamt 2003). Ursache ist dabei auch die wachsende Differenz im Einkommen. Vor allem werktags sind viele der überwiegend voll erwerbstätigen Väter für ihre Kinder kaum präsent. Ein erster Schritt, die Arbeitsteilung zwischen den Partnern neu zu organisieren, ist das vom Einkommen abhängige Elterngeld, das auch Vätern die Möglichkeit eröffnet, sich in den ersten Monaten in die Kindererziehung einzubringen, und berufstätige Frauen ermutigt, Kinder mit ihrer Erwerbstätigkeit zu verbinden. Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II kommt das Elterngeld allerdings - anders als das vorherige Erziehungsgeld - nicht zugute. Im letzten Quartal 2012 betrug der Anteil Elterngeld beziehender Väter bereits 27%, Tendenz steigend (Statistisches Bundesamt 2012). Doch ganz überwiegend beschränken sich Väter bislang auf die zwei zusätzlich gewährten Partnermonate. Mit der Debatte um Elterngeld und Partnermonate sowie durch allmähliche Veränderungen im Rollenverständnis von Männern entwickelt sich zumindest eine gesellschaftliche Verständigung darüber, dass Familie nicht mehr nur Frauensache ist, sondern beide Geschlechter gleichermaßen angeht.

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Seit den 1990er Jahren hat sich vor allem in einkommensstarken Haushalten ein neuer Markt für Haushaltsdienstleistungen etabliert, der jedoch vorwiegend als prekäre bzw. nicht versicherungsrechtlich geschützte Arbeit organisiert ist. Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass in über vier Millionen Haushalten Beschäftigungsverhältnisse mit Reinigungskräften, Pflegehilfen, Au-Pairs und Kindermädchen bestehen (vgl. Thiessen 2004, 129). Diese Tätigkeiten werden vor allem an andere Frauen, oftmals Migrantinnen, delegiert, die in diesem Schattenarbeitsmarkt einerseits Geld verdienen können, andererseits aber keine Chance auf gesellschaftliche Integration haben. In Haushalten, die sich keine zusätzliche Hilfe leisten können, besteht hingegen die Gefahr einer chronischen Überlastung der Mütter, insbesondere der Alleinerziehenden.

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Familien- und Hausarbeit umfasst einen ganzen Komplex von Tätigkeiten, in dem routinemäßige instrumentell-technische Tätigkeiten und Beziehungsarbeit - Erziehungs- und Pflegeleistungen sowie emotionale Zuwendung - miteinander verknüpft werden. Dies macht sie gleichermaßen anspruchsvoll wie häufig unterbewertet. Dabei übersteigt das Stundenvolumen der in den privaten Haushalten der Bundesrepublik Deutschland erbrachten unbezahlten Hausarbeit das der bezahlten Erwerbsarbeit bei Weitem (vgl. Schäfer 2004, 258). Familienarbeit ist somit ein wichtiger Bestandteil gesellschaftlich notwendiger Arbeit und zugleich die meistens unsichtbare, aber unverzichtbare Grundlage unseres gesellschaftlichen Reichtums und des allgemeinen Wohls. Zudem ist die verlässliche Übernahme der täglich anfallenden Hausarbeit in Verbindung mit der Erziehung von Kindern oder der Pflege und Sorge für andere eine fürsorgliche Praxis,sie ist jedoch nicht nur Last oder Pflicht, sondern eine sinnerfüllte Tätigkeit. Sie ist „Sorge für die Welt“. Welt meint hier - im Sinne Hannah Arendts - „den unersetzlichen Zwischenraum, der zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen“ zu gestalten ist (Arendt 1960, 7). Warum aber sollten diese Aufgaben und Erfahrungen nur einem Geschlecht vorbehalten sein?

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Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeiten lassen sich nicht verrechnen, kaum bezahlen und nur partiell auslagern, da ihr Gelingen persönliche Beziehungen und Anteilnahme voraussetzt. Als Sorge für andere setzen diese Tätigkeiten eine wechselseitige persönliche Beziehung zwischen dem/derjenigen voraus, die/der Fürsorge zukommen lässt, und dem/derjenigen, der/die sie empfängt. Sorgende und fürsorgliche Tätigkeiten sind Arbeit, jedoch unterscheiden sie sich in den Anforderungen und ihrer Qualität grundlegend von industrieller Lohnarbeit. Das Ziel dieser fürsorglichen Tätigkeiten von Erziehung wie Pflege ist nicht die Herstellung eines Produkts, sondern das für andere Da-Sein und Zeit-Haben, ein Sich-Kümmern um das emotionale, mentale und physische Wohlergehen eines/r anderen, um die Reproduktion des Lebens. Es ist eine persönliche Dienstleistung, die sich an den Bedürfnissen des anderen ausrichtet, und zugleich eine soziale Praxis der Anteilnahme in den unterschiedlichsten Lebenslagen. Im Unterschied zu Erwerbsarbeit kann es dabei nicht um messbare Leistungen, die Einsparung von Zeit und Effizienzsteigerung gehen, vielmehr um die Grundbedingungen „guten Lebens“, die unentbehrlich sind für die Solidarität innerhalb der Familien, für das gedeihliche Aufwachsen von Kindern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

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An der vorrangigen Zuständigkeit der Frauen für diese sorgenden und fürsorglichen Tätigkeiten in Familie und Partnerschaften hat sich trotz der beschriebenen Veränderungsprozesse bisher wenig geändert. Doch diese Alleinzuständigkeit der Frauen verstärkt nicht nur das Problem der Geschlechterungleichheit. Angesichts der neuen Anforderungen und Zumutungen in der Arbeitswelt, vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und des sozialen und kulturellen Wandels in den privaten Lebensformen können die bisher in der Familie von Frauen erbrachten Tätigkeiten nicht mehr als selbstverständliche oder „natürliche“ Ressource betrachtet und vorausgesetzt werden. Die „Versorgungslücke“, das Care-Defizit, das damit entsteht, stellt für Staat und Gesellschaft eine erhebliche Gestaltungsaufgabe dar, um die Organisation alltäglicher Erwerbsarbeit und die Fürsorge für andere im Erwerbsverlauf und im Familienzyklus gerecht zu verteilen und zugleich Gesellschaft und Staat für die Schaffung der Rahmenbedingungen in die Verantwortung zu nehmen. Daran wird sich entscheiden, ob es gelingt, Frauen und Männern Mut zu Kindern zu machen.

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Sorge für andere, Caring, ist somit als eine menschliche Aktivität zu betrachten, „die alles einschließt, was wir tun, um unsere >Welt< zu erhalten, fortzusetzen und zu reparieren, sodass wir in ihr so gut wie möglich leben können“ (Tronto 2000). Diese Charakterisierung zeigt, dass sich Fürsorglichkeit nicht notwendig auf familiäre Zusammenhänge beschränken sollte, fürsorgliche Verantwortungszusammenhänge bestehen auch in Freundschaft, Nachbarschaft und Vereinen; Fürsorglichkeit kann Maßstab für eine demokratische und soziale Praxis sein. Dennoch wird sie vorwiegend im Privatraum der Familie geübt und erfahren und kann von denen, die sorgen, sowie von denen, die Fürsorge empfangen, als Bereicherung empfunden werden. Mit symbolischer oder rhetorischer Anerkennung dieser Tätigkeiten, aber auch mit Bezahlung oder sozialpolitischer Kompensation allein ist es nicht getan, vielmehr wird es notwendig sein, fürsorgliche Praxis in Familie und Beruf zu ermöglichen und unter den Beteiligten, Männern und Frauen, gerechter zu teilen. Hierzu genügt es nicht, nur zu einer neuen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zu kommen, wesentlich ist auch, dass der Begriff von „Arbeit“, der unsere Gesellschaft prägt, in Zukunft nicht nur Erwerbsarbeit, sondern auch Sorgearbeit und bürgerschaftliches Engagement einschließt. Dabei kann sich die evangelische Kirche am reformatorischen Verständnis von Beruflichkeit orientieren, das Handwerk und Landwirtschaft, Handel wie Hausarbeit und damit bezahlte und unbezahlte Arbeit umfasst.

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Berliner Symposion: Zwischen theologischer Aussage und sozialgeschichtlicher Lebenswirklichkeit

Die Orientierungshilfe ist zunächst an dem Auftrag zu bemessen, den der Rat der EKD der Kommission gegeben hatte: sie solle über eine kirchliche Perspektive zur Familienpolitik beraten (S. 8). In der öffentlichen Diskussion nach der Veröffentlichung sind vor allem Aspekte thematisiert worden, die nicht eigentlich im Focus der Orientierungshilfe standen. Sie betreffen das Verständnis von Ehe, Sexualität und Lebensformen und fragen nach der den betreffenden Aussagen zugrunde liegenden theologischen, vor allem biblischen Orientierung.

Berliner Symposion: Suggerierte Eindeutigkeit einer komplexen Auslegung

1) "The War over the Family"1 lautet der Titel eines Buches, das die Soziologen Brigitte und Peter L. Berger veröffentlicht haben. Die Überschrift des einleitenden Kapitels lautet: "Die Familie - Ideologisches Schlachtfeld". Wer sich durch die Nachrichten über die Evangelische Kirche in Deutschland seit der Veröffentlichung der Orientierungshilfe liest, kann in der Tat den Eindruck gewinnen, wir befinden uns auf einem Schlachtfeld.

Berliner Symposion: Wie wird Ehe- und Familienethik "schriftgemäß"? Eine Zustimmung zur Orientierungshilfe

Den Voten der Orientierungshilfe, das sei vorweg gestellt, kann ich gut folgen, und ich halte ihre sozialethischen Anliegen für eine angemessene Interpretation und Applikation biblischer Ethik. Nicht verschwiegen sei, dass ich eine präzisere theologische Begründung wünschenswert finde, da der biblische Befund eher narrativ dargestellt wird, mit Unschärfen und Fehlern im Detail.

Berliner Symposion: Die Einleitung von Christoph Markschies

Wenn, lieber Nikolaus Schneider, liebe leitende Geistliche, meine Damen und Herren, liebe Frau Gerber, liebe Herren Härle, Horn und Tanner, den Vorsitzenden der Kammer für Theologie bittet, ein theologisches Symposium zu einer Orientierungshilfe des Rates zu moderieren, dann liegt ja offenbar ein theologisches Problem vor. Sonst hätte an meiner Stelle ja irgendein anderer, irgendeine andere stehen können.

Berliner Symposion: Begrüßung von Nikolaus Schneider

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
herzlich willkommen zum theologischen Symposion des Rates der EKD.

Sie alle haben sich in den letzten Wochen und Monaten auf unterschiedliche Weise mit der Orientierungshilfe des Rates der EKD "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie stärken" auseinandergesetzt. Wir freuen uns über die rege Diskussion innerhalb und außerhalb unserer Kirche zu diesem Papier. Ein kritischer – auch selbstkritischer! – Diskurs über ethische Orientierungshilfen in existentiellen Fragen steht dem Protestantismus gut an.

Nikolaus Schneider: "Das hat mit Zeitgeist-Surferei nichts zu tun"

epd: Bei der Vorstellung des EKD-Familienpapiers haben Sie dazu aufgerufen, gesamtgesellschaftlich eine Debatte zu führen. Die ist nun im vollen Gang. Sind sie damit zufrieden?

Offener Brief: Zehn Fragen an den Rat der EKD

(1) – Bitte informieren Sie über das "Instrumentarium": "Orientierungshilfe" (auch im Unterschied zur "Denkschrift"), über das "procedere" (bis hin zur Verabschiedung), über den Status von EKD-ad-hoc-Kommissionen, über deren Autorität und Legitimation, über die Verbindlichkeit solcher Verlautbarung in den verschiedenen EKD-Gliedkirchen. Es fällt auf, dass von einzelnen führenden EKD-Vertretern aufgrund der heftigen Kritik die vom Rat herausgegebene und verantwortete "Orientierungshilfe" zu einem "Diskussionspapier" herabgestuft werden soll. Was ist denn nun "Sache"?

Offene Fragen

Frau Präsidentin, hohe Synode! Angesichts der Zeitknappheit – ich sehe Ihren mahnenden Blick - möchte ich nur drei, vier Punkte klar stellen. Zunächst einmal danke ich für die Aussprache. Wir sind in einer Kirche der Freiheit, und wir werden in der Orientierungshilfe sogar zur Diskussion und zur Stellungnahme eingeladen. Das haben wir heute getan, und das finde ich richtig und in Ordnung.

Das Papier, darauf will ich noch einmal hinweisen, ist keine Denkschrift, wie es immer wieder heißt. Es ist eine Orientierungshilfe und hat dadurch natürlich auch eine andere Qualität.

Eine Entlastung für Menschen, die mit Brüchen leben müssen

Besonders begrüßt wird die Darstellung der Vielfalt von familialen Lebensformen in der heutigen Gesellschaft. Die Ehe mit Kindern wird in diesem Zusammenhang nur als eine mögliche Lebensform beschrieben, ohne diese zu überhöhen bzw. andere Formen abzuwerten. Vielfältige Familienformen seien bereits in der Bibel beschrieben. Eine Erhebung der Familienform mit Trauschein über alle anderen Familienformen ließe sich aus der Bibel nicht ableiten, wäre geradezu eine Verengung.

Ja zur Vielfalt von Familie!

Zu Berichten über eine Initiative gegen die im Juni präsentierte Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ erklärt Christiane Reckmann, Vorsitzende des Zukunftsforum Familie e.V.:

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