5. Theologische Orientierung

Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familialen Zusammenlebens bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und damit Orientierung geben. Ein normatives Verständnis der Ehe als „göttliche Stiftung“ und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus der Schöpfungsordnung entspricht nicht der Breite des biblischen Zeugnisses. Wohl aber kommt bereits in der Schöpfungsgeschichte zum Ausdruck, dass Menschen auf ein Gegenüber angewiesen sind, an dem sich die eigene Identität entwickelt. In diesem Sinne ist die Ehe eine gute Gabe Gottes, die aber, wie das Neue Testament zeigt, nicht als einzige Lebensform gelten kann. Die den Kindern Gottes zugesagte gleiche Würde jeder und jedes Einzelnen jenseits von Geschlecht und Herkommen und die erfahrbare Gemeinschaft in Christus in all ihrer Unterschiedlichkeit fordert die vorfindlichen Ordnungen immer neu heraus. Deswegen versteht die Reformation die Ehe als „weltlich Ding“; sie ist kein Sakrament, sondern eine Gemeinschaft, die unter dem Segen Gottes steht. Ihre Aufgabe besteht in der Bewahrung und Weitergabe des Lebens in den vielfältigen Formen der Sorge für andere über die Generationen hinweg. Die kirchlichen Segenshandlungen sind ein Zeichen für liebevolle Zuwendung, für Kontinuität und immer neue Aufbrüche im Bund Gottes mit seinem Volk und damit eine Ermutigung, in allen Veränderungen einen gemeinsamen Weg zu wagen. Angesichts von Brüchen und Versagen sind sie zugleich Ausdruck der Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade. Protestantische Theologie unterstützt das Leitbild der an Gerechtigkeit orientierten Familie, die in verlässlicher und verbindlicher Partnerschaft verantwortlich gelebt wird.

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„Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und er schuf sie als Mann und Frau.“ Mit diesen Worten aus dem zweiten Schöpfungsbericht beginnt die Textzusammenstellung, die evangelischen und katholischen Christen hierzulande aus der Trauliturgie vertraut ist. Am Ende steht dann das bekannte Jesuswort aus Matth 19,6: „Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden“: Mit der Agende erinnert die Kirche in jedem Traugottesdienst an das große Glück, einen Partner oder eine Partnerin fürs Leben zu finden und gemeinsam eine Familie zu gründen, und an die Bedeutung von Treue, Geduld und Vergebungsbereitschaft für die Liebe. Füreinander geschaffen zu sein und „auf ewig“ zueinander zu gehören, das entspricht dem Lebensgefühl der Paare bei ihrer Hochzeit; gegen alle Erfahrung zerbrechender Beziehungen, von Kinderlosigkeit und Auseinanderleben sind die Worte der Trauagende wie ein Schutzwall für Treue und Beständigkeit. Der „kirchliche Segen“, den die Paare und ihre Familien erbitten, soll die Liebe stark machen. Dabei wird ernst genommen, dass es in der Ehe keine Garantie für menschliches Glück gibt, vielmehr gilt das Trauversprechen gerade „in guten wie in bösen Tagen“. Denn „es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“. Über der inneren Zustimmung zu dieser Erfahrung kann in den Hintergrund treten, was uns heute in diesen Texten fremd ist, etwa dass das Schöpfungsgeschehen vom Mann her gedacht ist, die Frau als „Gefährtin“ des Mannes verstanden wird, als „Hilfe, die ihm gleich sei“ - oder dass das Paar einander, vor allem aber die Frauen ihren Ehemännern „untertan sein sollen“, weil „der Mann des Weibes Haupt“ sei (Eph 5).

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Diese Worte von der „Stiftung und Ordnung des Ehestandes“, wie es in älteren Agenden hieß, haben das Bild der christlichen Ehe und darüber hinaus die gesellschaftlichen Normvorstellungen entscheidend geprägt. Nicht erst seitdem das Zerrüttungsprinzip im Ehe- und Familienrecht eingeführt wurde, haben Generationen von Paaren sich aus Anlass ihrer kirchlichen Trauung mit der Frage auseinandergesetzt, ob sie einander tatsächlich Treue für ein ganzes Leben versprechen könnten - „bis dass der Tod euch scheidet“: Umgekehrt hat sich auch die evangelische Kirche lange schwergetan, wieder verheiratete Geschiedene zu trauen. Die enge Verbindung von Ehe und Familie, wie sie auch die Auslegung des Grundgesetzes lange Zeit leitete, wird in der Trauagende biblisch begründet.

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Dabei konnte leicht übersehen werden, dass die Bibel im Alten und Neuen Testament das familiale Zusammenleben in einer großen Vielfalt beschreibt: Nach heutigen Begriffen gibt es Patchwork-Konstellationen wie bei Abraham, Sarah und Hagar mit ihren Kindern, zusammenlebende Geschwister wie bei Maria und Martha und tragende Beziehungen zwischen Familienmitgliedern verschiedener Generationen wie bei Rut, Orpa und Noomi. Von den vielfältig beschriebenen Formen des Zusammenlebens sind aus heutiger Sicht einige leichter, andere schwerer nachvollziehbar: Die gleichzeitige Sorge eines Mannes für zwei Frauen und ihre Kinder wie bei Jakob mit Lea und Rahel erscheint heute vielleicht weniger befremdlich als noch unserer Eltern- oder Großeltern-Generation, dagegen können wir den Druck auf Frauen, Mutter eines „Stammhalters“ zu werden, immer weniger nachvollziehen. Dass im alten Israel mit der Heirat ein patriarchales Eigentumsverhältnis konstitutiert wurde, wobei mehrere Frauen Eigentum eines Mannes sein konnten, gehört zu den vergessenen Teilen der jüdisch-christlichen Geschichte; manches davon kehrt wieder in den Auseinandersetzungen mit anderen Kulturen und Religionen. Klar ist jedenfalls: Im Mittelpunkt der biblischen Familiengeschichten steht weniger die persönliche Liebesbeziehung oder das individuelle Glück als der Erhalt und das Wachstum der Familie und ihres Besitzes und das Miteinander der Generationen.

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Dabei beschreiben die biblischen Erzählungen nicht selten Probleme und Spannungsfelder, die auch uns vertraut sind: Konflikte zwischen Alten und Jungen, Streit zwischen Geschwistern, das Ringen um einen geliebten Menschen. In den Erzählungen finden wir die ganze Vielfalt der Gefühle des partnerschaftlichen und familiären Beziehungslebens: Erfahrungen von Verlust, Eifersucht und Scheitern stehen neben Versöhnung, überschäumendem Glück und tief gewachsenem Vertrauen. Die Bibel erzählt von der Freude über die gefundene Liebe wie bei Isaak und Rebekka und von der großen Liebe zwischen Jakob und Rahel, für die Jakob sieben Jahre bei seinem Verwandten Laban arbeitete - „und es kam ihm vor, als wären es einzelne Tage, so lieb hatte er sie“. Das „Hohelied“ feiert in poetischen Worten die Schönheit und das Glück der sexuellen Begegnung, während die Geschichte von David und Bathseba auch Ehebruch und Intrige beim Namen nennt. Die Bibel erzählt von der Kindersegnung Jesu und der Sorge von Eltern, die sich bei Jesus um eine Zukunft für ihre kranken Kinder einsetzen, aber auch von der Macht der Väter und dem Gehorsam, den Familien den Frauen wie den Söhnen und Töchtern abverlangten. Wer sie liest, entdeckt große Familien- und Liebesgeschichten, die nicht nur die Weltliteratur, sondern auch unser Verständnis vom Miteinander in Familien prägten. Sie zeugen aber auch von kulturellen Traditionen, gesellschaftlichen Zwängen und einem überholten Rollenverständnis.

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Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familiären Zusammenlebens, bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und welche Orientierung sie damit geben. Über lange Zeit hat die Kirche (nicht nur mit ihren Trauagenden) eine Vorstellung der Ehe als Schöpfungsordnung vermittelt, die der Natur des Menschen eingeschrieben sei. Damit begründete man auch die über lange historische Zeiträume geltende Geschlechter-Hierarchie, die sich in den biblischen Schöpfungsberichten spiegelt. Entsprechend prägte die Vorstellung des Familienvaters als Oberhaupt der Familie auch die Rechtssetzung. Einige biblische Texte übertragen die Gottesbeziehung zu seinem Volk, die Macht des Gottvaters gegenüber seiner Schöpfung oder das Verhältnis von Christus zur Kirche auf die Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Dominanz des Mannes, die sich darin abbildet, erschien lange selbstverständlich. Das Besondere an diesen Texten ist aber, dass sie von einer großen, geradezu eifersüchtigen Liebe erzählen, wie die Propheten es tun, und - wie die Pastoralbriefe - die fürsorgliche Zuwendung zu Frauen und Kindern in den Mittelpunkt rücken.

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Auch für die Reformatoren war Ehe und Familie vor allem durch die göttliche Liebe geprägt. Für sie war die Ehe aber auch eine soziale Gemeinschaft, die in der größeren Gemeinschaft der Gläubigen aufgeht und von ihr getragen wird. Dabei wurde beiden Geschlechtern eine je eigene Bedeutung zugewiesen: Mit der von Luther geprägten Vorstellung vom Beruf als innerweltlichem Gottesdienst wurde auch die Mutterschaft neu interpretiert: Die Rolle der Hausfrau, Mutter und Gattin als Mittelpunkt der Familie wurde für Jahrhunderte prägend und spiegelt sich bis heute in den Konzepten von Familien- und Sozialpolitik. Mit dieser Vorstellung von Mutterschaft als Beruf ging nicht nur die Aufteilung von Geschlechterrollen, sondern auch die Erfindung von Kindheit als eigenständiger Lebensphase einher. Sie hat sich seit dem 18. Jahrhundert immer deutlicher entwickelt und wurde mit dem spezifisch weiblichen Erziehungsauftrag verknüpft, hinter dem die Überzeugung von einer besonderen Qualität der „Mutterliebe“ stand, die bis heute eine große Rolle spielt. Dabei wird die „natürliche“ Bindung der Mütter an ihre Kinder ebenso hervorgehoben wie die besondere Begabung von Frauen zu Erziehung und Pflege. Vor diesem Hintergrund entstand das Ideal der bürgerlichen Familie als Raum der Liebe und Fürsorge, dessen hierarchische Geschlechterordnung allerdings spätestens mit den Emanzipationsbewegungen des 19. Jahrhunderts erheblich in die Kritik geriet. Angesichts starrer Geschlechterrollen und Moralkonzepte fehlte es vor allem Frauen an eigenen Entfaltungsmöglichkeiten. Heute wissen wir: Ein Verständnis der bürgerlichen Ehe als „göttliche Stiftung“ und der vorfindlichen Geschlechter-Hierarchie als Schöpfungsordnung entspricht weder der Breite biblischer Tradition noch dem befreienden Handeln Jesu, wie es die Evangelien zeigen.

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In den Texten des Neues Testaments wird deutlich: Das Miteinander in Ehe und Familie ist wichtig, ist aber nicht die einzig mögliche Lebensform. Das Leben Jesu selbst ist voller eindrücklicher Beispiele für diese Überzeugung: Im Licht der baldigen Erwartung des künftigen Gottesreiches entscheidet er sich für ein eheloses Leben und ruft seine Jüngerinnen und Jünger auf, ihre Familien zurückzulassen, um mit ihm zu gehen (u. a. Mk 1,19). In dieses Bild passt auch die schroffe Zurückweisung, mit der Jesus seinen Eltern schon als Junge im Tempel (Lk 2,48-50), dann später noch einmal seiner Mutter und den eigenen Brüdern begegnet (Lk 8,19-21). Auch wenn es den Erwartungen eines exklusiven Verhältnisses von Eltern und Kindern, Geschwistern und Familien widerspricht, lässt sich daran ablesen, dass wir jenseits der engeren ehelichen und familiären Beziehungen in einer größeren Gemeinschaft, der Gemeinschaft in Gott, leben. Diese Überschreitungen familiärer Exklusivität gewinnen in der Geschichte der Kirche immer wieder neu Gestalt: in der Geschwisterlichkeit von Gemeinden, der Familiaritas von Klöstern, dem Aufbau ganz neuer Lebensgemeinschaften oder dem Patenamt, das keinesfalls nur nach dem Tod der Eltern Bedeutung gewann, wie viele meinen, sondern den biologischen Eltern eine soziale und geistliche Elternschaft zur Seite stellte, um Kinder in die Familie Gottes einzuführen.

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Dieser Zugehörigkeit zur Familie Gottes und der Nachfolge Jesu gebührt im Neuen Testament letztlich der Vorrang. Auch der Apostel Paulus will dieser Vorstellung mit seinem eigenen ehelosen Leben Ausdruck verleihen. Vor allem aber unterstützt er sie durch die Botschaften seiner Briefe: Im Bewusstsein ihrer Zugehörigkeit zu Gott, von ihrer Gotteskindschaft her, sollen Menschen das Leben gestalten (Röm 8,14ff.). Und in der Gemeinde wird diskutiert, ob Frauen oder Männer, die Christen geworden sind, ihre heidnischen Ehepartner besser verlassen. Dagegen allerdings spricht Paulus sich aus, weil Christen auch ihre heidnischen Partner „heiligen“ können. Gegen die Vorstellung von einem asketischen Leben als christlichem Ideal, das vor allem das klösterliche Leben und die Schriften der Kirchenväter prägte, setzte sich in der jungen Kirche recht schnell wieder das Leben in Familienverbünden als vorwiegende Lebensform christlicher Gemeinschaften durch (1. Tim 3,2ff.). Gleichwohl blieb im Bewusstsein, dass Reden und Handeln auf eine letzte Wirklichkeit Gottes verweisen, die über das „Heiraten“ und „Verheiratet-Werden“ hinaus geht, und dass wir vor Gott weder auf unser Mann- oder Frausein noch auf unsere soziale Stellung festgelegt sind. Mit der Entdeckung der Rechtfertigung und Gleichheit aller „Kinder Gottes“ (Gal 3,26-28) gewannen Christinnen und Christen die Freiheit, die Schicksalhaftigkeit familiärer und sozialer Bindungen aufzulösen, den eigenen Lebensentwurf zu gestalten, der eigenen Berufung zu folgen und sich aus eigener Entscheidung in neue Bindungen zu stellen. So festigt Jesus selbst noch in seinem Sterben jenseits der bestehenden familiären Bindungen eine neue fürsorgliche Beziehung - zwischen seinem „Lieblingsjünger“ und seiner Mutter Maria: „Mutter, das ist dein Sohn.“

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Menschsein gestaltet sich von Anfang an bis zum Ende in Beziehungen, wir werden am Du erst zum Ich und bleiben aufeinander angewiesen. Freiheit und verantwortliche Bindung als Gegensatz zu verstehen wäre deshalb völlig verfehlt. So ruft Jesus zwar Männer und Frauen aus ihren familiären Beziehungen in die Nachfolgegemeinschaft, betont aber zugleich mit dem Scheidungsverbot die Verantwortung der Ehepartner füreinander - vor allem wohl die der Ehemänner für ihre Frauen, die auf männlichen Schutz angewiesen waren, da sie keine eigenen Rechte hatten. Eine solche ökonomische Abhängigkeit und Schutzlosigkeit erleben Frauen in den westlichen Gesellschaften nicht mehr; nur an der Situation von Kindern während einer Scheidung kann noch etwas davon spürbar werden. Im Streit um Unterhaltspflichten und elterliche Sorge zeigt sich die prekäre Situation von Kindern und Jugendlichen, die noch nicht auf eigenen Füßen stehen und deshalb Zuwendung und Stabilität brauchen. Das Scheidungsverbot Jesu erinnert die Paare und Eltern an ihre Verantwortlichkeit und macht Kirche und Gesellschaft deutlich, dass Verlässlichkeit für jede Gemeinschaft konstitutiv sind, weil sie die Schwächeren schützen und damit erst den Spielraum für Freiheit und Entwicklung eröffnen.

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Auch die Texte der Schöpfungsgeschichte erzählen davon, dass jeder Mensch Familie hat und somit - nach Gottes Willen - in eine gemeinschaftliche Lebensgestalt hineingeboren wird. Zugleich erinnern sie daran, dass der Mensch auf ein Gegenüber angewiesen ist, wie es in neueren Übersetzungen heißt, auf „eine Hilfe, die ihm gleich sei“, einen Menschen auf Augenhöhe, der spannungsreich anders, aber doch ebenbürtig ist. Im Glück sexueller Begegnung „erkennen“ Menschen im Partner oder der Partnerin den anderen wie sich selbst, in der körperlichen Hingabe erleben wir ganz unmittelbar Verschmelzung und Angewiesensein; der andere ist „Fleisch von meinem Fleisch“, wie es im Schöpfungsbericht heißt. Das Angewiesensein auf andere macht uns also gerade nicht unfrei, sondern setzt erst viel von dem frei, was unsere Person ausmacht. Dazu gehört das Hineinwachsen in eine Familie und die Auseinandersetzung mit ihren kulturellen und religiösen Traditionen, aber auch die Liebe zu einem Menschen als dem ganz anderen, in dem wir die Gottesebenbildlichkeit entdecken. Erst in der Auseinandersetzung mit Eltern und Geschwistern und in der Erfahrung der Differenz zu einem Partner oder einer Partnerin finden wir unsere eigene Identität, erst in der Erfahrung der eigenen Unvollkommenheit und Angewiesenheit reifen wir zu erwachsenen Menschen. Dazu gehört auch die Offenheit für ein neues Leben und die Bereitschaft, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Die ersten Geschichten der Bibel stellen diesen immer auch gefährdeten Weg eines Paares, einer Familie unter den Schöpfungssegen Gottes und unter seinen Schutz. Das gilt auch nach dem so genannten „Sündenfall“, den wechselseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen, den Erfahrungen von Scham, Schmerz und Trennung, die auch die engste Gemeinschaft zu zerreißen drohen.

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Bei aller Hochschätzung als „göttlich Werk und Gebot“ erklärte Martin Luther die Ehe zum „weltlich Ding“, das von den Partnern gestaltbar ist und gestaltet werden muss. Dies kam liturgisch darin zum Ausdruck, dass nach Luthers Traubüchlein die Eheschließung vor der Kirchentür vollzogen wurde, sodass der anschließende Gottesdienst nicht mit dem Brautpaar, sondern mit dem Ehepaar gefeiert wurde. Die Ehe ist also für die evangelische Kirche kein Sakrament wie Taufe und Abendmahl; sie ist nicht von Jesus selbst eingesetzt und ist keine absolut gesetzte Ordnung, auch wenn wir uns ihre lebenslange Dauer wünschen. In einem Traugottesdienst feiern wir mit dem Paar, mit Freunden und Familien, dass die beiden „sich getraut“, sich den gemeinsamen Weg zugetraut und ihr Leben anvertraut haben, und bitten um Gottes Segen für diese Entscheidung und die gemeinsame Zukunft - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aus diesem evangelischen Verständnis erwächst eine große Freiheit im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen, die angesichts der Herausforderungen der eigenen Zeit immer wieder neu bedacht und oft auch erst errungen werden muss. Das zeigt sich im Umgang mit Scheidungen und Geschiedenen genauso wie mit Alleinerziehenden oder auch mit gleichgeschlechtlichen Paaren. Gesellschaftliche Emanzipationsprozesse haben die Ordnungen von Ehe und Familie ebenso verändert wie Geschlechterrollen, Beziehungen und Konventionen. Das geht nicht ohne Verunsicherungen und Auseinandersetzungen vor sich. Vielleicht ist auch deshalb der Wunsch, Liebe verbindlich und verantwortlich zu gestalten und den gemeinsamen Weg unter den Segen Gottes zu stellen, nach wie vor so stark.

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Die biblischen Texte lassen sich als eine Geschichte des Segenshandelns Gottes lesen. Beginnend mit dem Schöpfungssegen über das Zeichen des Regenbogens und die Verheißung von Zukunft nach der großen Flut bis zum Sinaibund mit Israel und weiter mit den Segenshandlungen Jesu wird Menschen immer wieder Gottes Liebe und Gnade zugesprochen, werden Neuanfänge auch in Krisensituationen ermöglicht. Dieses Segenshandeln Gottes kommt im kirchlichen Leben mehrfach zum Ausdruck: von der Taufe über Konfirmations- und Trausegen bis zur Aussegnung Verstorbener. So betrachtet, ist die Trauung ein Schritt auf einem gemeinsamen Weg - mit dem Versprechen, diesem Segens- und Versöhnungshandeln Gottes auch im menschlichen Miteinander zu entsprechen. Deshalb betont die EKD-Denkschrift von 1994, im Ja des Paares zueinander werde das Ja Gottes zum Menschen erfahrbar. Im Brennglas des besonderen Augenblicks wird deutlich: Es geht darum, auf dem gemeinsamen Weg für Gottes Wirklichkeit und Nähe offen zu bleiben, Veränderungsprozesse zu gestalten, Krisen zu bestehen, Neuanfänge zu wagen. Und es geht darum, einander zu verlässlichen Bündnispartnern und zum Segen zu werden.

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Die kirchlichen Segenshandlungen lassen sich aus evangelischer Sicht als Ausdruck der Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade - und eben nicht aufgrund bestimmter Leistungen - verstehen. Beim Segen geht es nicht nur um die Besiegelung des erfahrenen Glücks, sondern vielmehr und wesentlich um den wirkmächtigen Zuspruch von Zukunft. Segen ist das Versprechen der Begleitung und Nähe Gottes, die auch die nächste Generation und zukünftige Nachkommen mit einbezieht. Menschen können sich Liebe und Zukunft versprechen, weil sie selbst in der Erfahrung leben, von Gott gesegnet zu sein. Wird der Segen einem Paar zugesprochen, steht er als Zuspruch der bleibenden Gottesbeziehung über der Bindung dieser beiden. Dabei kann er zugleich als Zuspruch gegenüber überfordernden gesellschaftlichen Erwartungen gehört und geglaubt werden. In diesem Augenblick, in dem Gottes Wort hörbar wird und gemeinsam gebetet wird, in dem der Segen in der Handauflegung spürbar wird, kann deutlich werden, dass Gottes Zuwendung und Liebe als Kraftquelle stärker sind als menschliche Erwartungen und menschliches Versagen. Damit ist auch die Ermutigung verbunden, das gemeinsame Leben von der erfahrenen Liebe her zu gestalten und von Gottes Liebe umfangen zu lassen, was immer geschieht.

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Die Frage nach der Segnung homosexueller Paare und der Gleichstellung homosexueller Partnerschaften, die sich darin ausdrückt, bewegt die evangelische Kirche seit Langem und ist nach wie vor umstritten. Im Kern geht es bei diesem Thema um das evangelische Verständnis der kirchlichen Trauung angesichts neuer Lebensformen. Es geht aber auch um die Frage, wie biblische Texte - zum Beispiel der Schöpfungsbericht - auszulegen sind und welche Rolle dabei die historische und gesellschaftliche Einordnung spielt. Deutet man die biblischen Aussagen, in denen Homosexualität als Sünde gekennzeichnet wird (3. Mose 18,22; 20,13; Röm 1,26-27), als zeitlos gültig, kann man zu der Meinung kommen, eine homosexuelle Partnerschaft sei mit einer heterosexuellen keinesfalls vergleichbar. Allerdings gibt es auch biblische Texte, die von zärtlichen Beziehungen zwischen Männern sprechen. Fragt man jenseits dieser einzelnen Textstellen nach dem, was menschliche Beziehung in Gottes Schöpfung ausmacht, dann ist zu konstatieren: Der Mensch wird von Anfang an als Wesen beschrieben, das zur Gemeinschaft bestimmt ist (1. Mose 2,18). Durch das biblische Zeugnis hindurch klingt als „Grundton“ vor allem der Ruf nach einem verlässlichen, liebevollen und verantwortlichen Miteinander, nach einer Treue, die der Treue Gottes entspricht. Liest man die Bibel von dieser Grundüberzeugung her, dann sind gleichgeschlechtliche Partnerschaften, in denen sich Menschen zu einem verbindlichen und verantwortlichen Miteinander verpflichten, auch in theologischer Sicht als gleichwertig anzuerkennen. Nutzen homosexuelle Menschen heute die rechtliche Möglichkeit der eingetragenen Partnerschaft, dann erklären sie, wie heterosexuelle Menschen, bei der Eheschließung öffentlich ihren Willen, sich dauerhaft aneinander zu binden und füreinander Verantwortung zu tragen.

Manches heterosexuelle Paar entscheidet sich bewusst gegen Kinder oder bleibt aus anderen Gründen kinderlos und gestaltet seine Generationenbeziehungen dennoch schöpferisch und verantwortlich. Dass homosexuelle Paare gemeinsam keine Kinder zeugen können, kann deshalb kein Grund sein, ihnen den Segen zu verweigern. Tatsächlich leben viele homosexuelle Paare als Familie mit Kindern aus früheren Beziehungen oder mit Kindern, die durch eine Samenspende gezeugt wurden. Es zählt zu den Stärken des evangelischen Menschenbilds, dass es Menschen nicht auf biologische Merkmale reduziert, sondern ihre Identität und ihr Miteinander in vielfältiger Weise beschreibt. Hinter der Vielfalt, die wir in familiären und partnerschaftlichen Beziehungen erleben, stehen gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse. Die Erleichterung von Trennungen und Scheidungen, das Entstehen von Patchworkfamilien, homosexuellen Partnerschaften mit und ohne Kinder bringen offene Fragen mit sich. Zu den Veränderungsprozessen, mit denen Menschen persönlich konfrontiert sind, gehören neue Aufbrüche genauso wie Konflikte. Dass Menschen in solchen Situationen um Segen und Begleitung bitten, wenn der christliche Glaube in ihrem Leben eine Rolle spielt, ist verständlich und zu begrüßen. Die Diskussionsprozesse in einigen evangelischen Landeskirchen sind Ausdruck des geistlichen Ringens um das evangelische Verständnis von Familie und Partnerschaft angesichts des gesellschaftlichen Wandels und eines erweiterten Familienbegriffs auch im Recht.

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Liebe gilt als die intensivste persönliche und exklusive Beziehung zwischen zwei Menschen, und sie wird gerade in einer erfüllten sexuellen und erotischen Beziehung auch so erfahren. Das kann sich mit der Rechtsgestalt von Ehe und Familie reiben - sei es, dass die Ehe die Liebe erstickt, wie es vergangene Generationen angesichts der faktischen Unmöglichkeit, sich zu trennen, erfahren haben, oder sei es, weil Liebesbeziehungen sich in der Rechtsordnung nur unzureichend abbilden, wie es homosexuelle Paare immer noch erleben. Die letzten Jahrzehnte haben anschaulich gezeigt, wie sich das Recht unter gesellschaftlichen Veränderungen und dem Mentalitätswandel selbst verändert. Heute erscheinen die Institutionen Ehe und Familie nicht mehr als unveränderliche Ordnung, vielmehr sind sie eine Gestalt unseres Zusammenlebens, die Verbindlichkeit und Verlässlichkeit ermöglicht. Mit der zunehmenden Individualisierung und dem Strukturwandel der Familie in den letzten Jahrzehnten wurden die Rechte von Frauen und Kindern gestärkt. Diese Entwicklung ist jedoch nicht als Bedrohung oder Zerfall der Familie zu begreifen. Vielmehr geht es darum, die partnerschaftliche Familie zum Leitbild zu erheben und Chancengleichheit und Fairness innerhalb der Familie einen entscheidenden Wert beizumessen (Gerhard 2009). Denn die Erfahrung zeigt, dass Liebesbeziehungen, die auf der wechselseitigen Anerkennung als Partner mit gleichen Rechten und Pflichten beruhen, erst jene Stabilisierung bieten, die „die Ebbe und Flut der Zuneigung aushalten können“ (Kleingeld/Anderson 2008, 29). An Gerechtigkeit orientierte Familienkonzeptionen kritisieren ein Liebesideal, das auf „unfairen“ bzw. „ungleichen Chancen für die Einzelnen“ (Rawls 1979, 94 u. 555) beruht. Sie können sich dabei auf den Umgang Jesu mit rechtlosen Frauen und mit unmündigen Kindern berufen.

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Heute verstehen sich Menschen bei einer Eheschließung oder bei der Begründung einer Lebenspartnerschaft grundsätzlich als Gleiche, die mit dem Ehevertrag eine liebevolle und verlässliche Lebensbindung eingehen. Dabei steht das Recht nicht im Gegensatz zur Liebe, vielmehr ist Gerechtigkeit in der Liebe enthalten. „Liebe ohne Gerechtigkeit ist wie ein Körper ohne Rückgrat“, schreibt Paul Tillich (1956) in einem Aufsatz über die „Moral der Liebe“. „Die Gerechtigkeit in der Liebe macht es unmöglich, dass man im Namen der Liebe die Selbstzerstörung des anderen verlangt. Gerechtigkeit schützt (vielmehr) die Unabhängigkeit derer, die in einer Liebesbeziehung stehen.“ Mit der Freiheit moderner Menschen, ihr berufliches Leben unabhängig vom Herkommen zu gestalten und ihren Lebenspartner unabhängig von Konventionen zu wählen, wachsen allerdings auch die Erwartungen aneinander wie an das Gelingen des eigenen Lebens. Die Freiheit und Unabhängigkeit der Frauen und die erleichterte Möglichkeit für Paare, sich auch wieder zu trennen, kann dazu führen, dass die Partnerschaft immer wieder auf den Prüfstand gestellt wird - gerade dann, wenn die beruflichen oder familiären Lebensbedingungen sich verändern.

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Erwachsene haben meistens die Möglichkeit und zugleich die Pflicht, viele Entscheidungen für sich und andere zu treffen, für ihr Leben und Überleben zu sorgen. Kinder sind aber in vielerlei Hinsicht abhängig von ihren Eltern und der Familie. Ihnen auch in Trennungen und Scheidungen Verlässlichkeit und Heimat und in stabilen Beziehungen die nötige Freiheit zu geben, das gehört heute zu den größten Herausforderungen: Eltern, die ihre Kinder erzogen haben, müssen sie vielleicht auch noch stark unterstützen, wenn sie schon erwachsen sind. Paare sorgen sich um Pflegebedürftige in der Familie. Partner pflegen ihre erkrankten Frauen, junge Kinder kümmern sich um psychisch kranke Eltern. Für andere verantwortlich zu sein, aber auch auf andere angewiesen zu sein, kann Familienmitglieder überfordern. Aber mit wechselseitigem Vertrauen und in offen und konstruktiv ausgetragenen Konflikten können sich neue Perspektiven öffnen. Dazu braucht es aber gute Rahmenbedingungen und Unterstützung, Rat und Hilfe von Dritten und schließlich die Erfahrung und Hoffnung, auch spannungsreiche Situationen gemeinsam durchstehen und bestehen zu können.

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Die Evangelische Kirche in Deutschland würdigt die Rechtsform der Ehe als besondere „Stütze und Hilfe“: „Sie schafft und sichert dauerhaft und folgenhaft die durch ihren Öffentlichkeitscharakter dokumentierte wechselseitige Verantwortlichkeit und Verlässlichkeit, aber auch den Schutz des Schwächeren in der Partnerschaft.“ (EKD-Texte 101, 15). Menschen, die Kindern beim Aufwachsen zur Seite stehen, die kranke oder ältere Famlienmitglieder unterstützen, leisten zugleich einen wichtigen Dienst an der Gesellschaft. Familiäres Zusammenleben ist aber gefährdet, wenn wirtschaftlicher Druck, Zeitknappheit, kulturelle Normen keine Rücksicht auf diese so wichtige, oft aber auch asymmetrisch geteilte Verantwortung und Sorge füreinander nehmen. Deswegen ist es aus kirchlicher Sicht erforderlich, das fürsorgliche Miteinander von Familien zu stärken - das gilt im Blick auf Zeit für Erziehung und Pflege genauso wie im Blick auf sozialpolitische und steuerliche Aspekte der Familienförderung und die Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen. Dabei müssen heute alle Formen, Familie und Partnerschaft zu leben, berücksichtigt werden. Im Wandel der Lebensformen, der auch die Stärke von Familie ausmacht, bleiben die wechselseitigen Bindungen, die Familie konstituieren, auf gesellschaftliche und institutionelle Stützung angewiesen. Hier bieten neben Ehe und Elternschaft heute auch eingetragene Partnerschaften einen rechtlichen Anknüpfungspunkt. Wo sich Menschen in den ihre Beziehungen entscheidenden Lebenssituationen unter den Segen Gottes stellen wollen, sollte sich die Kirche deshalb auch aus theologischen Gründen nicht verweigern, denn „nach reformatorischem Verständnis sind die Aussagen der Bibel zum Zusammenleben der Menschen in ihrer Vielfalt zu beachten und an der Nähe zur Botschaft von der Versöhnung der Welt in Christus und der Rechtfertigung der Menschen bei Gott durch Jesus Christus zu messen“. (EKD-Texte 101, 13)

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

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