4. Verfassungsrechtliche Vorgaben und Leitbilder von Ehe und Familie im Familienrecht heute

Die weitreichenden Änderungen im Familienrecht der letzten Jahre folgen einerseits dem Strukturwandel der Familie und tragen der neuen Vielfalt der Familienformen Rechnung, andererseits geben sie Regelungen vor, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorauseilen. Die nachhaltigste Veränderung ist die Anerkennung eines erweiterten Familienbegriffs, die nicht nur die traditionelle Kleinfamilie, sondern auch alternative Lebensformen unter den institutionellen Schutz des Art. 6 Grundgesetz stellt. Ausschlaggebend hierfür ist einerseits das Kindeswohl, andererseits die Gleichberechtigung aller Mitglieder der Familie, die nun neben Frauen auch Kinder einbezieht.

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Gerade im Familienrecht, das in besonderer Weise in kulturellen und sozialen Wandel eingeschlossen ist, wird an vielen Stellen deutlich, dass das Recht zum einen gesellschaftliche Entwicklungen kodifizierend nachvollzieht, zum anderen aber auch gesellschaftliche Trends einleiten oder verstärken kann. Das betrifft auch die Rechtsauslegungen und Rechtsauffassungen zuArt. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes, in dem es heißt: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Wie alle Grundrechte ist Art. 6 Abs. 1 GG zunächst ein Schutz- und Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Das bedeutet: Die Gestaltung der Ehe wird der Eigenverantwortung der Ehepartner übertragen; es ist ein weitgehend rechtsfreier Raum, in dem z.B. Absprachen der Eheleute über die Gestaltung ihres Ehelebens im persönlichen und intimen Bereich nicht justiziabel sind (z.B. Absprachen über empfängnisverhütende Mittel).

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Neben seiner Funktion als Schutz- und Abwehrrecht bezeichnet die Garantie des Staates für das Institut der Ehe nach ständiger Rechtsprechung zugleich ihre wesentlichen Strukturprinzipien. Dazu gehören neben der Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner das Prinzip der Einehe, die Freiheit zur Eheschließung, das Gebot der Zurückhaltung bei der Aufstellung von Eheverboten, die Gleichberechtigung der Ehepartner und die grundsätzliche, aber mit Ausnahmen versehene Unauflöslichkeit der Ehe. Diese substanziellen Elemente von „Ehe“ dürfen nicht durch das (Familien-)Recht ausgehöhlt werden (Ständige Rechtsprechung des BVerfG, vgl. BVerfG v. 17.7.2002). Art. 6 Abs. 1 GG enthält eine verbindlicheWertentscheidung für die „Ehe“, die in der Rechtsordnung insgesamt zu beachten ist. Dies beinhaltet ein Benachteiligungsverbot und Schutzgebot zur Förderung von Ehe und Familie. Der Staat hat alles zu unterlassen, was die Ehe schädigt oder sonst beeinträchtigt. Sie darf nicht gegenüber anderen Lebensformen schlechter gestellt werden.

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Aus der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip lässt sich zwar die allgemeine Pflicht des Staates zu einem Familienlastenausgleich entnehmen, nicht aber die Entscheidung darüber, in welchem Umfang und in welcher Weise ein solcher sozialer Ausgleich vorzunehmen ist. Der Staat ist nicht verpflichtet, jegliche die Familie treffende finanzielle Belastung auszugleichen (BVerfG v. 29.10.2002).

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In jüngster Zeit sind Reichweite und Bedeutung dieser Institutsgarantie der Ehe aus verschiedenen Perspektiven diskutiert und neu interpretiert worden. Im Kontext der Verabschiedung des Gesetzes über die eingetragene Lebenspartnerschaft (LPartG) von homosexuellen Paaren, das seit dem 1.1.2001 in Kraft ist, wurde erneut und wird bis heute das verfassungsrechtliche Verhältnis der Lebenspartnerschaft zur „Ehe“ diskutiert, zumal durch die Novellierung des Lebenspartnergesetzes zum 1.1.2005 eine weitere rechtliche Angleichung der eingetragenen Lebenspartnerschaft an die Ehe im Unterhaltsrecht, im Zugewinn- und Versorgungsausgleich wie auch in der gesetzlichen Rentenversicherung erfolgte (§ 46 SGB VI).

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 Zunächst war umstritten, ob das Lebenspartnerschaftsgesetz überhaupt mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar sei und inwieweit die Institutsgarantie für die „Ehe“ erfordere, andere Lebensformen „im Abstand“ zur Ehe rechtlich auszugestalten. Nach verschiedenen, die Gleichbehandlung ablehnenden Urteilen kommt der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts in zwei Beschlüssen (BVerfG v. 7.7.2009; BVerfG v. 21.7.2010) zu dem Ergebnis, dass an die Rechtfertigung einer unterschiedlichen Behandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft im Recht zukünftig strenge Anforderungen gestellt werden müssen. Nur der Hinweis auf den besonderen Schutz der Ehe reiche nicht aus. Da nach Ansicht des Senats die Lebenspartnerschaft auf der Anerkennung unterschiedlicher sexueller Orientierung beruht, ist ihre Nichtdiskriminierung ein Gebot europäischen Rechts. Der Senat erkennt weiter an, dass für Ehe und Lebenspartnerschaft gemeinsame konstitutive Elemente gelten: Sie sind auf Dauer angelegt, rechtlich verbindliche Lebensbeziehungen und begründen eine gegenseitige Unterhalts- und Einstandspflicht.

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Ein entscheidender Impuls für diese veränderte Rechtsauffassung liegt in der Weiterentwicklung des Antidiskriminierungsrechts der Europäischen Union. Danach darf die „sexuelle Ausrichtung“ nicht Grund für eine ungleiche Behandlung sein (Art. 10, 19 AEUV, EG-Richtlinie 2000/78 sowie nach Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der EU). Diese allgemeinen Zielbestimmungen sind durch mehrere EU-Richtlinien zu Antidiskriminierung konkretisiert und in Deutschland durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) seit 2006 umgesetzt worden. Lebenspartner dürfen danach nicht gegenüber Ehepartnern wegen ihrer sexuellen Orientierung - § 1 AGG spricht von „sexueller Identität“ - benachteiligt werden. Obwohl die Europäische Union keine Rechtssetzungskompetenz für das Familienrecht der Mitgliedsstaaten hat, begründet das Antidiskriminierungsrecht weitreichende Auswirkungen auf die Gestaltung des nationalen Sozial- und Arbeitsrechts. Deutschland hat mit dem Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaften eine der Ehe „vergleichbare Situation“ geschaffen, indem Lebenspartner wie Ehegatten einander zur Fürsorge und zum Unterhalt verpflichtet sind. Daher müssen Ehe- und Lebenspartner gegenüber sozialen Risiken, wie z.B. in der Hinterbliebenenversorgung, gleich behandelt werden (EuGH v. 1.4.2008; EuGH v. 10.5.2011).

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Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich für den Schutzbereich des Art. 6 GG inzwischen an einem erweiterten Familienbegriff, an den tatsächlich gelebten Formen von Familie. Danach ist Familie „die umfassende Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern, seien diese ehelich oder nichtehelich“ (Jarrass/Pieroth, 2009 zu Art. 6 Rn. 6 m. w. N. aus der Rechtsprechung). Die Ehe ist nicht mehr die Voraussetzung für Elternschaft und für Familie i. S. d. Art. 6 GG. Geschützt sind alle Formen gelebter Eltern-Kind-Beziehungen. Dazu gehören Einelternfamilien und Familien mit Stief-, Adoptiv- und Pflegekindern. Auch Lebenspartnerschaften und nicht-eheliche Lebensgemeinschaften mit (gemeinsamen) Kindern stehen unter dem Schutz des Art. 6 GG.

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Damit eng verknüpft ist der grundrechtliche Schutz des Rechts und der Pflicht der Eltern zur Pflege und Erziehung der Kinder nach Art. 6 Abs. 2 GG. Die Verfassungsnorm geht zwar von dem Regelfall aus, in dem das Kind mit den durch die Ehe verbundenen Eltern in einer Familiengemeinschaft zusammenlebt und Vater und Mutter gemeinsam die Sorge für das Kind übernehmen. Der Schutz des Art. 6 Abs. 2 GG greift aber auch dann, wenn die Eltern nicht miteinander verheiratet sind. Vorrang hat die Gleichstellung der nicht in der Ehe geborenen Kinder gemäß Art. 6 Abs. 5 GG. Die Elternstellung zu einem Kind wird nicht allein durch Abstammung bestimmt; sie kann auch durch sozial-familiäre Verantwortungsgemeinschaft vermittelt werden. Art. 6 Abs. 1 und 2 GG erstrecken ihren Schutz somit auf die „soziale Familie im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft für Kinder“ und stärken ihren grundrechtlichen Schutz (BVerfG v. 9.4.2003). Ehe und biologische Abstammung sind damit nicht mehr konstituierende Merkmale von „Familie“ im Sinne des Grundgesetzes.

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Die Reform des Kindschaftsrechts von 1998 bezeichnet die rechtliche Wegmarke für ein verändertes Familienverständnis, indem der Gesetzgeber hier ausdrücklich der Eltern-Kind-Beziehung einen Vorrang vor der Paarbeziehung einräumt. Dahinter steht eine grundlegende Veränderung hin zu einem Familienrechtsverständnis, in dem auch die Kinder als eigenständige Rechtssubjekte angesehen werden. Das 1989 von der UNO-Vollversammlung verabschiedete Übereinkommen (UN-Kinderrechtskonvention), das am 5. April 1992 in Deutschland in Kraft getreten ist, sieht völkerrechtlich verbindliche Mindeststandards zum Wohl des Kindes und zur Berücksichtigung des Kindeswillens vor. Dazu gehören u.a. das Recht auf Bildung, Gesundheitsvorsorge sowie Schutz vor jeglicher Form von Gewalt, auch sexueller, und vor wirtschaftlicher Ausbeutung. Das Übereinkommen verlangt neben der Einhaltung der Kinderrechte die Bekanntmachung der Grundsätze sowie regelmäßige Rechenschaftsberichte.

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Nach Entscheidungen des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (v. 3.12.2009) und anschließend des Bundesverfassungsgerichts (v. 21.7.2010) hat der Gesetzgeber den Schutz der sozialen Familie zugunsten eines gemeinsamen Sorgerechts nicht miteinander verheirateter Eltern weiter erleichtert. Wenn nicht beide Eltern ohnehin eine gemeinsame Sorgerechtserklärung abgeben - was bei über 60% der nicht verheirateten Eltern der Fall ist ?, kann der Vater einen Antrag auf gemeinsames Sorgerecht stellen. Falls die Mutter widerspricht, entscheidet das Familiengericht, ob die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl entspricht. Anders als beim Sorgerecht hat der rechtliche Vater immer ein grundrechtlich geschütztes Umgangsrecht - genauso wie der Vater eines ehelichen Kindes.

Nach einer Trennung bzw. Scheidung bleibt es beim gemeinsamen Sorgerecht, es sei denn, ein Elternteil stellt einen Antrag auf Alleinsorge. „Stiefeltern“ (d. h. der Ehegatte/Lebenspartner eines allein sorgeberechtigten Elternteils) dürfen in „Angelegenheiten des täglichen Lebens“ im Einvernehmen mit dem sorgeberechtigten Elternteil mitentscheiden (§1687 b BGB). Befindet sich ein Kind längere Zeit in Familienpflege (§ 33 SGB VIII), geht der Gesetzgeber davon aus, dass zwischen dem Kind und seinen Pflegeeltern eine enge soziale Bindung entstanden sein kann. Deshalb ist auch die aus dem Kind und den Pflegeeltern bestehende Pflegefamilie durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. In einer Lebenspartnerschaft kann eine bzw. einer der Partner das leibliche wie auch das adoptierte Kind seines Lebenspartners bzw. seiner Lebenspartnerin auf Antrag annehmen ( BVerfGE v. 19.02.2013); das Kind wird gemeinschaftliches Kind beider Lebenspartner, für das beide die gemeinsame Sorge haben (§ 9 Abs. 7 LPartG, vgl. Hk-LPartR/Kemper [2006] § 9 Rn. 38).

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Die Familienrechtsreform, die am 1.1.2008 in Kraft getreten ist, hat schließlich mit ihren Neuregelungen im Unterhaltsrecht die Bedeutung der Ehe für die Verantwortungsgemeinschaft Familie rechtspolitisch weiter geschwächt und die Verpflichtung zu „nachehelicher Solidarität“ zeitlich begrenzt. Stattdessen wurde der Grundsatz der „Eigenverantwortung der Ehegatten“ in den Vordergrund gerückt (§ 1569 BGB). Die eigenständige Existenzsicherung soll die Regel sein. Beide Ehepartner haben seitdem verstärkt die Pflicht, nach einer Scheidung für den eigenen Unterhalt zu sorgen. Nacheheliche Unterhaltsansprüche des ökonomisch schwächeren Ehegatten, in der Regel nach wie vor der Frau, können mehr als bisher zeitlich befristet bzw. herabgesetzt werden (§ 1578 b BGB, vgl. BT-Drs. 16/1830 S. 16). Gleichzeitig wird aber die Pflicht, eine angemessene Erwerbstätigkeit auszuüben, betont (§§ 1573, 1574 BGB). Diese Verpflichtung kann auch bedeuten, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die unter dem Ausbildungsniveau liegt. Damit kann Müttern oder Vätern, die ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Familienvorsorge zurückgestellt haben, anders als bisher, auch ein sozialer Abstieg zugemutet werden. Da die Neuregelung des Unterhaltsrechts grundsätzlich auch die vor der Reform von 2008 geschlossenen und geschiedenen Ehen betrifft, die, bisher durch Gesetze und sozialpolitische Rahmenbedingungen gestützt, Lebensentwürfe mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung praktiziert haben, kann das neue Recht bei allen, die keine angemessene Beschäftigung finden, zu harten Einschnitten in gesichert geglaubte Rechtspositionen führen. Damit verletzt diese Neuregelung den üblichen rechtlichen Vertrauensschutz. Die neue Rechtslage sollte jungen Menschen klar sein, wenn sie sich für diese Lebensform mit traditioneller Arbeitsteilung entscheiden.

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Besonders umstritten ist der in der Praxis wichtige Unterhaltsanspruch wegen Betreuung gemeinsamer Kinder (§ 1570 BGB). Er wird jetzt grundsätzlich auf einen Basisunterhalt bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes begrenzt. Von den betroffenen Müttern und Vätern (in der Regel sind es jedoch nach wie vor die Frauen) wird eine je nach individueller Betreuungsbedürftigkeit des Kindes abgestufte Berufstätigkeit bis zur Vollzeittätigkeit erwartet. Die Verpflichtung zu einer (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit des Elternteils, bei dem die Kinder leben, führt in der Regel zu einer deutlich ungleichen Lastenverteilung beider Elternteile. Diese faktische Doppelbelastung der Alleinerziehenden wird inzwischen von den Familiengerichten berücksichtigt, nicht zuletzt im Hinblick auf die noch immer lückenhafte Ganztagesbetreuung. Nach der neuen Regelung des Unterhaltsrechts bietet eine Ehe auch dann keine Versorgungssicherheit, wenn Frauen zur Erziehung von Kindern im Einvernehmen mit ihrem Ehemann mehrere Jahre aus dem Beruf ausgeschieden waren oder nur in geringem Umfang eigenes Erwerbseinkommen erzielt haben. Erwerbsarbeit ist zum Rollenmodell und zur gesellschaftlichen Verpflichtung für beide Partner geworden. Die angebliche Wahlfreiheit zur Entscheidung über den Umfang der Erwerbsarbeit und die Verteilung der Aufgaben innerhalb einer Partnerschaft wird damit - im Blick auf eine Scheidung - obsolet. Noch ist politisch ungeklärt, wie das im Unterhaltsrecht verordnete Zweiverdienermodell und damit die Sorge für Kinder und Pflegebedürftige neben der Erwerbsarbeit auf Dauer angemessen gewährleistet werden soll. Die Neuregelungen stehen im Widerspruch zum bisher im westdeutschen Familienrecht vertretenen Prinzip der nachehelichen Solidarität und den Rahmenbedingungen der Arbeits- und Sozialpolitik, die nach wie vor Ehen mit einem Alleinverdiener bzw. Hauptverdiener finanziell begünstigen (vgl. dazu weiter unten Kap. 7).

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Neben bzw. unabhängig von diesem Ehegattenunterhalt ist der Kindesunterhalt neu geregelt und ein Mindestunterhalt für minderjährige Kinder eingeführt worden. Auch in dieser Hinsicht werden nun, wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert, nichteheliche und eheliche Kinder im Unterhaltsrecht gleich behandelt. Kinder, die von geschiedenen Elternteilen oder nicht verheirateten Elternteilen betreut werden, haben denselben Anspruch auf Kindesunterhalt; anders als früher werden sie nun in Bezug auf Höhe des Kindesunterhalts und die (auf drei Jahre verkürzte) Dauer des Betreuungsunterhalts gleich behandelt. Der Unterhaltsanspruch von minderjährigen und volljährigen Kindern, die noch im Elternhaus wohnen und sich in der allgemeinen Schulausbildung befinden (§ 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB), hat außerdem stets Vorrang auch vor dem Unterhaltsanspruch ehemaliger Ehepartnerinnen.

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Durch eine zunächst kaum beachtete Änderung des Personenstandsgesetzes ist die Evangelische Kirche in Deutschland schließlich auch herausgefordert worden, das evangelische Verständnis von Ehe und Eheschließung im Verhältnis zum staatlichen Eherecht zu überdenken. Die Neuregelung des Personenstandsgesetzes vom 1. Januar 2009 hob die frühere Vorschrift auf, wonach die standesamtliche, d. h. die bürgerlich rechtliche Eheschließung immer der kirchlichen Trauung vorausgehen musste. Mit dem Wegfall dieses Gebots entstand die Frage, ob es in Zukunft kirchliche Eheschließungen auch ohne vorherige rechtliche Bindung durch die Rechtsform der Ehe geben solle. Eine vom Rat der EKD eingesetzte Arbeitsgruppe, die sich intensiv mit dem Eheverständnis und der Traupraxis der evangelischen Kirche beschäftigte, kam zu dem Ergebnis, dass „es auch künftig in den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland keine rein kirchlich geschlossenen Ehen geben soll. Dem (in der gutachterlichen Äußerung) vorgetragenen evangelischen Verständnis von Ehe und Eheschließung entspricht es vielmehr, dass die Ehe als bürgerlich-rechtliche geschlossen und ihr in einem Gottesdienst Gottes Segen zugesprochen wird.“ (EKD-Texte 101, 22/23) Der Rat und die Kirchenkonferenz stimmten dem Ergebnis dieser Ausarbeitung zu und empfahlen sie als Orientierungshilfe, um weitere Aufgaben zu lösen, u. a.

  • „dass es angesichts der sich verändernden historisch-kulturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen geboten ist, sich neu über das evangelische Verständnis von Ehe und Eheschließung zu vergewissern, ...
  • dass auf die gegebene Vielfalt der Formen des Zusammenlebens liturgisch so zu reagieren ist,
  • dass für Paare, denen die römisch-katholische Kirche eine kirchliche Eheschließung ohne Anbindung an die Zivilehe anbietet, auf evangelischer Seite geeignete gottesdienstliche Formen zu entwickeln und zu erproben sind.“ (ebda. 24)
Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

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