Neuen Kommentar schreiben

Ethische Normativität des Faktischen? Kritische Stellungnahme zur Orientierungshilfe der EKD

Ethische Normativität des Faktischen? Kritische Stellungnahme zur Orientierungshilfe (= OH) der EKD „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ Prof. Dr. Ulrich Eibach / Bonn
Quellen: 
Veröffentlichung
Dienstag, 23. Juli 2013
epd-Dokumentation Nr. 30

1. Der Anspruch der OH

Nach der OH (Nr.147) sind „Evangelische Theologie und Kirche … aus ihrer biblischen Tradition heraus gefragt, zur Orientierung auf ein Menschenbild beizutragen, das Menschen jenseits von Leistungsanforderungen wertschätzt und annimmt“. Die Leistungsanforderungen, die die OH an Menschen und Familien hinsichtlich einer die Generationen übergreifenden Fürsorge füreinander stellt, sind allerdings nicht gerade gering. Geprüft werden soll hier aber nur, ob die OH ihrem eigenen Anspruch, zur evangelischen Orientierung auf ein der biblischen Botschaft entsprechendes Menschenbild beizutragen, gerecht wird.

Schon formal fällt auf, dass die theologischen Überlegungen quantitativ gegenüber den soziologischen, sozialgeschichtlichen und rechtlichen Ausführungen einen bescheidenen Raum einnehmen. Die Vermutung, dass diese und nicht die theologischen Überlegungen die ethisch-normativen Ergebnisse der OH hauptsächlich prägen, liegt von daher nahe.

2. Überprüfung des Anspruchs der OH

2.1. Normativität des Faktischen

Der Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ ist vielversprechend, benennt er doch ein Spannungsfeld des Lebens, das heute besonders stark ist und eigentlich seit der Aufklärung zunehmend und endgültig in der Gegenwart zugunsten der Autonomie entschieden zu sein scheint. Das Persönlichkeitsideal der Aufklärung und des deutschen Idealismus ging davon aus, dass die gereifte Persönlichkeit sich autonom, also nur selbst bestimmt, sie aus sich selbst und durch sich selbst lebt, dass sie des anderen und auch Gottes und seiner Gebote nicht bedarf, ihr eigener Gesetzgeber ist. Dagegen formulierte Sören Kierkegaard pointiert: „Gottes zu bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit“, und wir könnten ergänzen, Gottes und des Nächsten zu bedürfen, denn der Mensch schafft sich nicht selber, weder als leibliches Wesen noch in seiner Persönlichkeit und Würde. Nicht nur am Anfang und meist auch am Ende des Lebens steht die Abhängigkeit und das Angewiesensein auf andere, auf Gott und Menschen, ganz im Vordergrund, sondern dieses Angewiesenseinsein ist bleibend das ganze Leben hindurch konstitutiv. Nur in diesem Angewiesensein, in Beziehungen, in dem „Fürsein“ anderer, in den „Bindungen“ wird die Reifung eines Ich, einer Persönlichkeit, wird Autonomie in den Grenzen des Angewiesenseins möglich. Angewiesensein ist Bedingung der Möglichkeit von Autonomie, die dem Angewiesensein also ein- und untergeordnet ist.
  
Es ist zu begrüßen, dass die Schrift den Aspekt des Angewiesenseins deutlich hervorhebt, dass sie nicht von einem „Individualismus“ und der Autonomie allein ausgehen will. Es ist aber zu fragen, ob die OH diesem Ansatz in ihren Ausführungen und Empfehlungen wirklich gerecht wird. Diese werden maßgeblich durch die gesellschaftlichen Entwicklungen und den ihnen folgenden rechtlichen Rahmenbedingungen bestimmt. Die Rechtssetzung und Rechtsprechung der letzten Jahre hat in fast allen Bereichen des Lebens zunehmend die Autonomie des Menschen zur Grundlage der Gesetzgebung und Rechtsprechung gemacht, ja sogar den Inhalt des Begriffs Menschenwürde im Grundgesetz Art.1 fast nur noch mit der „Autonomie“ des Individuums inhaltlich gefüllt. Daher ist zu prüfen, ob die OH entgegen ihrer Betonung des Angewiesenseins nicht doch letztlich dem individualistischen Autonomie-Verständnis und seinen sozialen Folgen und den entsprechenden rechtlichen Entwicklungen folgt und sie unter der Hand zu auch theologisch gerechtfertigten ethischen Normen werden lässt. Die Tendenz, das Faktische, das faktisch gelebte Leben auch zur ethischen Norm zu erheben, ist in der OH unverkennbar. Dem entspricht, dass die biblischen Aussagen zu Ehe und Familie von diesen faktisch gegebenen gesellschaftlichen Umständen her interpretiert und nicht die Umstände von den theologischen Aussagen her ethisch beurteilt und bewertet werden.
  
Die als spezifisch evangelisch beschworene Erkenntnis der vorbehaltlosen Annahme des Menschen durch Gott wird damit zugleich zum Aufruf an Christenmenschen, alle Lebensstile und „Lebensformen“ (des Zusammenlebens der Geschlechter und des familiären Lebens) vorbehaltlos als vor Gott und Menschen gleichwertig anzuerkennen. Die grundlegende reformatorische Unterscheidung zwischen der Person und den Werken des Menschen (zu denen das Verhalten und damit auch die Lebensformen gehören) wird damit einfach negiert. So kann nicht mehr zwischen einem dem Gebot Gottes entsprechenden und einem ihm widersprechenden Verhalten und Lebensstil (Lebensform) unterschieden werden. Es gibt keine Lebensform mehr, die man als Missachtung des Gebots Gottes, als Sünde bezeichnen kann und darf. Ethik wird so immer mehr zur Legitimation des faktisch gelebten Lebens, zur Bestätigung menschlicher Wünsche. Niemand darf dem autonomen Individuum Vorschriften für seine Lebensgestaltung machen, wenigstens nicht seines privaten Lebens. Aber die Tatsache, dass etwas als Lebensform „ist“ und dass sie von vielen Menschen gelebt wird, also eine soziale und rechtlich gebilligte Lebensweise ist, besagt noch lange nicht, dass sie auch sein „soll“, weil sie gut und als Gutes ethisch geboten ist. Die Differenz zwischen dem faktisch gelebten und dem Leben, zu dem Gott uns bestimmt, sollte wenigstens in Schriften der Kirchen nicht übergangen werden. Kirche darf, wenn sie der biblischen Botschaft folgt, nicht zu einer Institution werden, die der Absegnung des Faktischen dienstbar wird. Wahrscheinlich braucht die Welt eine solche Legitimationsethik auch nicht wirklich. Gedient ist ihr damit wahrscheinlich kaum. Besteht die vornehmliche Aufgabe der Kirchen denn darin, dass sie auf gesellschaftliche Entwicklungen so reagiert, dass sie sie hinnimmt oder gar absegnet und sich ihnen selbst anpasst?

2.2. Ehe und die „neuen Lebensformen“  der Geschlechter und von Familien

Die OH entfaltet breit die Entstehung der neuen Lebensformen der Geschlechter und Familien. Eigenartiger Weise stellt sie fast nur die sozialen und ökonomischen Bedingungen dieser Wandlungen dar, vernachlässigt aber fast ganz ihre geistig-kulturellen Hintergründe. Hier sind nicht zuletzt das zunehmende Streben nach Autonomie und Selbstverwirklichung und der damit verbundene Individualismus zu nennen. Dieses hat zu begrüßenswerten Entwicklungen wie der Emanzipation der Frauen, zu mehr Gerechtigkeit unter den Geschlechtern u.a. geführt. Sie hat aber auch andere Seiten, die sich als Folgen der Unterordnung des Angewiesenseins unter die Autonomie beschreiben lassen, gemäß der Devise: „Ich bin ich, und du bist du, es geht auch ohne dich!“ Die OH stellt diesen eindeutigen Vorrang der Autonomie vor dem Angewiesensein auf andere nicht wirklich in Frage. Für OH sind die dadurch wenigstens mitbedingten neuen Formen der Vergesellschaftung der Geschlechter letztlich sozial und ökonomisch bedingte unvermeidbare Prozesse in der postmodernen Gesellschaft, die daher auch mehr oder weniger alle moralisch gleichwertig seien. Dazu gehören die stetig ansteigende Zahl der Scheidungen, die Ehe auf Zeit, die daraus folgende sukzessive Polygamie, Patchwork-Familien, Lebenspartnerschaften ohne Ehe, homosexuelle Partnerschaften ohne oder mit natürlich oder mit medizinischen Techniken erzeugten Kindern, polyamore Beziehungen u.a.

Zwar betont die OH, dass Verlässlichkeit in den Beziehungen und Lebensformen ein ethisch gesehen entscheidendes Kennzeichen ist und dass sie sich auch an den Bedürfnissen der schwächsten Glieder in Beziehungen zu orientieren hat (vor allem dem Wohl der Kinder), doch kann Verlässlichkeit in jeder Beziehung auf ihre Weise gelebt werden. Auch wird Verlässlichkeit offensichtlich nur als soziale Verlässlichkeit und soziale Verantwortung füreinander verstanden. Inwiefern sie auch die sexuelle Verlässlichkeit und Treue einschließt, dazu äußert sich die OH nicht, obwohl z.B. jedem Mitglied der Kommission, die die OH erarbeitet hat, bewusst ist, dass homosexuelle Männer und Partner in der Regel grundsätzlich unterscheiden zwischen sozialer und sexueller Verlässlichkeit (Treue) und viele letztere als nicht entscheidend für ihre Beziehung erachten. Das besagt nicht, dass es keine homosexuellen Partner gibt, die die Absicht haben und sich bemühen, in sexueller Treue zu leben, und dass dies auch gelingen kann. Man gewinnt aber den Eindruck, dass es auch der OH nur um eine soziale Verlässlichkeit geht, dass etwa abgesprochene oder nicht abgesprochene sexuelle und sonstige Außenbeziehungen der Partner der Verlässlichkeit nicht widersprechen müssen. Dergleichen könnte auch für bisexuelle, bigame, polygame, polyamore und andere Beziehungen gelten, wenn diese Beziehungen abgesprochen, von allen Beteiligten gebilligt und den Abmachungen gemäß verlässlich gelebt werden. Auf jeden Fall wird die Verlässlichkeit nicht mehr eindeutig als lebenslange Verlässlichkeit definiert; sie ist eine Verlässlichkeit auf Zeit, nicht ganzheitliche Treue, in der man in guten und schweren Tagen, Gesundheit und Krankheit, Höhen und Tiefen zusammensteht bis der Tod die Partner scheidet, sondern solange, wie die Verlässlichkeit gelebt werden kann, wie sie nicht untergraben wird (durch Autonomie, Eigeninteressen, sexuelle Untreue, soziale und ökonomische Faktoren u.a.). Das Scheitern von Beziehungen, auch solchen, die einmal mit dem Versprechen der Verlässlichkeit eingegangen wurden, wird damit schon als realistisch eingeplant (vgl. Nr. 5). Damit wird Verlässlichkeit von einer ganzheitlichen und lebenslangen Treue abgekoppelt.

Der Begriff der Verlässlichkeit scheint bewusst den Begriff Treue zu ersetzen, der in der OH eher beiläufig gebraucht wird. Verlässlichkeit ist eine Eigenschaft, die in Vertragstheorien ihren primären Ort hat. Sie ist nur so lange gefordert, wie die Menschen, die Verträge abschließen, die darin niedergelegten Bedingungen erfüllen müssen. Sie kann auch nur auf die in Verträgen genannten Abmachungen bezogen sein. Sie enden mit der Auflösung des Vertrags. Treue ist hingegen ganzheitlich zu verstehen, ist nicht nur auf Abmachungen, sondern primär auf die ganze Person bezogen. Sie steht in engster Beziehung zur Liebe. Aber auch die Liebe spielt in der OH in eine ganz untergeordnete Rolle. Ihr Verständnis bleibt theologisch völlig ungeklärt. Liebe und Treue legen den Grund für Vertrauen und damit für Beziehungen, in denen man auf den Partner auch jenseits von Abmachungen vertrauen kann. Sie schaffen personale Bindungen, die Geborgenheit vermitteln. Vertrauen und Geborgenheit sind die Grundlage dafür, dass das gemeinschaftliche Leben mit- und füreinander in guten und bösen Tagen gelingen kann, nicht zuletzt auch das Leben der Kinder. Solche Vertrauen begründende Treue ist mehr als Verlässlichkeit, auch mehr als Verantwortungsbereitschaft für einander. Sie kann als ganzheitlich personale Bindung nicht an Abmachungen geknüpft werden. Die Beziehung kann zerbrechen, wenn die Liebe nicht mehr in der Treue dauerhafte Gestalt gewinnt, kann aber nicht aufgekündigt werden. Eine solche ganzheitliche Treue ist auf die nicht in verschiedene Eigenschaften aufspaltbare Person ausgerichtet. Daher ist es gänzlich unangemessen, dass man sie in eine sexuelle und eine soziale Treue aufspaltet, selbst dann, wenn man eine solche Aufspaltung bewusst vereinbart.

Die OH geht davon aus, dass die Lebensformen der Geschlechter nur auf von Menschen gemachten Abmachungen (Verträgen) beruhen, keine ihnen (von Gott) vorgegebenen Lebensordnungen, keine „göttlichen Mandate“ (D. Bonhoeffer), keine „Institutionen“ sind, in denen Menschen ihr gemeinschaftliches Leben zu gestalten haben. Dazu passt der Begriff Verlässlichkeit, der ein Scheitern und Aufkündigen eines Vertrags unter Menschen nicht ausschließt, besser als der gekennzeichnete Begriff Treue. Dessen theologischer Hintergrund ist in erster Linie der Bund Gottes, die treue und unverbrüchliche Liebe und Beziehung Gottes zu seinem Volk und den Menschen überhaupt (vgl. Hosea 2; Maleachi 2, 13 ff.), dementsprechend der Mensch auch sein Ehe- und Familienleben gestalten soll und der es ausschließt, dass der Mensch ein Scheitern der Beziehungen und eine Begrenzung ihrer Dauer bei Abschluss des Ehe- oder Partnerschaftsvertrags schon einkalkuliert. Die OH plant dieses Scheitern jedoch schon ein mit dem gleichzeitigen Hinweis, dass es nach jedem Scheitern „Neuaufbrüche“ geben kann, auch zu neuen Lebensformen und Formen der Vergesellschaftung, in denen Verlässlichkeit ebenso, also gleichwertig gelebt werden kann.

Nirgends wird in der OH eindeutig thematisiert, dass die Bereitschaft zum Verzicht auf die Durchsetzung von die Beziehungen bedrohenden Eigeninteressen unverzichtbar für ein Gelingen verlässlicher Beziehungen ist. Das Schweigen darüber könnte darin seinen Grund haben, dass ein solcher Verzicht in der Vergangenheit vor allem von Frauen erwartet wurde. Auch wenn man mit der OH die Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit in Beziehungen für grundlegend hält und dabei zu Recht in erster Linie an die Frauen denkt, ist das kein Grund, den wesentlichen Gesichtspunkt des Verzichts auf Durchsetzung autonomer Interessen nicht näher zu erörtern.

Wir stoßen damit auf den aus christlicher Sicht entscheidenden Punkt der OH. Die lebenslange in Liebe und Treue zu lebende Ehe, die grundsätzlich für die Zeugung von Kindern offen ist, soll nicht mehr das eindeutig vorrangige Leitbild dessen sein, was die Kirche als von Gott gebotene und daher von Menschen anzustrebende Lebensordnung der Geschlechter zu vertreten und den Menschen als Einladung zu einem gemäß Gottes Gebot gelingenden Leben zu verkündigen hat. Der entscheidende Grund dafür ist darin zu suchen, dass die OH die Lebensformen der Geschlechter nur auf die Entscheidung der Menschen begründet (vgl. Nr. 45). Sie allein wählen und konstituieren die für sie wünschenswerte Lebensform. Der „autonome Mensch“ und seine Entscheidung sind allein ausschlaggebend für die Wahl der Lebensformen. Damit hängt das Gelingen und Misslingen von Lebensbeziehungen auch allein am Menschen. Wenn der Mensch solche Beziehungen allein „konstituiert“, dann hat er auch das Recht, allein über die Art der Lebensform und ihre Ausgestaltung zu bestimmen, sie auch zeitlich zu begrenzen und zu beenden und neue Formen des Zusammenlebens zu wählen. Diese von der OH geteilte Grundvoraussetzung ist so bisher in keiner Stellungnahme der „Evangelischen Kirche in Deutschland“ (EKD) vertreten worden. Mit ihr verbunden ist eine sich unter der Hand gleichzeitig vollziehende neue Definition dessen, was unter Ehe und Familie zu verstehen ist. Ehe und biologische Abstammung sollen nicht mehr grundlegende Merkmale der Familie sein (Nr. 30,31). Im Grunde sind alle Lebensformen, in denen Menschen im dargelegten Sinne mehr oder weniger lange gemeinschaftlich zusammenleben und begrenzte verlässliche Beziehungen füreinander übernehmen, gleich ob sie in einer biologischen Verwandtschaft zueinander stehen oder nicht, als Familie zu bezeichnen, und sollen deshalb auch gleichwertig sein.

3. Ehe und Familie. Zu den theologischen Aussagen der OH

3.1. Zur biblisch-theologischen Sicht

Nirgends in der Bibel und der theologischen Tradition wurden Ehe und Familie nur als durch menschliche Entscheidungen begründete soziale Lebensformen verstanden. Sie hatten immer eine Verankerung in Gottes Willen, Geboten und Handeln, galten als von Gott vorgegebene heilsame Lebensordnungen. Zwar hat Martin Luther betont, dass die Ehe ein „weltlich Ding“ ist. Doch vollzieht er damit nur eine Abgrenzung zum Verständnis der Ehe als „Heilszeichen“, als Sakrament in der katholischen Kirche und zu deren kirchenrechtlichen Regelungen für die Ehe (z.B. Ehehindernisse). Dass die Ehe ein „weltlich Ding“ ist, besagt also nicht, dass sie aus der Beziehung zu Gott herausfällt. Sie ist und bleibt „ein göttlich Werk und Gebot“ (Traubüchlein); eine „göttliche Gabe“, eine „Stiftung Gottes“ (vgl. Großer Katechismus zum 6.Gebot), die als solche dem Menschen von Gott vorgegeben ist, einmal um den Schöpfungsauftrag des Menschen zu erfüllen (Zeugung von Kindern) und zum anderen als primäres und exemplarisches Bewährungsfeld des Glaubens in der Liebe in Ehe und Familie, also in der Beziehung der Ehepartner untereinander und in ihrer Beziehung zu den Kindern und auch zu deren Großeltern.

Die „Zugehörigkeit zur Familie Gottes“ (Nr.45) relativiert nach der OH die Art der Lebensformen der Geschlechter und die Besonderheit der in der Ehe gründenden Familie. Diese Behauptung hat weder einen Anhalt an der Bibel noch an den Reformatoren. Die theologischen Ausführungen der OH sind eindeutig primär von der Absicht gekennzeichnet, den Pluralismus der Lebensformen theologisch zu legitimieren, ja sie alle als im Grunde gleichwertige Gestaltungen des Lebens zu betrachten, mit der unausgesprochenen Voraussetzung, dass es nicht auf die äußere Gestalt der Lebensformen, sondern nur auf die innere Gestaltung, die Verlässlichkeit ankomme. Ganz abgesehen davon, ob man äußere Gestalt und innere Gestaltung so trennen kann, ob die äußere Gestalt nicht notwendig die innere Gestaltung bedingt, stellt sich wiederum die Frage, ob beides nur „Werke“ des Menschen sind, oder ob nicht wenigstens die Gestalt der Lebensform eine göttliche Vorgabe und Gabe, eine gottgewollte Lebensordnung ist, die den heilsamen Rahmen bildet, in dem das Leben der Geschlechter und der Kinder am besten gemäß Gottes Gebot und zum Wohle der Menschen gelingen kann. Die Ehe zwischen Mann und Frau (vgl. Gen 1,27; 2,18), die grundsätzlich bereit ist, sich zur Familie mit Kindern zu weiten (Gen 1,28), ist eine mit der Schöpfung zugleich gegebene Lebensordnung, die dem Menschen als Angebot (Gabe) und Gebot Gottes vorgegeben und die nicht mit anderen Lebensformen wertmäßig auf eine Stufe zu stellen ist.

Die OH rechtfertigt die Pluralität der Lebensformen der Geschlechter und der Formen des Familienlebens biblisch-theologisch mit dem Hinweis, dass in der Bibel, vor allem dem Alten Testament, eine große Vielfalt des Zusammenlebens der Geschlechter und von Menschen bezeugt sei (Nr. 40). Es ist z.B. nicht zu bestreiten, dass es in der Frühzeit Israels auch polygame Ehen gab. Doch ist schon für die Zeit der frühen Propheten (vgl. Hosea 2; 8. Jh.v. Chr.) vorauszusetzen, dass die monogame Ehe das gesellschaftliche Leitbild, die Regel oder gar die ethische und rechtliche Norm war und dass die Entwicklung hin zur monogamen Ehe sich unter dem Einfluss des Glaubens vollzogen hat, dass Gott einen unverbrüchlichen Bund mit seinem Volk Israel geschlossen hat und dass die Ehe ein menschliches Abbild der Bundestreue Gottes sein soll (vgl. Maleachi 2,13 ff.), also keinesfalls nur ein „säkulares Ding“ ist. Diese Vorstellungen im Neuen Testament vor allem in Epheser 5,21-33 eine Entsprechung, und sie bilden auch den Hintergrund der Äußerungen Jesu zur Ehe, in der GOTT Mann und Frau zusammengefügt hat und die der Mensch daher nicht scheiden soll (Mk 10,1-12; Mt 19,1-9; 1Kor 7,10 f.). Die Verbote des Ehebruchs (2Mo 20,14) und der Ehescheidung werden jedoch in der OH nicht erörtert und auch kaum die problematischen Folgen von Scheidungen für Geschiedene (vor allem Alleinerziehende) und ihre Kinder. Stattdessen werden Ehebruch und Scheidungen als Befreiung von unfrei machenden schicksalhaften Bindungen gepriesen (Nr.45, vgl. Kap.3.2).

Wer nach der Bedeutung biblischer Aussagen für die theologische und ethische Urteilsbildung in der Gegenwart fragt, der muss zunächst nach dem Zentrum biblischer Aussagen zu den jeweiligen Fragen suchen und von da aus andere Aussagen kritisch bewerten. Anerkennt man, dass Gottes Bund mit dem Menschen und seine Treue biblisch-theologisch zentraler Hintergrund des Zusammenlebens der Geschlechter ist, dem die Ehe von Frau und Mann entspricht, so können wir – wenn die Bibel noch eine Bedeutung für die Lebensgestaltung in der Gegenwart haben soll – unser Verständnis von Ehe und Familie davon nicht abkoppeln und mit der OH die Behauptung aufstellen, dass die Bibel die Pluralität und Gleichwertigkeit der gegenwärtigen Lebensformen der Geschlechter und der Familien begründet, sondern nur folgern, dass die monogame Ehe zwischen Mann und Frau, die grundsätzlich bereit ist, sich zur Familie mit Kindern zu weiten, diejenige exemplarische Lebensordnung für das Zusammenleben der Geschlechter ist, in der sich der Glaube an Gottes Liebe und Treue in menschlicher Liebe und Treue bewährt, auch wenn das ein Scheitern an und in dieser gottgewollten Lebensordnung nicht grundsätzlich ausschließt. Auf diesem Hintergrund ist auch die Behauptung, dass die „Zugehörigkeit zur Familie Gottes“ (Nr.45) die menschlichen Lebensformen der Geschlechter und Familien relativiere oder gar alle gleichrangig mache, völlig unverständlich und verfehlt, weil die Zugehörigkeit zur Familie Gottes ihre ethische Entsprechung in einem Leben in den den Geboten Gottes entsprechenden Lebensordnungen findet, in denen sich der Glaube in einem der Liebe und Treue Gottes entsprechenden Leben und Handeln bewährt.

3.2. Zu den theologisch-anthropologisch entscheidenden Aussagen

Theologisch am problematischsten ist die These, dass mit „der Entdeckung der Rechtfertigung und Gleichheit ‚aller Kinder Gottes’ (Gal.3,26-28) … Christinnen und Christen die Freiheit (gewannen), die Schicksalhaftigkeit familiärer Bindungen aufzulösen, den eigenen Lebensentwurf zu gestalten … und sich aus eigener Entscheidung in neue Bindungen zu stellen“ (Nr.45). Damit wird suggeriert, die Rechtfertigungslehre des Apostel Paulus und der Reformatoren beinhalte ein Verständnis von Freiheit, das mit dem von der Aufklärung geprägten Begriff von Autonomie (vgl.Kap.2.1) weitgehend identisch sei, die Freiheit als Befreiung des Individuums von selbst verschuldeter Unmündigkeit, also auch von sozialen Ordnungen des Lebens, die die Freiheit einengen, ja selbst von den Grenzen versteht, die die biologische Natur dem Menschen setzt. Danach begründet der Mensch sich selbst in seiner Würde und ist sein eigener Gesetzgeber, bedarf also nicht der Rechtfertigung durch Gott und der Orientierung an Gottes Geboten.

Dieses Verständnis von Freiheit (Autonomie) steht im Widerspruch zu dem, was Martin Luther unter der „Freiheit eines Christenmenschen“ verstand. Die gleichnamige Schrift Luthers (1521) gipfelt in der Aussage: „Das ist wahre, die christliche Freiheit, der Glaube allein.“ Und im Glauben fährt der Mensch auf zu Gott, erfährt Befreiung von der Gebundenheit an sich selbst („Ichsucht“=Sünde), indem er sich im Glauben an Gott bindet. Und in und aufgrund dieser Befreiung und der gleichzeitigen Bindung an Gott wird der Mensch frei, wieder zum Nächsten „hinab zu fahren“ und ihm zu dienen. Freiheit ist also kein Widerspruch zur Bindung, sie ist als Befreiung „zur“ Gemeinschaft mit Gott zu verstehen, ist daher nur in Bindung an Gott und den Nächsten lebbar. Dies besagt nun keinesfalls, dass der Mensch sein eigener Gesetzgeber ist, dass er „autonom“ bestimmen darf und kann, wie er und in welchen Lebensordnungen er leben will. Vielmehr bleibt er auch in dieser Hinsicht auf Gott und Gottes Gebot angewiesen, in dem ihm heilsame, dem Willen Gottes entsprechende und dem Leben positiv dienende Ordnungen des Lebens angeboten werden, in denen sich der Glaube in gottgewollten guten Werken konkretisieren kann.

Die OH folgt mit ihrem Freiheitsverständnis nicht der reformatorischen Sicht von Freiheit, sondern dem Autonomie-Verständnis der Aufklärung (z.B. I. Kant) und des deutschen Idealismus (z.B. J.G. Fichte). Es hat seine konsequente Fortführung und Radikalisierung durch Friedrich Nietzsche erfahren, der richtig erkannte, dass der Mensch überhaupt nicht autonom ist und sein kann, so lange es Gott gibt und der Mensch so letztlich immer Gottes bedarf, auch wenn er es nicht will. Hellsichtig hat Sören Kierkegaard diese Entwicklung schon vorher vorausgesehen und daher die These aufgestellt: „Gottes zu bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit.“ Nietzsche aber verkündigte den Tod Gottes, um den Menschen wirklich autonom, ja seinen eigenen Gott werden zu lassen. Dabei ging Nietzsche – als „Prophet der Postmoderne“ – so weit, dass er forderte, dass der Mensch nicht nur die vorgegebenen Ordnungen seines sozialen Lebens, sondern auch die natürlichen (biologischen) Vorgaben des Lebens, z.B. den natürlichen Tod, so weit wie möglich zur Tat der Freiheit des Menschen werden lassen solle, da es des Menschen unwürdig sei, in nicht frei gewählten und selbst geschaffenen sozialen und naturgegebenen Ordnungen des Lebens zu leben und durch sie in seiner Autonomie eingeengt und fremdbestimmt zu werden.

Heute, mehr als 100 Jahre nach Nietzsche, sind dessen Vorstellungen, dass der Mensch sich von allen schicksalhaften sozialen und biologischen Vorgaben befreien soll, durch die Möglichkeiten der Bio- und Medizintechnik in Ansätzen und immer mehr realisierbar. Man braucht nur Stichworte zu nennen wie künstliche Befruchtung, Samen-, Ei- und Embryonenspende, Auswahl von Embryonen, Leihmutterschaft, dadurch ermöglichte Trennung von genetischer, biologischer und sozialer Elternschaft; Perfektionierung der biologischen Natur des Menschen. Der Mensch soll schon nach Nietzsche auch der Schöpfer seiner eigenen biologischen Natur werden, wenn auch nicht „ex nihilo“, so doch wenigstens in der Form einer gründlichen Perfektionierung, eines Umbaus der Natur zu mehr „Vollkommenheit“ im Sinne von Autonomie gegenüber und Befreiung von der Natur, weil nur ein solches Leben menschenwürdig sei.

Auch die OH betrachtet die Befreiung des Menschen von dem durch die Geschichte vorgegebenen sozialen (z.B. familiäre Bindungen) und auch dem durch die biologische Natur gesetzten Schicksal (z.B. auf biologische Abstammung gründende Familie) grundsätzlich als positive Erweiterung des Freiheitsspielraums des Menschen und damit gemäß dem Autonomie- und Würdebegriff der Aufklärung als einen Schritt zu menschenwürdigeren Lebensstrukturen. Sie blieb dabei aber auf halbem Wege stehen, indem sie die Konsequenz, die F. Nietzsche daraus zog, nicht zieht, nämlich die, dass der Mensch Gott „getötet“ hat und daher sein eigener Gott sein soll und alles „schicksalhaft Vorgegebene“ sozialer wie biologischer Art möglichst abschaffen und in Taten der Freiheit umwandeln soll.

Schon die Rede der OH vom Schicksal ist theologisch sehr problematisch, weil man voraussetzt, dass soziale Lebensordnungen nur von Menschen gemacht sind und dass sie und auch die biologischen Ordnungen nichts mit Gott zu tun haben, keine Vorgaben und Ordnungen sind und sein können, die, auch wenn sie immanent historisch gesehen durch Menschen geworden sind, doch zugleich von Gott geschaffen und dem Leben dienlich sind und die zu überschreiten oder gar abzuschaffen bedeuten kann, dass der Mensch so mehr Bedrohung des Lebens als Hilfen für ein besseres Leben, mehr Unfreiheit als Freiheit schafft. Das schließt nicht aus, dass man prüft, ob sich unter dem schicksalhaft Vorgegebenen nicht auch anderes als die heilsamen Lebensordnungen Gottes verbirgt. Aber das schicksalhaft Vorgegebene gänzlich aus der Gottesbeziehung zu entlassen und möglichst auch aufzuheben und ganz in die rein menschliche Entscheidungshoheit und Verfügungsmacht zu überführen, kann nur – wie Nietzsche zeigte – eine Konsequenz des aufklärerisch-idealistischen und des liberalen Freiheitsbegriffs sein, aber nicht des biblisch-reformatorischen Verständnisses von Freiheit, die primär darin konkret wird, dass der Mensch von seiner „Ichsucht“ befreit wird zur Bindung an Gott im Glauben und zum Dienst am Nächsten. In dieser Freiheit wird der Mensch in erster Linie davon befreit, dass er nicht will, „dass Gott Gott ist; er möchte vielmehr, dass er Gott und Gott nicht Gott ist“ (M. Luther, Disputation gegen die scholastische Theologie 1517, These 17), worin nach M. Luther das Wesen, die tiefste Wurzel der Sünde zu sehen ist. Eben dies ist es, was F. Nietzsche in Fortführung des liberalen Verständnisses von Freiheit auch als das propagierte, was der Mensch erstreben und sich erarbeiten soll.

Auf der Linie eines verfehlten biblisch-reformatorischen Verständnisses von Freiheit liegt auch die Behauptung, dass es „zu den Stärken des evangelischen Menschenbilds gehört, dass es den Menschen nicht auf biologische Merkmale reduziert“. Die Frage ist aber, wer das denn außerhalb rein naturalistischer Theorien tut. Sollte die Abgrenzung sich gegen die katholische Kirche richten, so muss man sagen, dass diese zwar biologische Gegebenheiten als eine wichtige Grundlage auch des menschlichen Lebens betrachtet, dass sie diese aber immer in einen seelisch-geistigen, kulturellen und philosophisch-theologischen Horizont einordnet und diesem meist auch deutlich unterordnet. Die Vermutung liegt daher nahe, dass diese und andere Aussagen der OH sich in erster Linie bestimmten Gendertheorien verdanken, in denen im Extremfall der Begriff „Biologie“ überhaupt nicht mehr vorkommt und alle sozialen und viele grundlegend biologisch bedingte psychosoziale Lebensordnungen (z.B. Polarität der Geschlechter, Frau und Mann) nur noch als vom Menschen selbst geschaffene und daher durch ihn auch veränderbare soziale Konstruktionen ausgegeben werden, vor allem die Ausprägung des geschlechtlichen Lebens und des Zusammenlebens der Geschlechter. Nicht zu Unrecht wird diese Missachtung der grundlegenden Bedeutung der „Biologie“ für das psychische und soziale Leben von vielen Biologen, Medizinern, Anthropologen und auch Soziologen als Ideologie bezeichnet.

Ehe wir der Frage näher nachgehen, wie und wo Behauptungen der Gendertheorie die OH im Einzelnen bestimmen, muss noch deutlicher auf den entscheidenden Punkt verwiesen werden, dass die OH fast alle Formen des Zusammenlebens der Geschlechter und des familiären Lebens als bloße Abmachungen von Menschen betrachtet. Nur der autonome Mensch ist ihr Schöpfer, und jeder Mensch darf und muss daher gemäß seinen Neigungen und seinen Lebensumständen selbst bestimmen, in welchen Lebensstrukturen er am besten leben kann und will. Weil diese Entscheidung allein in die Hände des einzelnen Menschen gelegt ist, werden der Pluralismus der Lebensformen und die Wahlmöglichkeiten zwischen ihnen immer größer. Das soll die Selbstbestimmungsmöglichkeiten vergrößern, das Glück der Menschen steigern und eine Flexibilität in der Anpassung an die sich schnell wandelnden sozialen und sozialökonomischen Anforderungen in unserer Gesellschaft ermöglichen. Diesem Denken ist es ganz fremd, dass es dem Leben von Gott vorgegebene heilsame, dem Gebot Gottes entsprechende und zugleich dem Gelingen des Lebens dienende Lebensordnungen oder Institutionen gibt, in deren Rahmen der Mensch sein Leben führen kann und soll und die nicht nur dem Gelingen des eigenen Lebens, sondern auch des gemeinschaftlichen Lebens überhaupt dienen. Entsprechend werden negative Abgrenzungen gegen Begriffe wie „Ordnungen des Lebens“, „Stiftungen Gottes“ „Institutionen“ in der OH mehrmals sehr eindeutig vorgenommen (vgl. dgg. Kap 3,1). Dazu passt es auch nicht, dass eine bestimmte Lebensordnung, die monogame und in lebenslanger Treue gelebte Ehe, die grundsätzlich bereit ist, sich zur Familie mit biologisch eigenen Kindern zu weiten, eine von Gott gewollte, vorgegebene und gesegnete Leitbildfunktion bekommt, die sie ethisch gesehen nicht mit den anderen möglichen Lebensformen auf eine Stufe stellt.

Die entscheidende Frage, die die OH aufwirft, ist also die, ob alle Formen menschlichen Zusammenlebens allein in die Entscheidungshoheit des angeblich autonomen Menschen gestellt sind, sie allein von ihm gemäß seinen Bedürfnissen gestaltet und gewählt werden, der Mensch also hinsichtlich seiner Lebensgestaltung sein „eigener Gott“ ist oder ob dem Menschen von Gott auch heilsame Lebensordnungen vorgegeben sind, die er dann auch selbst bejahen, gestalten und flexibel ausgestalten darf und soll. Wenn der monogamen Ehe, die sich zur Familie mit Kindern weitet, unter diesen Lebensstrukturen eine Leitbildfunktion zukommt, besagt das nicht, dass alle in dieser Lebensordnung leben können und dass es daher nicht auch andere Lebensordnungen geben kann und muss, in denen die Menschen ihr Zusammenleben verantwortlich gestalten können. Bei der ethischen Beurteilung dieser Lebensformen ist aber davon auszugehen, inwieweit die für die monogame Ehe und die aus ihr entstehende Familie entscheidenden Gestaltungsmerkmale auch in diesen Lebensstrukturen gelebt werden können (z.B. ganzheitliche und lebenslange Treue). Damit wird nicht eine wertmäßige Gleichheit aller Lebensformen propagiert, und erst recht nicht behauptet, dass die Wahl der Lebensform nur in die Entscheidungshoheit und ins Belieben des einzelnen Menschen gestellt ist.

3.3.Zu einzelnen Aspekten der Schrift

Das Verhältnis des neuzeitlichen individualistischen Autonomie-Verständnisses zur biblisch-reformatorischen Beziehungsanthropologie bleibt in der OH völlig ungeklärt. Für die entscheidenden Aussagen der OH ist die Autonomie des Menschen ausschlaggebende Voraussetzung, auch wenn die OH das Angewiesensein auf andere herausstellt, insbesondere den Aspekt der Fürsorge für Kinder und hilfsbedürftige Menschen. Dabei werden die Probleme, die die demographische Entwicklung, die Kinderlosigkeit und die mit der Langlebigkeit verbundene zunehmende Zahl pflegebedürftiger Menschen aufwerfen, in Blick genommen, und es wird dargelegt, wie wichtig die Fürsorge innerhalb der Familie ist und dass es neuer sozialer Formen des Zusammenlebens der Generationen mit Fürsorge füreinander bedarf, um die zukünftigen Herausforderungen in menschenwürdiger Weise zu gestalten. Die Anforderungen, die die OH diesbezüglich an die Familien oder familienähnliche Lebensgemeinschaften stellt, sind nicht gering. Es wird auch nicht geleugnet, dass die Kinderlosigkeit in diesem Zusammenhang das Grundproblem darstellt. Es werden auch deren soziale und ökonomische Ursachen thematisiert, aber wenig die seelisch-geistigen und die kulturellen. Dass das Streben nach Autonomie und Selbstverwirklichung gerade in den gebildeten und wohlhabenden Schichten der Bevölkerung ein sehr entscheidender Grund für Kinderlosigkeit ist, wird nicht eingehender thematisiert. Das passt nicht zu der fundamentalen Bedeutung, die die OH der Autonomie einräumt. Deshalb wird auch mit keinem Wort darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung, keine Kinder zu zeugen und zu erziehen, den Generationenvertrag im hohen Maße gefährdet, und dass sie auch bedeutet, dass die Menschheit in meiner Person ein gewolltes Ende nimmt. So wird auch nirgends gesagt, dass es aus sozialethischer Sicht eine Pflicht, ein moralisches Gebot sein könnte und sollte, Kinder zu zeugen und zu erziehen. Nicht nur für das alte Israel (1 Mose 1,28) und die katholische Kirche, sondern auch für Martin Luther und die Reformatoren war es ein Gebot Gottes, Kinder zu zeugen und zu erziehen. Erst unter den Voraussetzungen des neuzeitlichen Individualismus und in Abgrenzung zur katholischen Morallehre (keine Verhütung usw.) hat auch die evangelische Theologie und Kirche die Ehe überwiegend deutlich von der Familie abgekoppelt und kaum noch betont, dass es göttliches Gebot ist, dass die Ehe sich zur Familie mit Kindern weitet.

Angesichts der heutigen Kinderlosigkeit muss man sagen, dass diese Sicht ein Irrweg war. Auch die OH korrigiert diesen Weg nicht, einmal nicht, weil das zu einer Beschneidung der Autonomie des Menschen in seiner Lebensgestaltung führen würde, und zum anderen nicht, weil sie das gemäß den „Gendertheorien“ als „Biologismus“ einstufen würde, von dem der Protestantismus sich angeblich befreit habe. Man hofft, dass an Stelle der auf biologische Abstammung gründenden Familie neue soziale Formen des Zusammenlebens aufgebaut werden, die den Mangel an auf biologischer Abstammung gründenden Familien, die zur Fürsorge für andere bereit und befähigt sind, ausgleichen und ebenso gut übernehmen. Zu diesem Zweck wird der Begriff Familie ausgeweitet auf fast alle Formen des gemeinsamen Lebens, in denen sich gegenseitig geholfen wird. Allerdings gibt es bisher kaum Anhalt dafür, dass solche sozialen Gemeinschaften in gleicher Weise Kinder zeugen und erziehen und mit gleicher Verlässlichkeit Fürsorge füreinander leisten. Aber es passt zur Gleichheits- und Gleichwertigkeitsthese der OH, dass sie davon ausgeht und zu solchen neuen Formen ermutigt, die wir auch brauchen, um den rasch zunehmenden Ausfall der Leistungen, die bisher fast ausschließlich biologisch begründete Familien erbracht haben, ein wenig zu kompensieren. Eine Ermutigung zur Bereitschaft, Kinder zu zeugen und zu erziehen, findet man in der OH allerdings eher beiläufig (z.B. Nr.69, 83). Man scheint die Kinderlosigkeit weitgehend zu akzeptieren und geht offenbar auch davon aus, dass sich auch bei verbesserten Rahmenbedingungen (z.B. Vereinbarkeit von Beruf und Familie) daran nichts mehr entscheidend ändern lässt.

Geht man nicht davon aus, dass alle Lebensformen der Geschlechter und des familiären Lebens gleichwertig sind, so stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Lebensformen bewertet werden können und sollen. Für die OH ist dafür nur Maßstab, ob diese Lebensformen den in ihnen lebenden einzelnen Menschen, nicht zuletzt ihrem Verlangen nach Glück dienlich sind. Es ist ein rein lebenspraktischer Gesichtspunkt. Geht man – wie hier angedeutet – ebenso davon aus, dass die Lebensformen auch Gottes Willen und Gebot entsprechen sollen und Gottes Gabe an und Aufgabe für den Menschen sind, so sind sie nicht nur vom Menschen, sondern auch von Gott her zu betrachten, so ist nicht nur die Lebensdienlichkeit für die Menschen Kriterium für eine Bewertung, sondern ebenso die Frage, ob die Lebensform dem Gebot Gottes entspricht und ob sie als solche und in der durch sie bedingten Art der Ausgestaltung auch der Bezeugung des heilsamen Willens Gottes für den Menschen und der Beziehung Gottes zum Menschen entspricht (vgl. Kap. 3.1). Dabei ist davon auszugehen, dass Gottes Ordnungen für das Leben zwar nicht selten menschlichen Wünschen und dem Streben nach Selbstverwirklichung und Glück entgegenstehen, dass sie jedoch trotzdem letztlich immer heilsam und lebensdienlich sind, und zwar nicht nur für das Individuum, sondern für alle Glieder der Familie und auch für die ganze Gesellschaft.

Dass die Ehe, die sich zur Familie weitet, trotz der mit ihr verbundenen Einschränkungen der Autonomie der einzelnen Glieder eine letztlich für alle, auch die menschliche Gemeinschaft als ganze, heilsame und dienliche Lebensordnung und Institution ist, kann nicht ernsthaft bestritten werden, und dass sie dabei im Vergleich zu anderen Lebensformen gut abschneidet, auch nicht. Dass sie als auf lebenslange Dauer, Treue und Fürsorge füreinander ausgerichtete Lebensgemeinschaft auch das erste und vornehmliche Bewährungsfeld des Glaubens an Gottes Bundestreue in der Liebe zum Nächsten ist und dass sie als solche über eine rein immanente Lebensdienlichkeit hinaus auf Gott verweist, der die Ehe und Familie als Gabe und Aufgabe gegeben und vorgegeben hat, sollte in einer kirchlichen Orientierungshilfe, wenn sie eine solche sein will, eindeutig zur Sprache kommen. In der von der EKD vorgelegten OH ist das nicht der Fall.

Für die immanente Bewertung der Lebensdienlichkeit von Familien und anderen Formen der Vergesellschaftung nennt die OH insbesondere die Orientierung an der Fürsorge für Frauen und am Kindswohl. Ob aus der vorrangigen Orientierung am Kindswohl allein auch schon ein Vorzug für die frühkindliche Erziehung in Kitas abgeleitet werden kann, darüber kann man streiten. Die Erkenntnisse der Bindungsforschung belegen dies nicht. Angesichts dessen, dass bis zu 50% der Ehen geschieden werden und dadurch zwar alle, Frauen wie Männer, aber insbesondere die Kinder belastet sind, ist diese Ausrichtung auf das Wohl der Kinder sehr zu begrüßen. Wenn dann aber behauptet wird, dass die Belastungen infolge Scheidungen überwiegend nicht langfristig und im Vergleich zu den Belastungen bei sich über Jahre hinziehenden Konflikten eher gering seien (Nr.8), so werden die Belastungen von Kindern durch Scheidungen damit doch zugleich verharmlost. Die Zahl derjenigen, die aufgrund solcher Belastungen in längerfristige kinderpsychiatrische Behandlung kommen, ist zumindest nicht gering. Ebenso ist das Leben von Kindern mit nur einem Elternteil und in Patchwork-Familien nicht ohne Belastungen.

Auch das sind Hinweise darauf, dass die lebenslange Ehe, die zur Familie wird, in der Regel eine für alle Familienmitglieder lebensdienliche Ordnung des gesellschaftlichen Lebens ist. Man hätte daher von einer kirchlichen OH erwartet, dass sie sich aufgrund theologischer und ethischer Überlegungen stärker für diese Lebensordnung und Institution einsetzt, zu ihr ermutigt und ihre Leitbildfunktion herausstellt. Das entspricht auch der Sonderstellung von Ehe und Familie, die das Grundgesetz (Artikel 6,1) rechtlich abgesichert hat. Dort werden Ehe und Familie im Zusammenhang gesehen und nicht mit anderen Lebensformen der Geschlechter und der Vergesellschaftung zwecks gegenseitiger Beglückung und Fürsorge auf eine Stufe gestellt, sondern deutlich von ihnen abgehoben.

4. Fazit

Die OH gibt viele bedenkenswerte sozialgeschichtliche, soziologische und rechtliche Informationen und auch gute Anregungen, wie man mit den vielfältigen Herausforderungen an die Familien in einer sich schnell wandelnden, soziale Flexibilität fordernden ökonomisierten Gesellschaft umgehen kann und soll. Ihrem Anspruch, aus der biblischen Tradition heraus ein Menschenbild zu entfalten, das diesen Herausforderungen gerecht wird und auf sie antwortet, entspricht die OH mitnichten. Ihr relativ kurzer theologischer Teil ist mit Abstand der schwächste der OH. Sie entfaltet viel weniger aus biblischer und reformatorischer Tradition als vielmehr aus philosophischen, soziologischen und umstrittenen feministischen und gendertheoretischen Theorien ein Menschenbild, das zu diesen Theorien passt und sie theologisch-ethisch legitimieren soll.

Das Spannungsfeld zwischen Autonomie und Angewiesensein wird aufgezeigt, aber keinesfalls geklärt, denn es kommt zu widersprüchlichen Aussagen, in denen einmal das Angewiesensein und die Fürsorge im Vordergrund stehen, dann aber ganz der Ansatz bei der Autonomie des Menschen dominiert. Im Grunde ist und bleibt die Autonomie der Leitbegriff, der die meisten Ausführungen bestimmt und zur Behauptung der Gleichwertigkeit aller „Lebensformen“ der Geschlechter und aller Formen familiären Lebens und der Vergesellschaftung herausfordert. Ehe und die familiären Formen des Zusammenlebens werden nur als „Werke“ des Menschen und entsprechend nur unter vertragstheoretischen Gesichtspunkten betrachtet, nicht aber als Gabe und Aufgabe Gottes, in denen der Glaube sich in der Liebe und Treue zu bewähren hat.

Entsprechend bleiben zentrale Begriffe der OH, vor allem der der Verlässlichkeit, unklar, auch in Hinsicht auf den aus theologischer Sicht zentralen Begriff der unverbrüchlichen Treue und lebenslangen Dauer in guten und schweren Zeiten. Es bleibt ungeklärt, wie sich der Begriff Verlässlichkeit zu dem vielleicht bewusst nicht entfalteten Begriff einer ganzheitlichen Treue verhält, der für Gottes Bund mit den Menschen und den Ehebund von Frau und Mann zugleich konstitutiv ist. Man gewinnt den Eindruck, dass Verlässlichkeit innerhalb der rein menschlich gedachten Vertragstheorien von vornherein nur so lange gilt, wie der Vertrag und seine Bedingungen gelten. Das besagt, dass die Lebenslänglichkeit von Ehe und familiären Beziehungen schon begrifflich ausgeblendet wird, weil sie nicht mehr von einer Mehrheit der Menschen gelebt wird. Sie passt nicht mehr in unsere Zeit und kann daher auch angeblich nicht mehr von den „Volkskirchen“ vertreten werden, die bemüht sind, sich an die Trends der Zeit – freilich immer mit Verspätung – anzupassen, die damit aber auch kräftig daran mitwirken, dass die christliche Botschaft und das christliche Leben sich in dieser säkularen Gesellschaft bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigen. Sie sagen nichts mehr, was andere nicht auch kennen und zu sagen haben.

Die in unserer Gesellschaft in eine Minderheitenrolle abdriftenden „Volkskirchen“ scheinen nicht verstanden zu haben, dass mit einer kirchlichen Legitimation dessen, was ohnehin schon allen bekannt ist und von vielen gelebt wird, nicht zur Orientierung verholfen und niemand gedient ist, auch nicht der Rolle der Kirchen in der Gesellschaft. Diese OH verdient daher die Bezeichnung einer an der biblischen und reformatorischen Lehre orientierten „Orientierungshilfe“ nicht, wenigstens was die theologisch-ethische Orientierung betrifft und wenn man die Informationen über die große Zahl der möglichen Lebensformen der Geschlechter und familiären Strukturen, zwischen denen der Mensch wählen und auch wechseln darf, nicht schon als Orientierung versteht.

Zum Thema hat Ulrich Eibach unter anderem veröffentlicht: Ulrich Eibach: Liebe, Glück und Partnerschaft. Sexualität und Familie im Wertewandel, Wuppertal 1996.

Bezüge zum Familienpapier: