9. Empfehlungen
Nach evangelischem Verständnis ist die Familie der maßgebliche Ort, an dem Autonomie und Angewiesenheit, Freiheit und Bindung gleichzeitig erfahren und gelebt werden können. Leitlinie einer evangelisch ausgerichteten Förderung von Familien, Ehen und Lebenspartnerschaften muss die konsequente Stärkung von fürsorglichen familiären Beziehungen sein. Wo Menschen auf Dauer und im Zusammenhang der Generationen Verantwortung füreinander übernehmen, sollten sie Unterstützung in Kirche, Gesellschaft und Staat erfahren. Dabei darf die Form, in der Familie und Partnerschaft gelebt werden, nicht ausschlaggebend sein. Alle familiären Beziehungen, in denen sich Menschen in Freiheit und verlässlich aneinander binden, füreinander Verantwortung übernehmen und fürsorglich und respektvoll miteinander umgehen, müssen auf die Unterstützung der evangelischen Kirche bauen können. Daraus ergeben sich Empfehlungen für politisches, soziales und kirchliches Handeln.
Angesichts des tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandels ist auch die Kirche aufgefordert, Familie neu zu denken und die neue Vielfalt von privaten Lebensformen unvoreingenommen anzuerkennen und zu unterstützen. Diese Anerkennung ist nicht lediglich als Anpassung an neue Familienwirklichkeiten zu verstehen, sondern als eine normative Orientierung. Vor dem Hintergrund der befreienden Botschaft des Evangeliums geht es darum, das Versprechen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen ernst zu nehmen und Gerechtigkeit auch in der Familie umzusetzen. Die traditionellen Leitbilder halten den neuen Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie den vielfältigen Erwartungen an Familien nicht mehr stand. Die Erziehung der Kinder, die Pflege kranker und alter Menschen sowie die alltägliche Sorge für das Wohl der Familienangehörigen sind so kostbare Aufgaben, dass sie einer neuen gesellschaftlichen Wertschätzung und Achtsamkeit bedürfen. Sie sind deshalb nicht ausschließlich der Privatsphäre oder einem der Partner, in der Regel der Frau, zu überlassen. Frauen und Männer haben das Recht auf einen eigenen Lebensentwurf, in dem sie Beruf und Familie vereinbaren können. Im Zentrum der Familie heute steht das Kindeswohl, das auf eigenständigen Kinderrechten beruht. Der gesellschaftliche Wandel bietet deshalb eine Chance, neue Formen der Arbeitsteilung in Familie und Beruf zu praktizieren und insbesondere auch die Haus-, Sorge- und Pflegetätigkeiten partnerschaftlich zu teilen. Für diese Ziele setzt sich die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (eaf), der Dachverband Familien unterstützender Werke und Verbände in der EKD, seit Langem ein. Familienarbeit und Familienpolitik sollte grundsätzlich auch als zentrales Handlungsfeld landeskirchlichen Handelns verstanden werden, das weiterentwickelt und gefördert werden muss. (s. Kap. 3).
Familienrecht und Rechtsprechung gehen inzwischen von einem erweiterten Familienbegriff aus, in dem die Ehe nicht mehr notwendigerweise die Voraussetzung für Elternschaft und für Familie im Sinne des Art. 6 GG ist. Leitende Prinzipien, die sich auf die internationale Geltung der Menschenrechte und die Entwicklung des europäischen Antidiskriminierungsrechts gründen, sind die Gleichberechtigung der Kinder und der Ehefrauen sowie die Anerkennung unterschiedlicher sexueller Orientierungen. Allerdings führt die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung auch zu erheblichen Problemen: Zum Beispiel werden im deutschen Steuer- und Sozialrecht nach wie vor Ehen mit einem Alleinverdiener bzw. Hauptverdiener finanziell begünstigt, während im Unterhaltsrecht nach der Scheidung die Erwerbstätigkeit beider Partner vorausgesetzt wird. Die rechtliche Anerkennung der Vielfalt von Familien- und Lebensformen muss auch in der Kirche wahrgenommen und in das kirchliche Handeln einbezogen werden (s. Kap. 4).
Die Bibel beschreibt im Alten und Neuen Testament das familiale Zusammenleben in einer großen Vielfalt. Das historisch bedingte Ideal der bürgerlichen Familie kann daher biblisch nicht als einzig mögliche Lebensform begründet werden. Die evangelische Kirche würdigt die Ehe als besondere Stütze und Hilfe, die sich auf Verlässlichkeit, wechselseitige Anerkennung und Liebe gründet. Gleichzeitig ist sie gehalten, andere an Gerechtigkeit orientierte Familienkonstellationen sowie das fürsorgliche Miteinander von Familien und Partnerschaften - selbst in ihrem Scheitern - zu stärken, aufzufangen und in den kirchlichen Segen einzuschließen. Wo sich Menschen in entscheidenden Lebenssituationen unter den Segen Gottes stellen wollen, sollte sich die evangelische Kirche auch aus theologischen Gründen nicht verweigern, wie auch die Diskussion in den einzelnen Landeskirchen zeigt (s. Kap. 5).
Angesichts von Verunsicherungen und Umbrüchen im gesellschaftlichen und kulturellen Wandel sind Kirche und Diakonie in besonderer Weise herausgefordert, in öffentlichen Debatten Stellung zu den brennendsten Fragen der Familien- und Sozialpolitik zu beziehen sowie in ihrer gemeindlichen und diakonischen Praxis Orientierung zu geben. Sie werden die Lebenswirklichkeit der Familien nur treffen, wenn sie informiert und anteilnehmend auch auf die Menschen zugehen, die der Kirche fernstehen oder sich in ihr nicht vertreten wissen. Dabei steht der Kirche als Institution und als zivilgesellschaftlicher Akteur, in ihren vielfältigen Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, in diakonischen Diensten, Verbänden und Gremien sowie in den Gemeinden ein breites Feld der Verkündigung und sozialer Praxis zu Gebote. In allen diesen Feldern kann sie für ein grundsätzliches Umdenken in Familienfragen, die Neubewertung von Erwerbs- und Sorgearbeit eintreten und aus evangelischer Sicht für ein neues Verhältnis von Wachstum und Wohlfahrt und für andere Prioritäten in der Sozialpolitik werben (s. Kap. 6).
Grundsätzlich gilt es, Menschen zu unterstützen, die für andere sorgen, sie betreuen, erziehen und pflegen und dabei ihre beruflichen Chancen zurückstellen. Wichtig für die Zukunft ist die gesellschaftliche Neubewertung dieser fürsorglichen Tätigkeiten im Verhältnis zur Erwerbsarbeit. Dazu bedarf es vor allem einer gerechteren Verteilung der Haus-, Sorge- und Pflegearbeit zwischen Männern und Frauen. Eine an Gerechtigkeit orientierte Familie zu unterstützen ist aber nicht allein die Aufgabe staatlicher Institutionen, sondern erfordert ein neues Miteinander zwischen den Geschlechtern und zwischen denen, die private und öffentliche Verantwortung für die Erziehungs- und Sorgetätigkeiten tragen. Mitarbeitende in Kirchengemeinden und Diakonie mit ihrem spezifischen Zugang zu Familien, ihren Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, nicht zuletzt die ehrenamtlich Engagierten haben die besondere Chance, Leitbildfunktionen zu übernehmen und ihr soziales Handeln an einem Ethos fürsorglicher Praxis auszurichten (s. Kap. 6.2).
Die partnerschaftliche Familie als Modell der Zukunft braucht neue Formen gesellschaftlicher, rechtlicher und sozialpolitischer Unterstützung für ihre Erziehungs- und Sorgearbeit. Dies betrifft insbesondere die Leistungen von Frauen, die (zeitweise) überwiegend Familienaufgaben oder ehrenamtliche Arbeit in Kirchengemeinden übernehmen. Dazu gehören nicht nur familienfreundliche Arbeitszeiten für Männer und Frauen, sondern auch die steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Förderung von Familien- und Pflegezeiten, die Einbußen bei der Reduzierung von Arbeitszeit zugunsten von Erziehungs- und Pflegeaufgaben ausgleichen. Als Arbeitgeberin ist auch die Kirche gefordert, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu unterstützen, die Vielfalt der Familienformen bei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anzuerkennen und die Tarif- und Arbeitsbedingungen, Versorgungsansprüche und Infrastruktur der Rechtslage entsprechend anzupassen (s. Kap. 6.2 und Kap. 7 u. 8).
Eine grundlegende Bedingung für das Gelingen von Familie ist der konsequente und qualifizierte Ausbau einer familienunterstützenden Infrastruktur von den Krippen bis zu Ganztagsschulen, zu der Kirche und Diakonie bisher schon einen wichtigen Beitrag leisten. Die kirchlich-diakonische Trägerschaft von Tageseinrichtungen für Kinder und Einrichtungen für Pflegebedürftige ist eine zentrale Aufgabe kirchlicher Familienpolitik. Aus den aktuellen Ausbauprogrammen für Kitas dürfen sich Kirchengemeinden und Diakonie nicht zurückziehen; vielmehr sollten sie weiterhin auf die pädagogische Qualität ihrer Angebote achten. Die Verbesserung der Bildungschancen und mehr Bildungsgerechtigkeit setzen bedarfsgerechte Angebote der frühkindlichen Erziehung voraus - das betrifft insbesondere die Öffnungszeiten, Gruppengrößen und pädagogische Qualität - sowie eine Förderung der Familienbildungsstätten, den Ausbau der Familienzentren sowie Angebote von Dorf- und Familienhilfe. Der Ausbau der Infrastruktur bedeutet nicht, Familien aus ihrer Verantwortung zu entlassen, sie bleiben die wichtigsten Orte für das umsorgte und gedeihliche Heranwachsen der Kinder und für die Einübung in gesellschaftlicher Solidarität. Tageseinrichtungen und Schulen, aber auch Kirchengemeinden müssen ihre Zusammenarbeit mit Familien aber im Sinne einer Erziehungspartnerschaft weiterentwickeln. Insgesamt ist die Kooperation formaler Bildungsträger wie der Schulen mit Bildungsangeboten in Jugendarbeit, Sportvereinen und Kirchengemeinden weiter auszubauen (s. Kap. 6.3).
Der Ausbau von Tageseinrichtungen und Ganztagsschulen, von Familienbildungs- und Beratungsangeboten, von Pflegediensten und haushaltsnahen Dienstleistungen kann nur gelingen, wenn die Attraktivität der sozialen Berufe in Erziehung, Beratung und Pflege auch für Männer steigt. Schon jetzt ist ein Fachkräftemangel in Erziehungs- und Pflegeberufen zu beklagen, der sich in den nächsten Jahren noch erheblich verschärfen wird. Die „klassischen Frauenberufe“ leiden noch immer unter zu geringer Bezahlung, mangelnder Durchlässigkeit und geringen Aufstiegschancen und sind zudem häufig durch Schichtarbeit belastet. Angesichts der Akademisierung und Professionalisierung der Erziehungs- und Pflegeberufe im europäischen Kontext und angesichts des wachsenden Wettbewerbs auf dem Sozial- und Gesundheitsmarkt müssen sich auch Kirche und Diakonie als Trägerinnen von Schulen, Einrichtungen und Diensten für angemessene Tarife, familienfreundliche Arbeitsbedingungen und verbesserte Aufstiegsmöglichkeiten in diesem Feld einsetzen (s. Kap. 6.3 u. 6.5).
Die Verankerung von Frauen- und Kinderrechten ist eine Errungenschaft für das familiale Zusammenleben. Von besonderer Bedeutung sind die Rechte der Kinder, die seit 1989 in der UN-Konvention für Kinderrechte durch völkerrechtliche Vereinbarungen zum Wohl des Kindes festgelegt sind und die Veränderungen im deutschen Familienrecht leiten. In einer individualisierten und demokratischen Gesellschaft kann Gemeinschaft nur gelingen, wenn die Bedürfnisse der Schwächeren und Benachteiligten zur Richtschnur sozialen Handelns werden. Das Erziehungsrecht der Eltern, zu deren Verantwortung auch die religiöse Erziehung gehört, muss deshalb so wahrgenommen werden, dass Kinder in einem Raum der Geborgenheit und Zuwendung aufwachsen können, geschützt vor Gewalt und Missbrauch.
Kindergottesdienste und Kinderbibeltage bzw. -wochen, Kinder-, Jugendarbeit und Konfimandenarbeit, aber auch Schulgottesdienste und Projektwochen gewinnen zunehmend an Bedeutung für die religiöse Sozialisation und das Kennenlernen von Gemeinde und Gottesdienst. Angesichts der Säkularisierung, wachsender Mobilität und vielfältiger Zeitrhythmen von Familien wird es dabei immer wichtiger, Angebote zu entwickeln, die in herausgehobenen Zeiten erfahrungs- und projektorientiertes Lernen ermöglichen. Auch hier geht es darum, familiäre Erziehung und Bildung zu ergänzen, Kindern und Jugendlichen biblische Traditionen zu erschließen und ihnen neue Zugänge zu Gebeten und kirchlichen Festzeiten zu ermöglichen. Die Begleitung von jugendlichen und erwachsenen Teamern, die ihren Glauben und ihr Christsein ins Gespräch bringen, aber auch eine offene und sensible Zusammenarbeit mit Familien und Elternhäusern muss dabei genauso selbstverständlich sein wie die Erziehungspartnerschaft in Tageseinrichtungen oder Schulen (s. Kap. 6.3).
Angesichts der Zunahme bikultureller Familien mit unterschiedlichen religiösen Herkunftstraditionen müssen sich auch Religionsunterricht, Tageseinrichtungen und kirchliche Kinder- und Jugendarbeit darauf einstellen, dass Menschen in Zukunft die Entscheidung für ihre eigene Religion bewusst in Kenntnis und im Dialog mit anderen Religionen treffen. Kirchliche Einrichtungen stehen vor der Herausforderung, die christlichen Feste und Traditionen zu gestalten und sich gleichzeitig für neue zu öffnen, ohne beliebig und austauschbar zu werden. Darüber hinaus besteht die Herausforderung, auch Kasualien wie den Segen anlässlich einer Eheschließung oder die Bestattung so zu gestalten, dass Menschen unterschiedlichen Glaubens daran teilnehmen können (s. Kap. 6.7).
Eine große sozialpolitische Herausforderung stellt die zunehmende soziale Ungleichheit dar, die den sozialen Zusammenhalt gefährdet und den Grundprinzipien der Gerechtigkeit widerspricht. Dabei geht es nicht nur um die zunehmenden sozialen Unterschiede zwischen Familien in prekären Lebenslagen und in Armut einerseits und wohlhabenden Familien andererseits, sondern insbesondere um die soziale Schieflage zwischen Menschen, die alltäglich die Sorge für andere übernehmen, Kinder erziehen und Angehörige pflegen, und anderen, die ihre Zeit und Energie in die Erwerbsarbeit investieren können. Der Arbeitsmarkt fordert zunehmende Flexibilität und Mobilität und nimmt auf Sorgeverpflichtungen zu wenig Rücksicht. Darüber hinaus ist es wichtig, für existenzsichernde Entgelte für die Einzelnen zu sorgen und eine armutsfeste Grundversorgung für Familien sicherzustellen, die Eltern und ihre Kinder aus Armutslagen herausbringt und gerechte Teilhabe ermöglicht (s. Kap. 6.8).
Wesentliche sozialpolitische Aufgabe ist es darüber hinaus, für familienfreundliche Lebensräume zu sorgen. Familien brauchen in städtischen und ländlichen Räumen ein kulturell vitales Gemeinwesen und verlässliche soziale Unterstützung. Hierfür braucht es familienorientierte Stadt- und Quartiersförderung. Eine verstärkte Zusammenarbeit von diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinden kann zur Verbesserung der Angebote für Familien beitragen. Tageseinrichtungen für Kinder und Mutter-Kind-Gruppen der Kirchengemeinden, Familienbildungsstätten mit ihren Patenprogrammen, Ehe-, Lebens- und Familienberatungsstellen und Kirchengemeinden mit ihren Angeboten rund um die Taufe müssen so miteinander kooperieren, dass Netzwerke entstehen, in denen aktive Gemeindemitglieder wie auch kirchenferne Menschen Unterstützung für Familie und Erziehung, Hilfe in Alltagsbelastungen und Krisensituationen oder Angebote zur religiösen Erziehung finden. Eine stillschweigende Zuordnung, nach der die Diakonie vor allem für Familien in Problemlagen zuständig ist, während Gemeinden vor allem „normale“ Mittelschichtfamilien ansprechen, ist zu vermeiden. So ist es zum Beispiel notwendig, Familien in Armutslagen oder Familien mit Pflegeaufgaben stärker als Gemeindemitglieder und weniger als ausschließliche Adressaten diakonischer Dienste zu sehen (s. Kap. 8).
Familien erfahren Unterstützung durch die Einbindung von sozialen Großeltern, Tanten, Paten oder Mentoren. In Paten- und Großelternprogrammen, bei Väter-Kind-Tagen und Familienfreizeiten, bei Kindertafeln und Hausaufgabenangeboten hat sich bereits ein breites Feld ehrenamtlichen und bürgerschaftlichen Engagements entwickelt. In vielen Kirchengemeinden mit Kinder- und Familiengottesdiensten, Kinder- und Jugendgruppen ist diese Tradition selbstverständlich. Bei der Förderung von ehrenamtlichem und bürgerschaftlichem Engagement z.B. bei Ehrenamtsbörsen und Freiwilligenagenturen sowie für die Qualifizierung in Ehrenamtsakademien und im Freiwilligenmanagement ist die Zusammenarbeit zwischen Kirchengemeinden und diakonischen Trägern wichtig. Schließlich geht es um die Anerkennung und Unterstützung ehrenamtlicher Dienste, nicht zuletzt durch Anleitung, Begleitung und Supervision durch Fachkräfte. Die Entwicklung einer neuen Engagement-Kultur in Kirche und Diakonie ist deshalb kein „Sparmodell“ und kein „Ersatz“ für Hauptamtliche; vielmehr sind Menschen für zivilgesellschaftliches Engagement zu gewinnen, das gleichzeitig zur Entwicklung einer aktiven Gemeinde- und Gemeinwesenarbeit beiträgt (s. Kap. 6.4 u. 8).
Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirche, sowohl Haupt- als auch Ehrenamtliche in Gemeinde, Tageseinrichtungen, Schulen, diakonischen Diensten und Verbänden, müssen in der Lage sein, mit Verdachtsfällen von Gewalt in der Familie oder in Einrichtungen umzugehen. Sie brauchen Fortbildungsangebote, um Betroffene zum Sprechen zu ermutigen und fachliche Hilfe vermitteln zu können. Darüber hinaus müssen Kirche und Diakonie eigene Beratungseinrichtungen erhalten und ausbauen, die Hilfen zur Erziehung, Beistand für die Arbeit der Frauenhäuser bis zu Präventionsmaßnahmen gegen sexuellen Missbrauch und Unterstützungsangeboten für pflegende Angehörige vorhalten (s. Kap. 6.6).
Familien müssen immer wieder eine neue Balance finden, wenn es darum geht, Gemeinschaft in christlicher Freiheit zu gestalten. Evangelische Theologie und Kirche sind aus ihrer biblischen Tradition heraus gefragt, zur Orientierung auf ein Menschenbild beizutragen, das Menschen jenseits von Leistungsanforderungen wertschätzt und annimmt. Das betrifft vor allem Fragen des Umgangs mit Zeit, mit Arbeit und Konsum, mit kulturellen und religiösen Unterschieden sowie die Gestaltung von Kasualien.
Die Kirche muss sich dafür einsetzen, die grenzenlosen Zeiterfordernisse moderner Ökonomien zu beschränken und einen Rhythmus für Arbeit und Muße zu finden. Der Sonntag als Tag für gemeinsame Zeit in Familien, Vereinen und Gemeinden mit Verfassungsrang ist weiterhin auf rechtlichen, aber auch auf gesellschaftlichen Schutz von Unternehmen, Ländern und Kommunen angewiesen. Das Gleiche gilt für die christlichen Fest- und Feiertage. Politik wie Unternehmen sind gefordert, auf Familienzeiten, Sonn- und Feiertage Rücksicht zu nehmen und die Arbeitszeiten den Familienbedingungen entsprechend familienfreundlich zu gestalten. Dazu sollten sich Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen an lokalen Bündnissen für Familie beteiligen und z.B. an der Entwicklung familiengerechter Zeitstrukturen auf lokaler Ebene mitwirken (s. Kap. 6.1).
Aus den aufgezeigten Veränderungen resultieren neue Anforderungen für alle, die Verantwortung in der Gemeinde übernehmen, die planen und gestalten. Menschen brauchen seelsorgliche und spirituelle Angebote im Umgang mit Krisen und Übergängen des Lebens. Notwendig sind eine sensible und situationsbezogene Gestaltung von Kasualien und die konsequente Öffnung der Gemeindeangebote für Menschen in unterschiedlichen Lebensformen, das gilt auch für Alleinstehende, die soziale Anbindung z.B. in Freizeiten, Begegnungen oder als Begleiter und Begleiterinnen von Kindern und Jugendlichen suchen.
Einzelne Landeskirchen unterstützen diese Neuorientierung, indem sie Gemeinden und diakonische Einrichtungen auszeichnen, die Zeit und Energie investieren, um der Pluralität der Familienformen und Lebensstile gerecht zu werden. Ein Siegel „familienkompetente Gemeinde“ könnte auch EKD-weit Gemeinden motivieren, die Ressourcen in der eigenen Gemeinde in ihrer Breite und Vielfältigkeit zu erfassen und daraus Schlüsse für die Praxis zu ziehen (s. Kap. 8).