Orientierungshilfe

1. Zusammenfassende Thesen

Zwischen Autonomie und Angewiesenheit - Familienleben heute: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Bereits in den ersten Kapiteln der Bibel wird deutlich, dass Menschen zur Gemeinschaft bestimmt und auf Liebe, Fürsorge, Erziehung und Pflege angewiesen sind. Gleichzeitig gehört der Wunsch nach Erkenntnis, Entdeckung, nach Entwicklung und Eigenständigkeit konstitutiv zum Menschsein. In der Ambivalenz von Angewiesenheit und Autonomie wird Familienleben erfahren. Ehe, Partnerschaft, Verantwortung für Kinder, Pflegebedürftige und Kranke werden geprägt durch Bildungsprozesse, die Bedingungen des Erwerbslebens und die gesellschaftliche Gestaltung von Lebensrisiken. Um eine evangelische Verständigung über Ehe, Familie und Partnerschaft zu versuchen, geht es zunächst um eine Ortsbestimmung. Dabei fallen aktuelle Trends in Familienleben und Partnerschaftsverhalten auf: die spätere Familiengründung und der Rückgang von Eheschließungen, die Vervielfältigung von Familienformen, das Auseinanderdriften der sozialen Lebenslagen und die steigende Kinderarmut, schließlich gibt es mehr Familien mit Migrationshintergrund.

Familie und Ehe im Wandel: Eine breite Vielfalt von Familienformen ist, historisch betrachtet, der Normalfall. Die bürgerliche Familie als Ideal entwickelte sich erst im 18. Jahrhundert durch die Trennung von männlicher Erwerbswelt und weiblicher Familiensphäre mit Haushalt und Kindererziehung. Dieses Ideal setzte sich zunächst langsam und erst nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik als Lebensform für alle durch. Die DDR dagegen erhob die gleichberechtigte Ehe mit zwei in Vollzeit erwerbstätigen Eltern zum Leitbild und nahm dabei die Familie für die Erziehung der Kinder zur „sozialistischen Persönlichkeit“ gesetzlich in die Pflicht. In Westdeutschland zeigte sich nach der Einführung der verfassungsmäßig garantierten Gleichberechtigung eine wachsende Spannung zwischen der Gleichberechtigung der Frau und dem institutionellen Schutz von Ehe und Familie. Dabei war das Leitbild der bis 1977 gesetzlich geschützten so genannten Hausfrauenehe die Grundlage des Steuer- und Sozialversicherungsrechts. Die Hauptlast der Hausarbeit lag aber trotz der unterschiedlichen Ehe- und Familienkonzeptionen in beiden deutschen Staaten bei den Frauen, auch wenn es in der DDR quantitativ ausreichende Kinderbetreuung gab. Seit dem 19. Jahrhundert kritisierten die Frauenbewegungen die ungleiche Rechtsposition insbesondere der Mütter; damit haben sie schließlich wesentlich zum rechtlichen Wandel in Ehe und Familie beigetragen.

Verfassungsrechtliche Vorgaben und Leitbilder von Ehe und Familie: Die weitreichenden Änderungen im Familienrecht der letzten Jahre folgen einerseits dem Strukturwandel der Familie und tragen der neuen Vielfalt der Familienformen Rechnung, andererseits geben sie Regelungen vor, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorauseilen. Die nachhaltigste Veränderung ist die Anerkennung eines erweiterten Familienbegriffs, die nicht nur die traditionelle Kleinfamilie, sondern auch alternative Lebensformen unter den institutionellen Schutz des Art. 6 Grundgesetz stellt. Ausschlaggebend hierfür ist einerseits das Kindeswohl, andererseits die Gleichberechtigung aller Mitglieder der Familie, die nun neben Frauen auch Kinder einbezieht.

Theologische Orientierung: Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familialen Zusammenlebens bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und damit Orientierung geben. Ein normatives Verständnis der Ehe als „göttliche Stiftung“ und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus der Schöpfungsordnung entsprechen nicht der Breite des biblischen Zeugnisses. Wohl aber kommt bereits in der Schöpfungsgeschichte zum Ausdruck, dass Menschen auf ein Gegenüber angewiesen sind, an dem sich die eigene Identität entwickelt. In diesem Sinne ist die Ehe eine gute Gabe Gottes, die aber, wie das Neue Testament zeigt, nicht als einzige Lebensform gelten kann. Die den Kindern Gottes zugesagte gleiche Würde jeder und jedes Einzelnen jenseits von Geschlecht und Herkommen und die erfahrbare Gemeinschaft in Christus in all ihrer Unterschiedlichkeit fordert die vorfindlichen Ordnungen immer neu heraus. Deswegen versteht die Reformation die Ehe als „weltlich Ding“; sie ist kein Sakrament, sondern eine Gemeinschaft, die unter dem Segen Gottes steht. Ihre Aufgabe besteht in der Bewahrung und Weitergabe des Lebens in den vielfältigen Formen der Sorge für andere über die Generationen hinweg. Die kirchlichen Segenshandlungen sind ein Zeichen für liebevolle Zuwendung, für Kontinuität und immer neue Aufbrüche im Bund Gottes mit seinem Volk und damit eine Ermutigung, in allen Veränderungen einen gemeinsamen Weg zu wagen. Angesichts von Brüchen und Versagen sind sie zugleich Ausdruck der Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade. Protestantische Theologie unterstützt das Leitbild der an Gerechtigkeit orientierten Familie, die in verlässlicher und verbindlicher Partnerschaft verantwortlich gelebt wird.

Herausforderungen und Brennpunkte der Familienpolitik: Familien sind sinnstiftender Lebensraum und Orte verlässlicher Sorge. In Familien werden unverzichtbare Leistungen für Gesellschaft und Wirtschaft erbracht und sozialer Zusammenhalt gestiftet. Sie stehen nach wie vor an erster Stelle, wenn Menschen in Notlagen geraten. Andererseits werden Familien auch vor neue gesellschaftliche Erwartungen und Anforderungen gestellt und fühlen sich zum Teil erheblich überfordert. Alle Familien sind deshalb darauf angewiesen, dass ihre Leistungen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft anerkannt und unterstützt werden.

Zeit füreinander - Alltag und Fest: Gemeinsame Zeit in der Familie entsteht nicht von selbst, sondern muss aktiv von den Familienmitgliedern „hergestellt“ werden. Erwerbsarbeitszeit, Schule und Unterricht, Freizeit, Sport und ehrenamtliches Engagement finden in unterschiedlichen Rhythmen und zu unterschiedlichen Zeiten statt, stellen verschiedene Ansprüche an die Einzelnen und können miteinander kollidieren. Familien brauchen aber gemeinsame Zeit, um sich als zusammengehörig zu erfahren. Gemeinsame Feiern, Feste und Rituale stützen und stärken den Zusammenhalt. Unverzichtbar ist der Sonntag als gemeinsamer erwerbs-, schul- und einkaufsfreier Tag, an dem für Gottesdienst, Gemeinsamkeit und Muße Zeit ist.

Erwerbsarbeit und Sorgetätigkeiten in der Familie: Die Gleichzeitigkeit von Erwerbsarbeit und familiärer Sorge wird vor allem als Problem der Kinder und ihrer Mütter wahrgenommen. Erst in jüngster Zeit sind familienfreundliche Arbeitszeiten auch ein Thema für Väter. Die Zunahme der Mütter-Erwerbstätigkeit geht vor allem auf eine Zunahme von Teilzeitarbeit und prekärer Beschäftigung zurück; das Erwerbsarbeitsvolumen von Frauen hat dagegen nicht zugenommen.Gleichwohl hat das zumindest in Westdeutschland lange vorherrschende männliche Ernährermodell an Dominanz eingebüßt und ist durch vielfältige Arrangements abgelöst worden: das Ernährermodell mit der zuverdienenden Partnerin, zwei in Vollzeit erwerbstätige Elternteile, aber auch Frauen als Familienernährerinnen, insbesondere im Falle der Alleinerziehenden. Unabhängig davon, wie viele Stunden Frauen erwerbstätig sind, obliegt ihnen in jedem Fall die Hauptlast der Haus- und Sorgearbeit. Zwar hat der technische Fortschritt die Hausarbeit zum Teil erleichtert und verändert, doch ist das Stundenvolumen gleich geblieben. Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit in der Familie sind vor allem durch persönliche Beziehungen geprägt und nicht gleichermaßen von bezahlten Kräften leistbar. Wo das dennoch geschieht, handelt es sich häufig um Schwarzarbeit oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse, in denen Hausarbeit auf andere Frauen, meistens Migrantinnen, verlagert wird.

Erziehung und Bildung: Die gesellschaftlichen Debatten über Bildung und Erziehung verändern sich: Galt bis vor Kurzem in Westdeutschland noch die Devise, dass Erziehung in der Familie stattfinde, der Kindergarten für ergänzende Betreuung zuständig sei und mit dem Schuleintritt der Bildungsweg beginne, so werden diese Zuordnungen heute grundlegend in Frage gestellt. Familien begegnen mehr denn je dem Anspruch, die Bildungsfähigkeit der Kinder zu verbessern, den Grundstein für qualifizierte Ausbildungen und Studienabschlüsse zu legen sowie für eine bessere Verwendbarkeit auf dem Arbeitsmarkt („employability“) zu sorgen. Dabei ist Bildung, wie Studien belegen, gerade in Deutschland nach wie vor von der sozialen Herkunft abhängig. Als einer der großen Bildungsträger kann die evangelische Kirche Familien bei der Erziehung im Hinblick auf Wertorientierungen und Identitätsbildung entscheidend unterstützen und Orientierungen bieten.

Generationenbeziehungen und Fürsorglichkeit: Familien sind Übungsstätten für soziales Lernen und bilden ein Netzwerk der Unterstützung zwischen den Generationen. Sie fördern die Weitergabe von Erfahrungen und begleiten die kommenden Generationen auf ihrem Weg ins Leben. In vielen Fällen bieten sie bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit nach wie vor Fürsorglichkeit und praktische Hilfe an. Trotz zunehmender Mobilität ist die wechselseitige familiäre Generationensolidarität, die sich auch in finanziellen Transfers von den Älteren an die Jüngeren ausdrückt, ungebrochen. Kinder schätzen ihre Eltern und Großeltern und erfahren von ihnen vielfältige Unterstützung und umgekehrt.

Häusliche Pflege: Pflegebedürftige werden immer noch überwiegend in Familien gepflegt. Dabei übernehmen Frauen ganz überwiegend diese Aufgabe. Angesichts des knapper werdenden familiären Pflegepotenzials - nicht zuletzt aufgrund von Veränderungen in der Arbeitswelt und des gesellschaftlichen Wandels - wachsen die Herausforderungen an die Sozialsysteme, wird ein weiterer Ausbau der pflegerischen und hauswirtschaftlichen Dienstleistungsangebote notwendig sein. Gleichzeitig ist die Verbesserung der kommunalen und nachbarschaftlichen Netze und eine Nahversorgung mit Produkten und Dienstleistungen des täglichen Lebens erforderlich, um den Verbleib in der eigenen Wohnung möglichst lange zu erhalten.

Gewalt in Familien: Gewalt in der Familie war bis in die 1980er Jahre tabuisiert, für sexuelle Gewalt an Kindern galt das bis in die jüngste Gegenwart. Das Ideal der Familie war geprägt vom Bild einer harmonischen, gewaltfreien Beziehung. Gewalt in der Familie ist jedoch die am meisten verbreitete Form von Gewalt und tritt als körperliche, psychische und sexuelle Gewalt oder auch als Vernachlässigung in Erscheinung. Betroffen von allen Formen sind Kinder (Jungen und Mädchen) und Frauen. Aber auch Männer erfahren Gewalt, allerdings ist deren Gefährdung außerhalb der Familie höher als bei Frauen, die Gewalt überwiegend im häuslichen Bereich erleben. Besonders problematisch sind Gewalterfahrungen von Kindern in der Familie, weil sie auf die Familie angewiesen und der Situation besonders hilflos ausgesetzt sind. Die Gefahr, dass noch Erwachsene eine solche Gewalterfahrung, die sie als Kinder nicht verlassen konnten, an die nächste Generation weitergeben, ist deshalb groß. Lange übersehen wurde, dass auch in der Pflege Gewalt erfahren wird - von Pflegebedürftigen wie von Pflegenden.

Migration und Familienkulturen: Migration gehört zu den Erfahrungen jeder Zeit und Generation, schon biblische Geschichten berichten davon. Entscheidend ist, wie Einheimische und Zugewanderte ihr Zusammenleben gestalten. Das Ankommen in einer neuen Gesellschaft ist ein Generationenprojekt, das Migrantenfamilien dazu herausfordert, eine neue Balance von Herkunfts-Kultur und neuen kulturellen Einflüssen zu finden, um heimisch zu werden. Herausgefordert ist auch die einheimische Gesellschaft mit ihren kulturellen und religiösen Traditionen, mit ihren Familienbildern und Erziehungsstilen. Bikulturelles Aufwachsen bietet die Chance, Rituale und Lebensdeutungen unterschiedlicher Kulturen und religiöser Lebenszusammenhänge verstehen zu können und sich - bei allen Spannungen, die auch damit verbunden sind - auf die Suche nach einer eigenen kulturellen Identität und gestalteten Religiosität zu begeben. Gerade das Zusammenleben mit anderen Religionen erinnert die säkularisierte Gesellschaft erneut an die religiöse Prägung der Lebenszusammenhänge - von den Alltagsritualen wie Tisch- und Abendgebeten bis zu Hochzeiten und Beerdigungen.

Reichtum und Armut von Familien: Kinder zu erziehen erhöht statistisch gesehen das Armutsrisiko. Auch die sozialpolitischen Transfers können dieses Risiko nicht beseitigen, da sie die betroffenen Familien nicht zielgenau erreichen. Armut ist allerdings weit mehr als das Fehlen materieller Ressourcen. In armen Familien reduzieren sich auch die Bildungschancen der Kinder, die gesundheitliche Versorgung ist ungenügend, die sozialen Netze sind kleiner, die Angebote im Wohnquartier schlechter: Armut bedeutet geringere Teilhabe und geringere soziale Ressourcen. Insofern geht es bei der Armutsprävention nicht nur um Verteilungs-, sondern auch um Befähigungs- und Teilhabegerechtigkeit.

Familienpolitik als neue Form sozialer Politik: In der international vergleichenden Familienforschung und Sozialpolitik hat ein Perspektivenwechsel die besondere Bedeutung von Familien als wesentliche Faktoren allgemeiner Wohlfahrt und des gesellschaftlichen Reichtums hervorgehoben. Damit wurde einerseits offenbar, dass der westdeutsche Sozialstaat mit seinem tradierten Familienbild eine nachhaltige Familienpolitik versäumt hat, andererseits ist deutlich geworden, dass verlässliche Sorgearbeit für die vorangegangene und die nachkommende Generation einen wichtigen, bislang nicht ausreichend berücksichtigten Beitrag zum Bruttosozialprodukt leistet. Der Familie als gesellschaftlicher Institution kommt dabei für die Weitergabe des Lebens und den sozialen Zusammenhalt nach wie vor eine zentrale und unverzichtbare Rolle zu.

Wie Kirche und Diakonie Familien stark machen können: Kirche ist nach wie vor eine wichtige Ansprechpartnerin für Familien. Mit ihren Kasualien, Festen und Feiern begegnet sie Familien in Übergangssituationen, mit ihren Tageseinrichtungen für Kinder, Jugendtreffs und Schulen bietet sie Orte für Bildung, Erziehung und Begegnung, mit ihren diakonischen Diensten begleitet sie Familien in Krisensituationen. Dabei haben Gemeinden, Diakonie und Verbände oft ganz unterschiedliche Gruppen und Familien im Auge. Eine Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie, die gemeinsame Entwicklung von Leitbildern und Angeboten und eine verstärkte Zusammenarbeit mit dritten Partnern in der Region sind deshalb unbedingt notwendig. Darüber hinaus sollten Kirchengemeinden ihre generationenübergreifende Arbeit bewusst ausbauen und die Gemeindezentren als Orte erlebten zivilgesellschaftlichen Engagements und erlebter Gemeinschaft gestalten. Angesichts des Strukturwandels von Familien haben Gemeinden und Familienzentren eine wachsende Bedeutung auch für die religiöse Erziehung und die Weitergabe des Glaubens.

2. Zwischen Autonomie und Angewiesenheit - Familienleben heute

„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Bereits in den ersten Kapiteln der Bibel wird deutlich, dass Menschen zur Gemeinschaft bestimmt und auf Liebe, Fürsorge, Erziehung und Pflege angewiesen sind. Gleichzeitig gehört der Wunsch nach Erkenntnis, Entdeckung, nach Entwicklung und Eigenständigkeit konstitutiv zum Menschsein. In der Ambivalenz von Angewiesenheit und Autonomie wird Familienleben erfahren. Ehe, Partnerschaft, Verantwortung für Kinder, Pflegebedürftige und Kranke werden geprägt durch Bildungsprozesse, die Bedingungen des Erwerbslebens und die gesellschaftliche Gestaltung von Lebensrisiken. Um eine evangelische Verständigung über Ehe, Familie und Partnerschaft zu versuchen, geht es zunächst um eine Ortsbestimmung. Dabei fallen aktuelle Trends in Familienleben und Partnerschaftsverhalten auf: die spätere Familiengründung und der Rückgang von Eheschließungen, die Vervielfältigung von Familienformen, das Auseinanderdriften der sozialen Lebenslagen und die steigende Kinderarmut, schließlich gibt es mehr Familien mit Migrationshintergrund.

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„Familie hat jeder“, betonte die Synode der EKD 2004. Und trotzdem oder gerade deshalb ist es nicht einfach, über Familie zu schreiben. Denn das Thema Familie berührt wesentliche biografische Erfahrungen, in denen unsere kulturelle und religiöse Identität wie unsere Vorstellung von Geschlechterrollen und unser Familienbild selbst geprägt worden sind: Es betrifft aber genauso zentrale gesellschaftliche Fragen wie die demographische Entwicklung, die Erziehung der nächsten Generation und die Versorgung kranker und alter Menschen. Wir bringen tradierte Bilder und Vorstellungen von Familie mit, aber Familie ist kein fixes Gebilde, sondern eine alltägliche Gestaltungsaufgabe, die uns in jeder Lebensphase neu herausfordert und neue Erfahrungen mit sich bringt. Selbst wenn wir über den gesellschaftlichen Wandel von Familie und über sozialpolitische Weichenstellungen nachdenken, kann uns das Thema emotional berühren. Familie bedeutet höchstes Glück, aber auch die Möglichkeit des Scheiterns und Neubeginns und den Wandel von Beziehungen. Wenn wir darüber reden, wird zugleich deutlich, wie unterschiedlich wir durch unsere Erfahrungen geprägt sind, wie unterschiedlich auch unsere Vorstellungen darüber sind, was Familie ausmacht und ausmachen soll.
Im Folgenden wird darauf eingegangen, wie sich das Bild und Ideal von Familie im Laufe der Geschichte veränderte, welche Auswirkungen die historischen Veränderungen für die Rechtsgestalt von Familie hatten und haben und welche Rolle die evangelische Kirche dabei spielt und spielen kann. Denn Familie ist auch sehr eng mit unserem Glauben verbunden: In der Kirche werden Ehen gesegnet, Kinder getauft, Angehörige zu Grabe getragen. Von Trost und Segen erhoffen sich Menschen eine Stärkung ihrer Liebe und Gemeinschaft, die auch in Krisen trägt. Ziel dieses Textes ist deshalb, eine evangelische Verständigung über Ehe, Familie und Partnerschaft im beginnenden 21. Jahrhundert anzuregen. Dabei soll die Spannung zwischen der modernen Suche nach Autonomie und der wechselseitigen Angewiesenheit thematisiert werden. Die Schöpfungsgeschichte beschreibt es mit dem schlichten Satz: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Nicht nur Kinder sind auf ihre Eltern und kranke und pflegebedürftige Familienmitglieder auf Hilfe angewiesen, auch Liebende sind in gleichberechtigter Weise aufeinander angewiesen und gerade so miteinander verbunden. Dabei können sich die wechselseitigen Abhängigkeiten im Laufe des Lebens durchaus ändern. Dass solche Angewiesenheit und wechselseitige Hilfe emotionale Bindung erzeugt und die Erfahrung von Geborgenheit und Heimat in sich birgt, ist eines der Geheimnisse von Familienleben und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Menschen wünschen sich Freiheit, aber sie suchen auch Zugehörigkeit.

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Familie ist ein alltäglicher Lebenszusammenhang und Lernort der verschiedenen Generationen. Familienmitglieder gehen auf Dauer angelegte Verantwortungs- und Fürsorgebeziehungen miteinander ein, Kinder finden sich darin vor, noch ehe sie darüber nachdenken können. Dabei hat unser Bild von Familie in den letzten Jahren eine Erweiterung erfahren: Familie - das sind nach wie vor Eltern (ein Elternteil oder zwei) mit ihren leiblichen, Adoptiv- oder Pflegekindern, vielleicht erweitert um die Großelterngeneration. Familie, das sind aber auch die so genannten Patchwork-Familien, die durch Scheidung und Wiederverheiratung entstehen, das kinderlose Paar mit der hochaltrigen, pflegebedürftigen Mutter und das gleichgeschlechtliche Paar mit den Kindern aus einer ersten Beziehung. Die Menschen, die wir zur Familie zählen, leben nicht unbedingt gemeinsam unter einer Adresse - das heißt aber nicht, dass es nicht liebevolle Zuwendung, vielfältigen Austausch, Unterstützung, Hilfeleistung, Gespräche, kurz: familiales Zusammengehörigkeitsgefühl gibt.

3 Junge Männer und Frauen haben ganz überwiegend den Wunsch, Familien zu gründen und mit Kindern zu leben. Gleichzeitig liegt Deutschland mit einem Kinderwunsch von 1,7 Kindern im europäischen Vergleich extrem niedrig (Ruckdeschel/Dorbritz 2012). Als Gründe dafür gelten das traditionelle Familienbild im Westen, das es besonders den gut qualifizierten Frauen sowohl auf der normativen wie auch der alltagspraktischen Ebene schwer macht, Familie und Beruf zu vereinbaren. In Ostdeutschland liegt zwar die Kinderwunschrate höher, jedoch werden häufig Kinderwünsche angesichts der immer noch schwierigen wirtschaftlichen Lage aufgeschoben. Auch die wachsenden Anforderungen an die Erziehung und Bildung von Kindern sowie die hohen Ansprüche an die Qualität von Partnerschaften sorgen für eine Verschiebung des Kinderwunsches. Die deutliche Zunahme von Reproduktionsmedizin zeigt die schmerzhafte Spannung zwischen Kinderwunsch und Realität.
4 Angesichts gravierender gesellschaftlicher Veränderungen wie sinkender Geburtenraten, dem Wandel der Altersstruktur, veränderter Geschlechterverhältnisse, steigender Scheidungs- und Trennungsraten, weltweiter Wanderungsprozesse, flexibler und mobiler Erwerbsarbeit sowie risikoreicher Arbeitsmarktstrukturen, mit denen sich Familien (je nach ihrem gesellschaftlichen Ort) derzeit auseinandersetzen müssen, geraten traditionelle Orientierungen ins Wanken. Die Erziehung von Kindern stellt heute Anforderungen, die Eltern ohne gesellschaftlichen Rückhalt kaum bewältigen können. Ungeklärt ist insbesondere, wie die vielfältigen Fürsorgeaufgaben, die bislang Mütter, Töchter und Schwiegertöchter übernommen haben, angesichts der steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen neu verteilt werden sollen. Vor allem für die Versorgung und Betreuung Pflegebedürftiger ist eine „Fürsorgelücke“ entstanden.
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Obwohl sich in den westlichen Gesellschaften ein hohes Autonomieideal des Individuums entwickelt hat, bleibt Familie der Raum der Gemeinsamkeit und des Füreinander-da-Seins, in dem Halt und Liebe erfahren werden können. In der wachsenden Sehnsucht, eine Familie zu gründen oder in einer Familie zu leben, wird sichtbar, dass Menschen neben dem Wunsch nach Autonomie und Freiheit zugleich ein Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit haben. Angesichts gravierender gesellschaftlicher Umbrüche und der wachsenden Erwartung an Mobilität und Flexibilität in der Berufswelt werden Ehe und Familie auch als ein Schutzraum erfahren, als Gemeinschaft, die gesellschaftliche Anforderungen auszubalancieren hat. Familien werden dabei vielfältige Aufgaben zugetraut und zugemutet: Kinder sollen so erzogen werden, dass sie das Leben in einer auf Individualisierung angelegten Wissensgesellschaft bestehen. Ehe- und Lebenspartner sollen sich gegenseitig ermöglichen, persönliches Glück zu erfahren und zu genießen und einander eine Stütze sein. Kranke und alte Menschen sollen versorgt werden, verwandtschaftliche, nachbarschaftliche und freundschaftliche Netze wollen gepflegt und weiterentwickelt werden. Zwischen den Anforderungen des Berufslebens und den Erwartungen an Erziehung, Pflege und Freundschaft muss der Alltag bewältigt werden. Bei all dem wollen Eltern ihre Kinder glücklich machen; sie möchten mit ihren Kindern ein erfülltes Familienleben führen, in dem die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu ihrem Recht kommen (Jurczyk/Lange/Thiessen 2013). Die Kirchen unterstützen Familien in ihrem Wunsch nach gelingender Gemeinschaft, sie begleiten sie aber auch im Scheitern und bei Neuaufbrüchen.

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Bei diesen vielfältigen Aufgaben brauchen Familien Unterstützung. Sie brauchen ausreichend Zeit und materielle Absicherung. Sie sind auch als Gemeinschaft auf passende gesellschaftliche Angebote wie Erziehungseinrichtungen oder Pflegedienste angewiesen. Diese Spannung von Autonomie und Angewiesenheit, Freiheit und Bindung sowie persönlicher und gesellschaftlicher Verantwortung kennzeichnet das Leben in der Familie, sie ist aber auch konstitutiv für Familienpolitik. Dabei wandelt sich das Verhältnis der einzelnen Mitglieder zur Familie, genauso wie sich Anforderungen und Rollen innerhalb der Familien verändern ? für Mütter, Väter und Kinder. Auf wesentliche Trends, die die Wandlung von Familie kennzeichnen, sei hier hingewiesen.

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Lange Ausbildungszeiten und schwierige Berufseinstiege haben zur Folge, dass die Familiengründung im Lebenslauf immer weiter hinausgeschoben wird: Das Durchschnittsalter der Frauen bei Geburt des ersten Kindes liegt gegenwärtig bei 29 Jahren (Ostdeutschland: 27 Jahre), 60% der Kinder werden von 26- bis 35-jährigen Müttern geboren (Statistisches Bundesamt 2012: 9f.). Dazu gehört, dass die Ehe zunehmend nicht mehr Voraussetzung, sondern Folge gemeinsamer Kinder ist: Ein Drittel aller Kinder wird gegenwärtig nichtehelich geboren. Das sind doppelt so viele wie noch vor zwanzig Jahren (Statistisches Bundesamt 2012, 18). Hier besteht ein markanter deutsch-deutscher Unterschied: Im Westen Deutschlands werden 27% der Kinder außerhalb der Ehe geboren, im Osten 61% (Statistisches Bundesamt 2012, 19). Der sinkenden Attraktivität der Ehe entspricht auch ein Rückgang kirchlicher Eheschließungen. Ließen sich 1990 von den ca. 500.000 Ehepaaren noch 100.000 evangelisch und 110.000 Paare katholisch trauen, waren dies 2003 von den nur noch 380.000 Eheschließungen 56.000 evangelische und 50.000 katholische Trauungen. Das ist eine Abnahme von 14% der kirchlichen Trauungen in nur 13 Jahren (EKD-Texte 101).

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Die Vielfalt des Familienlebens nimmt zu. Zwar sind noch 72% der Familien Ehepaare mit Kindern (BMFSFJ 2012, 22), aber angesichts der anhaltend hohen Scheidungsraten sind Familien auf Ehebasis zunehmend Patchwork-Konstellationen mit komplexeren familialen Lebensführungen. Zu den leiblichen Elternteilen kommt in diesen Fällen noch mindestens ein sozialer Elternteil hinzu. Ebenfalls angestiegen ist der Anteil von Alleinerziehenden (19%) und nichtehelichen Lebensgemeinschaften (knapp 9%). Ein großer Unterschied in den Familienformen zeigt sich im Ost-West-Vergleich. In Ostdeutschland machen verheiratete Familien nur noch knapp die Hälfte aus, während es im Westen rund drei Viertel sind. Alternative Lebensformen nehmen zu: Jede vierte Familie im Osten und jede fünfte im Westen ist eine Ein-Eltern-Familie.17% der Familien in Ostdeutschland und 6% der Familien in Westdeutschland sind nichteheliche Partnerschaften (BMFSFJ 2012, 23).

Auch wenn sich das Sorgerecht diesem Wandel angepasst hat und üblicherweise heute im Scheidungsfall beide Eltern das Sorgerecht behalten (vgl. Ziff. 33), so bedeuten diese Veränderungen im Familienleben auch Verunsicherungen insbesondere für Kinder. Eine Trennung oder Scheidung der Eltern führt akut zu einer deutlichen Belastung bei Kindern, langfristig lassen sich bei der überwiegenden Mehrheit keine negativen Folgen feststellen, im Gegensatz zu Familien, in denen Konflikte über Jahre hinweg andauern (Walper/Langmeyer 2008). Für eine gelingende (Wieder-)Herstellung von Verbindlichkeit in den vielfältigen Familienformen und den sich im Laufe einer Familienbiografie mehrfach verändernden Konstellationen stehen oft noch keine angemessenen kirchlichen Rituale zur Verfügung.

Eine weitere Familienform, die stark in der Öffentlichkeit diskutiert wird, sind gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften mit Kindern, so genannten „Regenbogenfamilien“. Bundesweit wird die Anzahl gleichgeschlechtlicher Paare, die in einem gemeinsamen Haushalt leben, auf ca. 70.000 geschätzt, davon ist ein Viertel eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen. Rund 7.000 Kinder leben in Familien, in denen die für sie Fürsorge tragenden Erwachsenen gleichgeschlechtliche Partnerschaften eingegangen sind. (Rupp 2009).

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Die sozialen Milieus in Deutschland entwickeln sich aktuell in hohem Maße auseinander. Auffällig ist die Polarisierung sozialer Lebenslagen - zwischen Ein- und Zwei-Verdiener-Haushalten, vor allem aber zwischen denen, die für Kinder sorgen, und denen, die keine Kinder zu versorgen haben. Besonders bedenklich ist, dass es überdurchschnittlich viele Alleinerziehende sind, die von Einkommensarmut betroffen sind: Alleinerziehende mit einem Kind sind zu 46%, mit zwei und mehr Kindern sogar zu 62% armutsgefährdet. In Paarhaushalten variiert die Armutsrisikoquote je nach Kinderzahl zwischen 7 und 22% (BMFSFJ 2012, 100f.). Bei den Unter-18-Jährigen ist ein Fünftel von Armut betroffen (BMFSFJ 2012, 98). In armen Familien häufen sich Unterversorgungslagen. Hier haben die Mütter oder Väter häufig einen niedrigen oder keinen Bildungs- oder Berufsabschluss. Das führt zu diskontinuierlicher Erwerbsarbeit und hoher, generationsübergreifender Arbeitslosigkeit. Wenn diese in materieller Armut groß gewordenen Kinder selber Eltern werden, haben sie häufig durch ihre frühen Deprivationserfahrungen und damit meist einhergehender Unterversorgung in mehreren Lebensbereichen geringe Beziehungskompetenzen. Sie haben häufig Ausgrenzung und das Gefühl von Wertlosigkeit erfahren, das auch an die Kinder weitervermittelt wird. So erstaunt es nicht, dass Kinder, die in Armut aufwachsen und deren Eltern arbeitslos sind, am häufigsten Zuwendungsdefizite der Eltern benennen (30%, Hurrelmann/Andresen 2010, 88f.).

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Das Bild der Familie muss auch in kultureller Hinsicht relativiert werden: Fast jede dritte Familie hat heute einen Migrationshintergrund (30% in West-, 14% in Ostdeutschland, BMFSFJ 2010, 18). Zu diesen Familien zählen alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, bei denen mindestens ein Elternteil eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt oder die deutsche Staatsangehörigkeit beispielsweise durch Einbürgerung erhalten hat. Knapp ein Viertel der zugewanderten Familien kommt aus der Türkei. Etwa ein Fünftel stammt aus Osteuropa, ein weiteres Fünftel aus süd- oder westeuropäischen Ländern (BMFSFJ 2010, 19). Eine besondere Herausforderung für das Bildungssystem besteht in der Tatsache, dass bei den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in einigen Regionen im Westen Deutschlands und in Berlin mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung beträgt. Die sozialräumliche Trennung beginnt bereits in den Kindertageseinrichtungen. Dies ist eine große Herausforderung für Betreuungs- und Bildungseinrichtungen. Gleichzeitig haben Eltern mit Migrationshintergund besonders hohe Erwartungen an den Bildungsaufstieg ihrer Kinder, kennen jedoch nicht unbedingt die Erwartungen des hiesigen Bildungssystems an die familiale Unterstützung. Dies wird fälschlicherweise oft mit Desinteresse der Eltern gleichgesetzt.

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Zusammenfassend zeigen diese Trends zum Familienleben in Deutschland, dass Pauschaldiagnosen von „Familie heute“ ein unvollständiges Bild zeichnen. Entgegen mancher Krisenszenarien, die vom Zerfall der Familie oder verschärfter „Individualisierung“ sprechen, ist bei längerfristiger Analyse eine erstaunliche Kontinuität festzustellen. Wie in der Familiensoziologie betont wird, liegt der Prozentsatz der Kinder, die bis zum 18. Lebensjahr bei beiden Eltern aufwachsen, gegenwärtig höher oder genauso hoch wie in den Kriegs- und Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts, in denen die Väter nicht aus dem Krieg heimkehrten und Familien auseinandergerissen wurden. Lediglich im Vergleich mit den 1950er Jahren, in denen die Klein- oder Kernfamilie als Leitbild einer wiedergewonnenen Normalität galt, haben sich die privaten Lebensformen verändert. Gleichwohl kann nicht von einer Erosion der Familienbeziehungen gesprochen werden. Offenbar hat vielmehr die vorangegangene Kriegs- und Unheilserfahrung dazu geführt, dass diese Zeit als „heile Familienwelt“ idealisiert wird. Wenn man jedoch berücksichtigt, dass der Anteil der Kinder, die in Heimen und anderen Einrichtungen untergebracht waren oder sind, seitdem deutlich zurückgegangen ist, lässt sich heute sogar von einer Familiarisierung des kindlichen Aufwachsens in unserer Gesellschaft sprechen.

Wie Familie gelebt wird, hängt also nicht nur von Milieu und Lebensstil der einzelnen Familien ab, sondern auch von historischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen. Das zeigt nicht zuletzt die unterschiedliche Entwicklung der Lebensmuster, Alltagspraktiken und Familienmodelle seit den 1970er Jahren in Ost- und Westdeutschland, die wohl allen Bürgerinnen und Bürgern nach der Wende bewusst geworden sind. Dazu gehören auch die zeit- und systembedingten Vorstellungen von den jeweils den Geschlechtern zugewiesenen Aufgaben, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, der Unterstützung durch Tageseinrichtungen für Kinder, von „guter“ Mutter- und Vaterschaft, von Kindheit oder Großelternschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert haben.

3. Familie und Ehe im Wandel

Eine breite Vielfalt von Familienformen ist, historisch betrachtet, der Normalfall. Die bürgerliche Familie als Ideal entwickelte sich erst im 18. Jahrhundert durch die Trennung von männlicher Erwerbswelt und weiblicher Familiensphäre mit Haushalt und Kindererziehung. Dieses Ideal setzte sich zunächst langsam und erst nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik als Lebensform für alle durch. Die DDR dagegen erhob die gleichberechtigte Ehe mit zwei in Vollzeit erwerbstätigen Eltern zum Leitbild und nahm dabei die Familie für die Erziehung der Kinder zur „sozialistischen Persönlichkeit“ gesetzlich in die Pflicht. In Westdeutschland zeigte sich nach der Einführung der verfassungsmäßig garantierten Gleichberechtigung eine wachsende Spannung zwischen der Gleichberechtigung der Frau und dem institutionellen Schutz von Ehe und Familie. Dabei war das Leitbild der bis 1977 gesetzlich geschützten so genannten Hausfrauenehe die Grundlage des Steuer- und Sozialversicherungsrechts. Die Hauptlast der Hausarbeit lag aber trotz der unterschiedlichen Ehe- und Familienkonzeptionen in beiden deutschen Staaten bei den Frauen, auch wenn es in der DDR quantitativ ausreichende Kinderbetreuung gab. Seit dem 19. Jahrhundert kritisierten die Frauenbewegungen die ungleiche Rechtsposition insbesondere der Mütter; sie haben schließlich wesentlich zum rechtlichen Wandel in Ehe und Familie beigetragen.

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Die Vielfalt der Familienformen ist historisch kein neues Phänomen. Die Nachkriegszeit bis zur Mitte der 1960er Jahre gilt in der Familienforschung als „goldenes Zeitalter der Ehe“, weil „niemals in der Geschichte vor den 1960er Jahren so viele Menschen verheiratet waren, Kinder eher selbstverständlich waren, so wenige Ehen geschieden wurden und nichteheliche Lebensgemeinschaften so gut wie unbekannt waren“ (Nave-Herz 2003). Es war die Zeit, in der man in der Familiensoziologie von der „Universalität“ der Kern- oder Kleinfamilie als Normalfamilie (bestehend aus Vater, Mutter, Kind) ausgegangen ist. Deren spezifische Rollenteilung und Struktur wurde nicht nur für die Stabilität der Familie, sondern auch für die Gesellschaft für unverzichtbar gehalten. Ein Blick in die weitere Vergangenheit zeigt aber, dass zur spezifisch europäischen Entwicklung der Familie schon immer eine Vielfalt der Lebensformen gehört hat. Der Begriff von Familie, der die verschiedenen Lebensformen umfasste, hat sich überhaupt erst im 18. Jahrhundert herausgebildet. Solange Familienleben und Produktionsbereich noch untrennbar verbunden waren, wurde vom ganzen Haus gesprochen. Diese Lebensform betraf jedoch nur bestimmte Schichten von Bauern und Handwerkern, die sich Gesinde und andere abhängig Beschäftigte leisten konnten. Denn bis in die Neuzeit hinein war die Familiengründung an spezifische Besitz- bzw. Eigentumsverhältnisse gebunden; es bestanden zudem vielfältige Heiratsschranken und Ehehindernisse. Aus diesem Grund hat die historische Familienforschung auch die verbreitete Vorstellung von der Entwicklung der Groß- zur Kleinfamilie, mit der die Vergangenheit häufig idealisiert wird, als einen „Mythos“ bezeichnet.

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Auch die bürgerliche Familie, die sich bis in unsere Tage zum Leitbild und Inbegriff familiärer Kultur entwickelt hat, konnte noch am Ende des 19. Jahrhunderts nur von einer verhältnismäßig kleinen Gesellschaftsschicht gelebt werden - Schätzungen sprechen von einer Minderheit von 5-15% mit leicht steigender Tendenz (Kocka 1988, 13). Ihre Vorbildfunktion beruhte auf der mit der Industrialisierung ermöglichten Trennung von Haushalt und Betrieb, der Absicherung durch das Einkommen bzw. den Lohn eines Familienernährers und damit einer geschlechtsspezifischen familiären Aufgabenteilung, die einer neuen, die liberale Gesellschaft kennzeichnenden Trennung von Privatsphäre und bürgerlicher Öffentlichkeit entsprach. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entstand zugleich die Vorstellung „polarisierter Geschlechterrollen“, wonach dem Mann das öffentliche Leben, das Recht und der Gelderwerb - kurz die „männliche“ Sphäre der Vernunft - vorbehalten war, während der Frau das häusliche Leben, Erziehung und Hingabe zur „Bestimmung“ wurde, weil man Liebe, Gefühl und Gemüt eher als „weiblich“ begriff. Medizin, Anthropologie, Psychologie und schließlich die Psychoanalyse haben dieses Konzept im Laufe des 19. Jahrhunderts „wissenschaftlich fundiert“ (Hausen 1976, 369; vgl. auch Honegger 1991). Die populäre Ratgeberliteratur mit ihren Haushalts-, Koch- und Erziehungsbüchern hat ein Übriges dazu getan, „Kinder, Küche und Kirche“ als Sphäre der Frauen zu definieren. Paradoxerweise konnte sich also in einer Zeit, in der überkommene Standesdefinitionen erodierten und die Freiheit der Menschen zum rechtsstaatlichen Programm erhoben wurde, zugleich die „naturgegebene“ Differenz der Geschlechter als ausschlaggebendes Orientierungsmuster durchsetzen.

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Im Familienrecht wurden Ehe und Familie deshalb nicht nur als Vertrag zwischen gleichberechtigten Partnern verstanden, wie es dem Programm der Aufklärung entsprach, sondern im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die juristischen Lehren von der Ehe als Institution abgesichert. Hierfür waren J. G. Fichtes „Deduktionen über die Ehe“ aus dem Anhang seiner Schrift „Grundlagen des Naturrechts“ richtungweisend. Einflussreich war Fichte vor allem deshalb, weil er - ganz im Zeitgeist der Romantik - die „freiwillige“ Unterwerfung der Frau unter die Vorrechte des Mannes in allen Eheangelegenheiten als Ausdruck ihrer Liebe „zu dem Einen“ zu rechtfertigen verstand (Fichte 1960, 104f. u. 300f.). Die Überhöhung der Ehe als „objektiv sittliche Ordnung“ (so noch in Entscheidungen des Bundesgerichtshofes bis in die 1960er Jahre, vgl. BGHZ 18,13ff.) hat damit zugleich eine Geschlechterordnung legitimiert, in der dem Mann als „Haupt der Gemeinschaft“ alle Entscheidungsbefugnis, alle Verfügung über das eheliche Eigentum und die Pflicht zum Unterhalt oblag. Die Frau hingegen war zur Einhaltung der „ehelichen Pflichten“, zu Unterordnung und Gehorsam und gemäß einer traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu persönlichen Dienstleistungen jeder Art in der Familie, wie im Betrieb des Mannes, verpflichtet. Autonomie und Abhängigkeit waren damit höchst ungleich verteilt.

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Da das deutsche Privatrecht vor der Reichsgründung 1871 und der Rechtsvereinheitlichung im BGB wegen der verschiedenen Rechtsquellen und Rechtskreise sehr unübersichtlich war, hatte die Rechtswissenschaft  insbesondere im Familienrecht großen Einfluss auf die Rechtsentwicklung.  In Reaktion auf die durchaus frauenfreundlichen Bestimmungen des Preußischen Landrechts begründete sie die Lehre von der Ehe als Institution. Dies führte in Preußen um 1850 nicht nur zur Erschwerung der Ehescheidung, sondern auch zur Einschränkung der Eigentumsrechte von Ehefrauen, insbesondere aber zur Beschneidung der Rechtsansprüche nicht in der Ehe geborener Kinder und ihrer Mütter. Diese Regelungen fanden dann Eingang in die Ausgestaltung der familienrechtlichen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), das 1900 in Kraft trat (Gerhard 2007). Das Familienrecht in Deutschland ist bis hin zum besonderen Schutz von Ehe und Familie in Art. 6 des Grundgesetzes (GG) durch dieses Verständnis geprägt, in dem die Ehe - gemessen an der für die Rechtsentwicklung allgemein bezeichnenden Entwicklung vom Status zum Vertrag - für lange Zeit eine „Enklave ungleichen Rechts“ (Grimm 1987) war.

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Die Kritik an der Institution Ehe, die Verständigung über Unrechtserfahrungen von Frauen in der Ehe und das Leiden an der Rechtlosigkeit der Mütter sind seitder 1848er Revolution der Auslöser für vielfältige Proteste und Rechtskämpfe der Frauenbewegung in Deutschland gewesen. Vor der Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) hatten die bürgerlichen wie die sozialdemokratischen Frauenverbände in seltener Einmütigkeit die familienrechtlichen Bestimmungen des neuen Gesetzbuches in zahlreichen Petitionen detailliert kritisiert und in Massenprotesten in der Öffentlichkeit als „unwürdig, unzeitgemäß und kulturhemmend“ verworfen. Ihren Vorarbeiten, insbesondere denen der ersten Juristinnen in den 1920er Jahren, ist schließlich die ausdrückliche Anerkennung der Gleichberechtigung von Mann und Frau in allen Rechtsbereichen, also auch im Familienrecht, zu verdanken, die in Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes verankert ist. Sie konnte allerdings im Parlamentarischen Rat erst durchgesetzt werden, nachdem Elisabeth Selbert 1948/49 eine breite Frauenöffentlichkeit mobilisiert hatte.

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Die neue Frauenbewegung der 1970er und -80er Jahre, die im Zuge der Bürgerrechts- und Studentenbewegungen im Westen entstand, hat sich nicht mehr mit der nur formal zugesicherten Gleichberechtigung begnügt, sondern die Selbstbestimmung und die im Privaten verborgene Gewalt in den Geschlechterbeziehungen zu einem politischen Thema gemacht. Auf der Grundlage des Art. 3 GG konnte sie sehr viel grundsätzlicher die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung in Familie und Beruf in Frage stellen. Dabei ging es nicht mehr nur um gleiche Ausbildungs- und Erwerbschancen, sondern auch um eine stärkere Beteiligung der Männer und Väter an Hausarbeit und Kindererziehung. Weltweit hat die Frauenbewegung damit einen kulturellen Wandel in den Geschlechterbeziehungen eingeleitet, der nicht ohne Einfluss auf das Familienrecht geblieben ist.

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Mit der Einführung des Artikel 3 Abs. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, der die Gleichberechtigung von Mann und Frau begründet, war gemäß Art. 117 Grundgesetz nach 1953 eine Reform des Eherechts notwendig geworden. Zwischen der zugesicherten Gleichberechtigung der Frau und dem gemäß Art. 6 Grundgesetz garantierten besonderen Schutz von Ehe und Familie bestand jedoch von Anbeginn ein Spannungsverhältnis, das im Verlauf der vergangenen 50 Jahre Rechtsprechung und Gesetzgeber immer wieder beschäftigt hat, weil sich sowohl die Geschlechterverhältnisse als auch die Rahmenbedingungen für Familien, insbesondere die Erziehung von Kindern, in dieser Zeit entscheidend veränderten. Das Bundesverfassungsgericht war dabei ein entscheidender Schrittmacher für mehr Gleichberechtigung der Frau und die Rechte von Kindern. Doch es war ein langer Weg von der eher formalen Feststellung z.B. aus dem Jahr 1957, wonach „die erwerbswirtschaftliche Tätigkeit der Frau“ nicht „von vornherein als ehezerstörend zu werten ist“ (BVerfGE 6, 55ff.), bis zu der Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1998, die zur Grundlage für neue politische Initiativen zur Neugestaltung des Kinderleistungsausgleichs und für den Ausbau der Kinderbetreuung geworden ist: Danach muss „der Staat [...] auch Voraussetzungen schaffen, dass die Wahrnehmung der familialen Erziehungsaufgabe nicht zu beruflichen Nachteilen führt, dass eine Rückkehr in eine Berufstätigkeit ebenso wie ein Nebeneinander von Erziehung und Erwerbstätigkeit für beide Elternteile einschließlich eines beruflichen Aufstiegs während und nach Zeiten der Kindererziehung ermöglicht und dass die Angebote der institutionellen Kindererziehung verbessert werden“ (BVerfGE 99, 234).

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Das erste Gleichberechtigungsgesetz von 1957 ging allerdings noch von der „funktionalen Verschiedenheit der Geschlechter“ (so auch das BVerfG von 1953) und der „Hausfrauenehe“ als gesetzlicher Norm aus. Danach war die Frau zur Haushaltsführung verpflichtet und zur Erwerbstätigkeit nur berechtigt, „soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ war (§ 1356 BGB a. F.). Erst durch die Familienrechtsreform von 1977 wurde diese Normierung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Ehe aufgehoben und die Aufgaben- und Rollenverteilung den Ehegatten zur Vereinbarung überlassen. Erst seitdem können die Eheleute per Absprache entscheiden, wie sie Haushaltsführung und Erwerbstätigkeit regeln. Auch eine gesetzliche Mitarbeitsverpflichtung der Ehefrau ist nicht mehr vorgesehen, sie kann sich aber im Einzelfall - wie auch umgekehrt - aus Beistands- und Unterhaltspflichten ergeben. Beide Ehegatten sind gegenseitig und gegenüber der Familie zum Unterhalt verpflichtet.

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Wie das Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft ist auch das Scheidungsrecht 1977 entscheidend verändert worden. An die Stelle des „Schuldprinzips“ ist das Zerrüttungsprinzip getreten, das den Weg zu einverständlichen Scheidungen erleichtert. Auf Antrag eines oder beider Ehegatten kann die Ehe geschieden werden, wenn sie gescheitert ist (§ 1565 BGB). In der Praxis wird das „Scheitern der Ehe“ nicht inhaltlich festgestellt, sondern die Familiengerichte orientieren sich an den gesetzlichen Vermutungen, differenziert nach der Dauer des tatsächlichen Getrenntlebens. Leben die Ehegatten mindestens ein Jahr getrennt und sind beide mit der Scheidung einverstanden, wird die Ehe geschieden. Stellt nur ein Ehegatte einen Scheidungsantrag, kann die Ehe auch gegen den ausdrücklichen Willen des anderen Ehegatten geschieden werden, wenn die Trennungszeit mindestens drei Jahre dauerte (§ 1566 Abs. 2). Dann besteht eine „unwiderlegbare Vermutung“ für das Scheitern der Ehe. Nur in ganz extremen Ausnahmenfällen (§ 1568) kann die einseitige Lösung der Ehe durch eine „Härteklausel“ verhindert bzw. aufgeschoben werden. Das Scheidungsrecht stellt somit die Ehescheidung weitgehend in die Dispositionsfreiheit der Eheleute, indem es die gesetzlichen Voraussetzungen auf ein Minimum beschränkt - das Scheidungsrecht der DDR hatte diesen Schritt bereits seit 1965 vollzogen. Einvernehmliche Scheidungen sind die Regel; Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten haben sich weg von der Schuldfrage hin zu Konflikten um nachehelichen Unterhalt und das Sorge- und Umgangsrecht verschoben.

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Die mit der Teilung Deutschlands 1949 beginnende Systemkonkurrenz zwischen BRD und DDR bzw. zwischen West- und Ostblock wurde insbesondere auch auf dem Feld der Familienpolitik ausgetragen. Statt auf die bürgerliche Familie für alle setzte die DDR auf Gleichberechtigung durch Erwerbstätigkeit. Die Gleichberechtigung der Frau war durch Art. 7 der DDR-Verfassung von 1949 garantiert und wurde unmittelbar in Kraft gesetzt. Weitere Verfassungsartikel traten unmittelbar für die Lohngleichheit zwischen Mann und Frau (Art. 18), den „besonderen Mutterschutz“, Art. 32, die Gleichstellung der „außerehelich“ geborenen Kinder, Art. 33, sowie „das gleiche Recht auf Bildung und freie Wahl des Berufes“, Art. 35 DDR-Verfassung, ein. Das Mutter- und Kinderschutzgesetz von 1950 ergänzte diese Entwicklung durch die Außer-Kraftsetzung zentraler Bestimmungen des Familienrechts des BGB, z.B. durch die Aufhebung des Entscheidungsrechts des Ehemannes und der elterlichen Gewalt des Vaters, § 1354 BGB und § 1627 BGB, sowie durch die Einführung der Gütertrennung. Die Gleichberechtigung der Frau galt deshalb den Beteiligten als „eine der größten Errungenschaften“ der DDR und wurde durch materielle und soziale Hilfen für Mütter und Kinder sowie seit den 1970er Jahren durch ein ganzes Bündel sozialpolitischer Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestützt. Für die Kinder gab es von Geburt an eine an die Arbeitszeiten der Eltern angepasste soziale Infrastruktur von Kinderkrippen, Kindergärten und Schulhorten - wobei der SED-Staat seine Trägerschaft zur ideologischen Prägung der Kinder mit dem Ziel einer „allseits gebildeten sozialistischen Persönlichkeit“ zu nutzen suchte. Mit der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie sollte sowohl der „Wille zum Kind“ gestärkt als auch die Rekrutierung der Frauen als Arbeitskräfte ermöglicht werden. Schon 1970 lag die Erwerbsquote ostdeutscher Frauen um 20 Prozentpunkte über der der westdeutschen. 1989 erreichte die Frauenerwerbsbeteiligung fast 90% im Gegensatz zu 55% in Westdeutschland. Diesen sozialen „Errungenschaften“ stand allerdings die gravierende Einschränkung politischer und ziviler Freiheitsrechte gegenüber. Und trotz der selbstverständlichen Gleichberechtigung im Berufsleben ruhte die Hauptlast der alltäglichen Familienarbeit auch in der DDR auf den Frauen. Das erst 1965 verabschiedete Familiengesetzbuch (FGB) ging von einer Identität der Interessen von Staat, Gesellschaft und Familie aus und erklärte die Mitwirkung der Familie bei der „Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit“ zu ihrer Hauptfunktion. Schon damals wurde zunächst durch Rechtsverordnung, dann durch das FGB der Unterhaltsanspruch eines geschiedenen Ehegatten, i. d. R. der Frau, quasi abgeschafft, d.h. allenfalls zeitlich begrenzt bzw. nur bei Bedürftigkeit gezahlt. Für „die Nichtausübung eines Berufs (mussten) gesellschaftlich anerkennenswerte Gründe dafür vorliegen“ (Grandke 1981). Entgegen dieser politischen Zielsetzung blieb die Familie aber für viele eine - wie auch immer gefährdete und kontrollierte - Privatsphäre, in der sich, wie die Bürgerrechtsbewegung und ostdeutsche Frauenbewegung belegen, eigenständige Persönlichkeiten, individuelle Initiativen und Solidarität entwickeln konnten.

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Für die westdeutsche Familienpolitik war die ostdeutsche - als kollektivistisch bezeichnete - Sozial- und Familienpolitik eine Negativfolie staatlicher Einflussnahme, vor der in den 1950er Jahren die Verbreitung des bürgerlichen Familienmodells nun für alle Bevölkerungsschichten begründet wurde. Denn über Krieg und Katastrophen und selbst Diktaturen hinweg hatte sich die Familie als Hege- und Schutzraum, als letzte Grundlage der sozialen Zuflucht und Sicherheit erwiesen und eine erstaunliche Widerstandskraft bewahrt. In den 1950er Jahren ermöglichte es nun das Wirtschaftswunder breiten Schichten in Westdeutschland, das Ideal der bürgerlichen Familie zu leben. Dass Frauen nicht „arbeiten mussten“, dass Kinder „keine Schlüsselkinder“ waren, war bis Ende der 1960er Jahre der Stolz vieler Familien im Westen. Die besondere Bedeutung der Familie für die Rückkehr zur Normalität und die Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse und damit auch für die Restrukturierung traditioneller Geschlechterrollen wird in vergleichenden Studien für alle westlichen, am Krieg beteiligten Industrienationen hervorgehoben. Die kollektive Sehnsucht nach Normalität und „heiler Welt“ hat Mythen, Ideale und wirkmächtige Rollenbilder (zum Beispiel im Blick auf die Mutterrolle und Mütterlichkeit) aufleben lassen, die schon damals nicht mehr in die prosperierende Industriegesellschaft passten.

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Nicht zuletzt in ausdrücklicher Abgrenzung zur nationalsozialistischen Diktatur, die entgegen ihrer spezifischen Ideologie von Mutterschaft Frauen verstärkt zur Erwerbstätigkeit in der Kriegswirtschaft herangezogen und in der Verfolgung rassistischer Bevölkerungspolitiken auf vielfältige Weise in die Familien hineinregiert hatte, werden im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Ehe und Familie ausdrücklich dem staatlichen Zugriff entzogen. Wie alle anderen Grundrechte ist Art. 6 Abs. 1 insbesondere auch als Schutz- und Abwehrrecht gegen staatliche Maßnahmen/Eingriffe in die spezifische Privatsphäre der Ehe und Familie zu verstehen. Dieser spezifische Freiraum des Familienlebens, der bei aller politisch-institutionellen Prägung gleichwohl Raum für ein „eigensinniges“ Miteinander lässt, ist von den Kirchen immer besonders gestützt worden.

4. Verfassungsrechtliche Vorgaben und Leitbilder von Ehe und Familie im Familienrecht heute

Die weitreichenden Änderungen im Familienrecht der letzten Jahre folgen einerseits dem Strukturwandel der Familie und tragen der neuen Vielfalt der Familienformen Rechnung, andererseits geben sie Regelungen vor, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorauseilen. Die nachhaltigste Veränderung ist die Anerkennung eines erweiterten Familienbegriffs, die nicht nur die traditionelle Kleinfamilie, sondern auch alternative Lebensformen unter den institutionellen Schutz des Art. 6 Grundgesetz stellt. Ausschlaggebend hierfür ist einerseits das Kindeswohl, andererseits die Gleichberechtigung aller Mitglieder der Familie, die nun neben Frauen auch Kinder einbezieht.

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Gerade im Familienrecht, das in besonderer Weise in kulturellen und sozialen Wandel eingeschlossen ist, wird an vielen Stellen deutlich, dass das Recht zum einen gesellschaftliche Entwicklungen kodifizierend nachvollzieht, zum anderen aber auch gesellschaftliche Trends einleiten oder verstärken kann. Das betrifft auch die Rechtsauslegungen und Rechtsauffassungen zuArt. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes, in dem es heißt: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Wie alle Grundrechte ist Art. 6 Abs. 1 GG zunächst ein Schutz- und Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Das bedeutet: Die Gestaltung der Ehe wird der Eigenverantwortung der Ehepartner übertragen; es ist ein weitgehend rechtsfreier Raum, in dem z.B. Absprachen der Eheleute über die Gestaltung ihres Ehelebens im persönlichen und intimen Bereich nicht justiziabel sind (z.B. Absprachen über empfängnisverhütende Mittel).

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Neben seiner Funktion als Schutz- und Abwehrrecht bezeichnet die Garantie des Staates für das Institut der Ehe nach ständiger Rechtsprechung zugleich ihre wesentlichen Strukturprinzipien. Dazu gehören neben der Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner das Prinzip der Einehe, die Freiheit zur Eheschließung, das Gebot der Zurückhaltung bei der Aufstellung von Eheverboten, die Gleichberechtigung der Ehepartner und die grundsätzliche, aber mit Ausnahmen versehene Unauflöslichkeit der Ehe. Diese substanziellen Elemente von „Ehe“ dürfen nicht durch das (Familien-)Recht ausgehöhlt werden (Ständige Rechtsprechung des BVerfG, vgl. BVerfG v. 17.7.2002). Art. 6 Abs. 1 GG enthält eine verbindlicheWertentscheidung für die „Ehe“, die in der Rechtsordnung insgesamt zu beachten ist. Dies beinhaltet ein Benachteiligungsverbot und Schutzgebot zur Förderung von Ehe und Familie. Der Staat hat alles zu unterlassen, was die Ehe schädigt oder sonst beeinträchtigt. Sie darf nicht gegenüber anderen Lebensformen schlechter gestellt werden.

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Aus der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip lässt sich zwar die allgemeine Pflicht des Staates zu einem Familienlastenausgleich entnehmen, nicht aber die Entscheidung darüber, in welchem Umfang und in welcher Weise ein solcher sozialer Ausgleich vorzunehmen ist. Der Staat ist nicht verpflichtet, jegliche die Familie treffende finanzielle Belastung auszugleichen (BVerfG v. 29.10.2002).

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In jüngster Zeit sind Reichweite und Bedeutung dieser Institutsgarantie der Ehe aus verschiedenen Perspektiven diskutiert und neu interpretiert worden. Im Kontext der Verabschiedung des Gesetzes über die eingetragene Lebenspartnerschaft (LPartG) von homosexuellen Paaren, das seit dem 1.1.2001 in Kraft ist, wurde erneut und wird bis heute das verfassungsrechtliche Verhältnis der Lebenspartnerschaft zur „Ehe“ diskutiert, zumal durch die Novellierung des Lebenspartnergesetzes zum 1.1.2005 eine weitere rechtliche Angleichung der eingetragenen Lebenspartnerschaft an die Ehe im Unterhaltsrecht, im Zugewinn- und Versorgungsausgleich wie auch in der gesetzlichen Rentenversicherung erfolgte (§ 46 SGB VI).

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 Zunächst war umstritten, ob das Lebenspartnerschaftsgesetz überhaupt mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar sei und inwieweit die Institutsgarantie für die „Ehe“ erfordere, andere Lebensformen „im Abstand“ zur Ehe rechtlich auszugestalten. Nach verschiedenen, die Gleichbehandlung ablehnenden Urteilen kommt der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts in zwei Beschlüssen (BVerfG v. 7.7.2009; BVerfG v. 21.7.2010) zu dem Ergebnis, dass an die Rechtfertigung einer unterschiedlichen Behandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft im Recht zukünftig strenge Anforderungen gestellt werden müssen. Nur der Hinweis auf den besonderen Schutz der Ehe reiche nicht aus. Da nach Ansicht des Senats die Lebenspartnerschaft auf der Anerkennung unterschiedlicher sexueller Orientierung beruht, ist ihre Nichtdiskriminierung ein Gebot europäischen Rechts. Der Senat erkennt weiter an, dass für Ehe und Lebenspartnerschaft gemeinsame konstitutive Elemente gelten: Sie sind auf Dauer angelegt, rechtlich verbindliche Lebensbeziehungen und begründen eine gegenseitige Unterhalts- und Einstandspflicht.

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Ein entscheidender Impuls für diese veränderte Rechtsauffassung liegt in der Weiterentwicklung des Antidiskriminierungsrechts der Europäischen Union. Danach darf die „sexuelle Ausrichtung“ nicht Grund für eine ungleiche Behandlung sein (Art. 10, 19 AEUV, EG-Richtlinie 2000/78 sowie nach Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der EU). Diese allgemeinen Zielbestimmungen sind durch mehrere EU-Richtlinien zu Antidiskriminierung konkretisiert und in Deutschland durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) seit 2006 umgesetzt worden. Lebenspartner dürfen danach nicht gegenüber Ehepartnern wegen ihrer sexuellen Orientierung - § 1 AGG spricht von „sexueller Identität“ - benachteiligt werden. Obwohl die Europäische Union keine Rechtssetzungskompetenz für das Familienrecht der Mitgliedsstaaten hat, begründet das Antidiskriminierungsrecht weitreichende Auswirkungen auf die Gestaltung des nationalen Sozial- und Arbeitsrechts. Deutschland hat mit dem Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaften eine der Ehe „vergleichbare Situation“ geschaffen, indem Lebenspartner wie Ehegatten einander zur Fürsorge und zum Unterhalt verpflichtet sind. Daher müssen Ehe- und Lebenspartner gegenüber sozialen Risiken, wie z.B. in der Hinterbliebenenversorgung, gleich behandelt werden (EuGH v. 1.4.2008; EuGH v. 10.5.2011).

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Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich für den Schutzbereich des Art. 6 GG inzwischen an einem erweiterten Familienbegriff, an den tatsächlich gelebten Formen von Familie. Danach ist Familie „die umfassende Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern, seien diese ehelich oder nichtehelich“ (Jarrass/Pieroth, 2009 zu Art. 6 Rn. 6 m. w. N. aus der Rechtsprechung). Die Ehe ist nicht mehr die Voraussetzung für Elternschaft und für Familie i. S. d. Art. 6 GG. Geschützt sind alle Formen gelebter Eltern-Kind-Beziehungen. Dazu gehören Einelternfamilien und Familien mit Stief-, Adoptiv- und Pflegekindern. Auch Lebenspartnerschaften und nicht-eheliche Lebensgemeinschaften mit (gemeinsamen) Kindern stehen unter dem Schutz des Art. 6 GG.

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Damit eng verknüpft ist der grundrechtliche Schutz des Rechts und der Pflicht der Eltern zur Pflege und Erziehung der Kinder nach Art. 6 Abs. 2 GG. Die Verfassungsnorm geht zwar von dem Regelfall aus, in dem das Kind mit den durch die Ehe verbundenen Eltern in einer Familiengemeinschaft zusammenlebt und Vater und Mutter gemeinsam die Sorge für das Kind übernehmen. Der Schutz des Art. 6 Abs. 2 GG greift aber auch dann, wenn die Eltern nicht miteinander verheiratet sind. Vorrang hat die Gleichstellung der nicht in der Ehe geborenen Kinder gemäß Art. 6 Abs. 5 GG. Die Elternstellung zu einem Kind wird nicht allein durch Abstammung bestimmt; sie kann auch durch sozial-familiäre Verantwortungsgemeinschaft vermittelt werden. Art. 6 Abs. 1 und 2 GG erstrecken ihren Schutz somit auf die „soziale Familie im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft für Kinder“ und stärken ihren grundrechtlichen Schutz (BVerfG v. 9.4.2003). Ehe und biologische Abstammung sind damit nicht mehr konstituierende Merkmale von „Familie“ im Sinne des Grundgesetzes.

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Die Reform des Kindschaftsrechts von 1998 bezeichnet die rechtliche Wegmarke für ein verändertes Familienverständnis, indem der Gesetzgeber hier ausdrücklich der Eltern-Kind-Beziehung einen Vorrang vor der Paarbeziehung einräumt. Dahinter steht eine grundlegende Veränderung hin zu einem Familienrechtsverständnis, in dem auch die Kinder als eigenständige Rechtssubjekte angesehen werden. Das 1989 von der UNO-Vollversammlung verabschiedete Übereinkommen (UN-Kinderrechtskonvention), das am 5. April 1992 in Deutschland in Kraft getreten ist, sieht völkerrechtlich verbindliche Mindeststandards zum Wohl des Kindes und zur Berücksichtigung des Kindeswillens vor. Dazu gehören u.a. das Recht auf Bildung, Gesundheitsvorsorge sowie Schutz vor jeglicher Form von Gewalt, auch sexueller, und vor wirtschaftlicher Ausbeutung. Das Übereinkommen verlangt neben der Einhaltung der Kinderrechte die Bekanntmachung der Grundsätze sowie regelmäßige Rechenschaftsberichte.

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Nach Entscheidungen des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (v. 3.12.2009) und anschließend des Bundesverfassungsgerichts (v. 21.7.2010) hat der Gesetzgeber den Schutz der sozialen Familie zugunsten eines gemeinsamen Sorgerechts nicht miteinander verheirateter Eltern weiter erleichtert. Wenn nicht beide Eltern ohnehin eine gemeinsame Sorgerechtserklärung abgeben - was bei über 60% der nicht verheirateten Eltern der Fall ist ?, kann der Vater einen Antrag auf gemeinsames Sorgerecht stellen. Falls die Mutter widerspricht, entscheidet das Familiengericht, ob die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl entspricht. Anders als beim Sorgerecht hat der rechtliche Vater immer ein grundrechtlich geschütztes Umgangsrecht - genauso wie der Vater eines ehelichen Kindes.

Nach einer Trennung bzw. Scheidung bleibt es beim gemeinsamen Sorgerecht, es sei denn, ein Elternteil stellt einen Antrag auf Alleinsorge. „Stiefeltern“ (d. h. der Ehegatte/Lebenspartner eines allein sorgeberechtigten Elternteils) dürfen in „Angelegenheiten des täglichen Lebens“ im Einvernehmen mit dem sorgeberechtigten Elternteil mitentscheiden (§1687 b BGB). Befindet sich ein Kind längere Zeit in Familienpflege (§ 33 SGB VIII), geht der Gesetzgeber davon aus, dass zwischen dem Kind und seinen Pflegeeltern eine enge soziale Bindung entstanden sein kann. Deshalb ist auch die aus dem Kind und den Pflegeeltern bestehende Pflegefamilie durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. In einer Lebenspartnerschaft kann eine bzw. einer der Partner das leibliche wie auch das adoptierte Kind seines Lebenspartners bzw. seiner Lebenspartnerin auf Antrag annehmen ( BVerfGE v. 19.02.2013); das Kind wird gemeinschaftliches Kind beider Lebenspartner, für das beide die gemeinsame Sorge haben (§ 9 Abs. 7 LPartG, vgl. Hk-LPartR/Kemper [2006] § 9 Rn. 38).

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Die Familienrechtsreform, die am 1.1.2008 in Kraft getreten ist, hat schließlich mit ihren Neuregelungen im Unterhaltsrecht die Bedeutung der Ehe für die Verantwortungsgemeinschaft Familie rechtspolitisch weiter geschwächt und die Verpflichtung zu „nachehelicher Solidarität“ zeitlich begrenzt. Stattdessen wurde der Grundsatz der „Eigenverantwortung der Ehegatten“ in den Vordergrund gerückt (§ 1569 BGB). Die eigenständige Existenzsicherung soll die Regel sein. Beide Ehepartner haben seitdem verstärkt die Pflicht, nach einer Scheidung für den eigenen Unterhalt zu sorgen. Nacheheliche Unterhaltsansprüche des ökonomisch schwächeren Ehegatten, in der Regel nach wie vor der Frau, können mehr als bisher zeitlich befristet bzw. herabgesetzt werden (§ 1578 b BGB, vgl. BT-Drs. 16/1830 S. 16). Gleichzeitig wird aber die Pflicht, eine angemessene Erwerbstätigkeit auszuüben, betont (§§ 1573, 1574 BGB). Diese Verpflichtung kann auch bedeuten, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die unter dem Ausbildungsniveau liegt. Damit kann Müttern oder Vätern, die ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Familienvorsorge zurückgestellt haben, anders als bisher, auch ein sozialer Abstieg zugemutet werden. Da die Neuregelung des Unterhaltsrechts grundsätzlich auch die vor der Reform von 2008 geschlossenen und geschiedenen Ehen betrifft, die, bisher durch Gesetze und sozialpolitische Rahmenbedingungen gestützt, Lebensentwürfe mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung praktiziert haben, kann das neue Recht bei allen, die keine angemessene Beschäftigung finden, zu harten Einschnitten in gesichert geglaubte Rechtspositionen führen. Damit verletzt diese Neuregelung den üblichen rechtlichen Vertrauensschutz. Die neue Rechtslage sollte jungen Menschen klar sein, wenn sie sich für diese Lebensform mit traditioneller Arbeitsteilung entscheiden.

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Besonders umstritten ist der in der Praxis wichtige Unterhaltsanspruch wegen Betreuung gemeinsamer Kinder (§ 1570 BGB). Er wird jetzt grundsätzlich auf einen Basisunterhalt bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes begrenzt. Von den betroffenen Müttern und Vätern (in der Regel sind es jedoch nach wie vor die Frauen) wird eine je nach individueller Betreuungsbedürftigkeit des Kindes abgestufte Berufstätigkeit bis zur Vollzeittätigkeit erwartet. Die Verpflichtung zu einer (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit des Elternteils, bei dem die Kinder leben, führt in der Regel zu einer deutlich ungleichen Lastenverteilung beider Elternteile. Diese faktische Doppelbelastung der Alleinerziehenden wird inzwischen von den Familiengerichten berücksichtigt, nicht zuletzt im Hinblick auf die noch immer lückenhafte Ganztagesbetreuung. Nach der neuen Regelung des Unterhaltsrechts bietet eine Ehe auch dann keine Versorgungssicherheit, wenn Frauen zur Erziehung von Kindern im Einvernehmen mit ihrem Ehemann mehrere Jahre aus dem Beruf ausgeschieden waren oder nur in geringem Umfang eigenes Erwerbseinkommen erzielt haben. Erwerbsarbeit ist zum Rollenmodell und zur gesellschaftlichen Verpflichtung für beide Partner geworden. Die angebliche Wahlfreiheit zur Entscheidung über den Umfang der Erwerbsarbeit und die Verteilung der Aufgaben innerhalb einer Partnerschaft wird damit - im Blick auf eine Scheidung - obsolet. Noch ist politisch ungeklärt, wie das im Unterhaltsrecht verordnete Zweiverdienermodell und damit die Sorge für Kinder und Pflegebedürftige neben der Erwerbsarbeit auf Dauer angemessen gewährleistet werden soll. Die Neuregelungen stehen im Widerspruch zum bisher im westdeutschen Familienrecht vertretenen Prinzip der nachehelichen Solidarität und den Rahmenbedingungen der Arbeits- und Sozialpolitik, die nach wie vor Ehen mit einem Alleinverdiener bzw. Hauptverdiener finanziell begünstigen (vgl. dazu weiter unten Kap. 7).

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Neben bzw. unabhängig von diesem Ehegattenunterhalt ist der Kindesunterhalt neu geregelt und ein Mindestunterhalt für minderjährige Kinder eingeführt worden. Auch in dieser Hinsicht werden nun, wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert, nichteheliche und eheliche Kinder im Unterhaltsrecht gleich behandelt. Kinder, die von geschiedenen Elternteilen oder nicht verheirateten Elternteilen betreut werden, haben denselben Anspruch auf Kindesunterhalt; anders als früher werden sie nun in Bezug auf Höhe des Kindesunterhalts und die (auf drei Jahre verkürzte) Dauer des Betreuungsunterhalts gleich behandelt. Der Unterhaltsanspruch von minderjährigen und volljährigen Kindern, die noch im Elternhaus wohnen und sich in der allgemeinen Schulausbildung befinden (§ 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB), hat außerdem stets Vorrang auch vor dem Unterhaltsanspruch ehemaliger Ehepartnerinnen.

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Durch eine zunächst kaum beachtete Änderung des Personenstandsgesetzes ist die Evangelische Kirche in Deutschland schließlich auch herausgefordert worden, das evangelische Verständnis von Ehe und Eheschließung im Verhältnis zum staatlichen Eherecht zu überdenken. Die Neuregelung des Personenstandsgesetzes vom 1. Januar 2009 hob die frühere Vorschrift auf, wonach die standesamtliche, d. h. die bürgerlich rechtliche Eheschließung immer der kirchlichen Trauung vorausgehen musste. Mit dem Wegfall dieses Gebots entstand die Frage, ob es in Zukunft kirchliche Eheschließungen auch ohne vorherige rechtliche Bindung durch die Rechtsform der Ehe geben solle. Eine vom Rat der EKD eingesetzte Arbeitsgruppe, die sich intensiv mit dem Eheverständnis und der Traupraxis der evangelischen Kirche beschäftigte, kam zu dem Ergebnis, dass „es auch künftig in den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland keine rein kirchlich geschlossenen Ehen geben soll. Dem (in der gutachterlichen Äußerung) vorgetragenen evangelischen Verständnis von Ehe und Eheschließung entspricht es vielmehr, dass die Ehe als bürgerlich-rechtliche geschlossen und ihr in einem Gottesdienst Gottes Segen zugesprochen wird.“ (EKD-Texte 101, 22/23) Der Rat und die Kirchenkonferenz stimmten dem Ergebnis dieser Ausarbeitung zu und empfahlen sie als Orientierungshilfe, um weitere Aufgaben zu lösen, u. a.

  • „dass es angesichts der sich verändernden historisch-kulturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen geboten ist, sich neu über das evangelische Verständnis von Ehe und Eheschließung zu vergewissern, ...
  • dass auf die gegebene Vielfalt der Formen des Zusammenlebens liturgisch so zu reagieren ist,
  • dass für Paare, denen die römisch-katholische Kirche eine kirchliche Eheschließung ohne Anbindung an die Zivilehe anbietet, auf evangelischer Seite geeignete gottesdienstliche Formen zu entwickeln und zu erproben sind.“ (ebda. 24)
5. Theologische Orientierung

Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familialen Zusammenlebens bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und damit Orientierung geben. Ein normatives Verständnis der Ehe als „göttliche Stiftung“ und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus der Schöpfungsordnung entspricht nicht der Breite des biblischen Zeugnisses. Wohl aber kommt bereits in der Schöpfungsgeschichte zum Ausdruck, dass Menschen auf ein Gegenüber angewiesen sind, an dem sich die eigene Identität entwickelt. In diesem Sinne ist die Ehe eine gute Gabe Gottes, die aber, wie das Neue Testament zeigt, nicht als einzige Lebensform gelten kann. Die den Kindern Gottes zugesagte gleiche Würde jeder und jedes Einzelnen jenseits von Geschlecht und Herkommen und die erfahrbare Gemeinschaft in Christus in all ihrer Unterschiedlichkeit fordert die vorfindlichen Ordnungen immer neu heraus. Deswegen versteht die Reformation die Ehe als „weltlich Ding“; sie ist kein Sakrament, sondern eine Gemeinschaft, die unter dem Segen Gottes steht. Ihre Aufgabe besteht in der Bewahrung und Weitergabe des Lebens in den vielfältigen Formen der Sorge für andere über die Generationen hinweg. Die kirchlichen Segenshandlungen sind ein Zeichen für liebevolle Zuwendung, für Kontinuität und immer neue Aufbrüche im Bund Gottes mit seinem Volk und damit eine Ermutigung, in allen Veränderungen einen gemeinsamen Weg zu wagen. Angesichts von Brüchen und Versagen sind sie zugleich Ausdruck der Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade. Protestantische Theologie unterstützt das Leitbild der an Gerechtigkeit orientierten Familie, die in verlässlicher und verbindlicher Partnerschaft verantwortlich gelebt wird.

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„Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und er schuf sie als Mann und Frau.“ Mit diesen Worten aus dem zweiten Schöpfungsbericht beginnt die Textzusammenstellung, die evangelischen und katholischen Christen hierzulande aus der Trauliturgie vertraut ist. Am Ende steht dann das bekannte Jesuswort aus Matth 19,6: „Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden“: Mit der Agende erinnert die Kirche in jedem Traugottesdienst an das große Glück, einen Partner oder eine Partnerin fürs Leben zu finden und gemeinsam eine Familie zu gründen, und an die Bedeutung von Treue, Geduld und Vergebungsbereitschaft für die Liebe. Füreinander geschaffen zu sein und „auf ewig“ zueinander zu gehören, das entspricht dem Lebensgefühl der Paare bei ihrer Hochzeit; gegen alle Erfahrung zerbrechender Beziehungen, von Kinderlosigkeit und Auseinanderleben sind die Worte der Trauagende wie ein Schutzwall für Treue und Beständigkeit. Der „kirchliche Segen“, den die Paare und ihre Familien erbitten, soll die Liebe stark machen. Dabei wird ernst genommen, dass es in der Ehe keine Garantie für menschliches Glück gibt, vielmehr gilt das Trauversprechen gerade „in guten wie in bösen Tagen“. Denn „es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“. Über der inneren Zustimmung zu dieser Erfahrung kann in den Hintergrund treten, was uns heute in diesen Texten fremd ist, etwa dass das Schöpfungsgeschehen vom Mann her gedacht ist, die Frau als „Gefährtin“ des Mannes verstanden wird, als „Hilfe, die ihm gleich sei“ - oder dass das Paar einander, vor allem aber die Frauen ihren Ehemännern „untertan sein sollen“, weil „der Mann des Weibes Haupt“ sei (Eph 5).

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Diese Worte von der „Stiftung und Ordnung des Ehestandes“, wie es in älteren Agenden hieß, haben das Bild der christlichen Ehe und darüber hinaus die gesellschaftlichen Normvorstellungen entscheidend geprägt. Nicht erst seitdem das Zerrüttungsprinzip im Ehe- und Familienrecht eingeführt wurde, haben Generationen von Paaren sich aus Anlass ihrer kirchlichen Trauung mit der Frage auseinandergesetzt, ob sie einander tatsächlich Treue für ein ganzes Leben versprechen könnten - „bis dass der Tod euch scheidet“: Umgekehrt hat sich auch die evangelische Kirche lange schwergetan, wieder verheiratete Geschiedene zu trauen. Die enge Verbindung von Ehe und Familie, wie sie auch die Auslegung des Grundgesetzes lange Zeit leitete, wird in der Trauagende biblisch begründet.

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Dabei konnte leicht übersehen werden, dass die Bibel im Alten und Neuen Testament das familiale Zusammenleben in einer großen Vielfalt beschreibt: Nach heutigen Begriffen gibt es Patchwork-Konstellationen wie bei Abraham, Sarah und Hagar mit ihren Kindern, zusammenlebende Geschwister wie bei Maria und Martha und tragende Beziehungen zwischen Familienmitgliedern verschiedener Generationen wie bei Rut, Orpa und Noomi. Von den vielfältig beschriebenen Formen des Zusammenlebens sind aus heutiger Sicht einige leichter, andere schwerer nachvollziehbar: Die gleichzeitige Sorge eines Mannes für zwei Frauen und ihre Kinder wie bei Jakob mit Lea und Rahel erscheint heute vielleicht weniger befremdlich als noch unserer Eltern- oder Großeltern-Generation, dagegen können wir den Druck auf Frauen, Mutter eines „Stammhalters“ zu werden, immer weniger nachvollziehen. Dass im alten Israel mit der Heirat ein patriarchales Eigentumsverhältnis konstitutiert wurde, wobei mehrere Frauen Eigentum eines Mannes sein konnten, gehört zu den vergessenen Teilen der jüdisch-christlichen Geschichte; manches davon kehrt wieder in den Auseinandersetzungen mit anderen Kulturen und Religionen. Klar ist jedenfalls: Im Mittelpunkt der biblischen Familiengeschichten steht weniger die persönliche Liebesbeziehung oder das individuelle Glück als der Erhalt und das Wachstum der Familie und ihres Besitzes und das Miteinander der Generationen.

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Dabei beschreiben die biblischen Erzählungen nicht selten Probleme und Spannungsfelder, die auch uns vertraut sind: Konflikte zwischen Alten und Jungen, Streit zwischen Geschwistern, das Ringen um einen geliebten Menschen. In den Erzählungen finden wir die ganze Vielfalt der Gefühle des partnerschaftlichen und familiären Beziehungslebens: Erfahrungen von Verlust, Eifersucht und Scheitern stehen neben Versöhnung, überschäumendem Glück und tief gewachsenem Vertrauen. Die Bibel erzählt von der Freude über die gefundene Liebe wie bei Isaak und Rebekka und von der großen Liebe zwischen Jakob und Rahel, für die Jakob sieben Jahre bei seinem Verwandten Laban arbeitete - „und es kam ihm vor, als wären es einzelne Tage, so lieb hatte er sie“. Das „Hohelied“ feiert in poetischen Worten die Schönheit und das Glück der sexuellen Begegnung, während die Geschichte von David und Bathseba auch Ehebruch und Intrige beim Namen nennt. Die Bibel erzählt von der Kindersegnung Jesu und der Sorge von Eltern, die sich bei Jesus um eine Zukunft für ihre kranken Kinder einsetzen, aber auch von der Macht der Väter und dem Gehorsam, den Familien den Frauen wie den Söhnen und Töchtern abverlangten. Wer sie liest, entdeckt große Familien- und Liebesgeschichten, die nicht nur die Weltliteratur, sondern auch unser Verständnis vom Miteinander in Familien prägten. Sie zeugen aber auch von kulturellen Traditionen, gesellschaftlichen Zwängen und einem überholten Rollenverständnis.

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Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familiären Zusammenlebens, bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und welche Orientierung sie damit geben. Über lange Zeit hat die Kirche (nicht nur mit ihren Trauagenden) eine Vorstellung der Ehe als Schöpfungsordnung vermittelt, die der Natur des Menschen eingeschrieben sei. Damit begründete man auch die über lange historische Zeiträume geltende Geschlechter-Hierarchie, die sich in den biblischen Schöpfungsberichten spiegelt. Entsprechend prägte die Vorstellung des Familienvaters als Oberhaupt der Familie auch die Rechtssetzung. Einige biblische Texte übertragen die Gottesbeziehung zu seinem Volk, die Macht des Gottvaters gegenüber seiner Schöpfung oder das Verhältnis von Christus zur Kirche auf die Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Dominanz des Mannes, die sich darin abbildet, erschien lange selbstverständlich. Das Besondere an diesen Texten ist aber, dass sie von einer großen, geradezu eifersüchtigen Liebe erzählen, wie die Propheten es tun, und - wie die Pastoralbriefe - die fürsorgliche Zuwendung zu Frauen und Kindern in den Mittelpunkt rücken.

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Auch für die Reformatoren war Ehe und Familie vor allem durch die göttliche Liebe geprägt. Für sie war die Ehe aber auch eine soziale Gemeinschaft, die in der größeren Gemeinschaft der Gläubigen aufgeht und von ihr getragen wird. Dabei wurde beiden Geschlechtern eine je eigene Bedeutung zugewiesen: Mit der von Luther geprägten Vorstellung vom Beruf als innerweltlichem Gottesdienst wurde auch die Mutterschaft neu interpretiert: Die Rolle der Hausfrau, Mutter und Gattin als Mittelpunkt der Familie wurde für Jahrhunderte prägend und spiegelt sich bis heute in den Konzepten von Familien- und Sozialpolitik. Mit dieser Vorstellung von Mutterschaft als Beruf ging nicht nur die Aufteilung von Geschlechterrollen, sondern auch die Erfindung von Kindheit als eigenständiger Lebensphase einher. Sie hat sich seit dem 18. Jahrhundert immer deutlicher entwickelt und wurde mit dem spezifisch weiblichen Erziehungsauftrag verknüpft, hinter dem die Überzeugung von einer besonderen Qualität der „Mutterliebe“ stand, die bis heute eine große Rolle spielt. Dabei wird die „natürliche“ Bindung der Mütter an ihre Kinder ebenso hervorgehoben wie die besondere Begabung von Frauen zu Erziehung und Pflege. Vor diesem Hintergrund entstand das Ideal der bürgerlichen Familie als Raum der Liebe und Fürsorge, dessen hierarchische Geschlechterordnung allerdings spätestens mit den Emanzipationsbewegungen des 19. Jahrhunderts erheblich in die Kritik geriet. Angesichts starrer Geschlechterrollen und Moralkonzepte fehlte es vor allem Frauen an eigenen Entfaltungsmöglichkeiten. Heute wissen wir: Ein Verständnis der bürgerlichen Ehe als „göttliche Stiftung“ und der vorfindlichen Geschlechter-Hierarchie als Schöpfungsordnung entspricht weder der Breite biblischer Tradition noch dem befreienden Handeln Jesu, wie es die Evangelien zeigen.

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In den Texten des Neues Testaments wird deutlich: Das Miteinander in Ehe und Familie ist wichtig, ist aber nicht die einzig mögliche Lebensform. Das Leben Jesu selbst ist voller eindrücklicher Beispiele für diese Überzeugung: Im Licht der baldigen Erwartung des künftigen Gottesreiches entscheidet er sich für ein eheloses Leben und ruft seine Jüngerinnen und Jünger auf, ihre Familien zurückzulassen, um mit ihm zu gehen (u. a. Mk 1,19). In dieses Bild passt auch die schroffe Zurückweisung, mit der Jesus seinen Eltern schon als Junge im Tempel (Lk 2,48-50), dann später noch einmal seiner Mutter und den eigenen Brüdern begegnet (Lk 8,19-21). Auch wenn es den Erwartungen eines exklusiven Verhältnisses von Eltern und Kindern, Geschwistern und Familien widerspricht, lässt sich daran ablesen, dass wir jenseits der engeren ehelichen und familiären Beziehungen in einer größeren Gemeinschaft, der Gemeinschaft in Gott, leben. Diese Überschreitungen familiärer Exklusivität gewinnen in der Geschichte der Kirche immer wieder neu Gestalt: in der Geschwisterlichkeit von Gemeinden, der Familiaritas von Klöstern, dem Aufbau ganz neuer Lebensgemeinschaften oder dem Patenamt, das keinesfalls nur nach dem Tod der Eltern Bedeutung gewann, wie viele meinen, sondern den biologischen Eltern eine soziale und geistliche Elternschaft zur Seite stellte, um Kinder in die Familie Gottes einzuführen.

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Dieser Zugehörigkeit zur Familie Gottes und der Nachfolge Jesu gebührt im Neuen Testament letztlich der Vorrang. Auch der Apostel Paulus will dieser Vorstellung mit seinem eigenen ehelosen Leben Ausdruck verleihen. Vor allem aber unterstützt er sie durch die Botschaften seiner Briefe: Im Bewusstsein ihrer Zugehörigkeit zu Gott, von ihrer Gotteskindschaft her, sollen Menschen das Leben gestalten (Röm 8,14ff.). Und in der Gemeinde wird diskutiert, ob Frauen oder Männer, die Christen geworden sind, ihre heidnischen Ehepartner besser verlassen. Dagegen allerdings spricht Paulus sich aus, weil Christen auch ihre heidnischen Partner „heiligen“ können. Gegen die Vorstellung von einem asketischen Leben als christlichem Ideal, das vor allem das klösterliche Leben und die Schriften der Kirchenväter prägte, setzte sich in der jungen Kirche recht schnell wieder das Leben in Familienverbünden als vorwiegende Lebensform christlicher Gemeinschaften durch (1. Tim 3,2ff.). Gleichwohl blieb im Bewusstsein, dass Reden und Handeln auf eine letzte Wirklichkeit Gottes verweisen, die über das „Heiraten“ und „Verheiratet-Werden“ hinaus geht, und dass wir vor Gott weder auf unser Mann- oder Frausein noch auf unsere soziale Stellung festgelegt sind. Mit der Entdeckung der Rechtfertigung und Gleichheit aller „Kinder Gottes“ (Gal 3,26-28) gewannen Christinnen und Christen die Freiheit, die Schicksalhaftigkeit familiärer und sozialer Bindungen aufzulösen, den eigenen Lebensentwurf zu gestalten, der eigenen Berufung zu folgen und sich aus eigener Entscheidung in neue Bindungen zu stellen. So festigt Jesus selbst noch in seinem Sterben jenseits der bestehenden familiären Bindungen eine neue fürsorgliche Beziehung - zwischen seinem „Lieblingsjünger“ und seiner Mutter Maria: „Mutter, das ist dein Sohn.“

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Menschsein gestaltet sich von Anfang an bis zum Ende in Beziehungen, wir werden am Du erst zum Ich und bleiben aufeinander angewiesen. Freiheit und verantwortliche Bindung als Gegensatz zu verstehen wäre deshalb völlig verfehlt. So ruft Jesus zwar Männer und Frauen aus ihren familiären Beziehungen in die Nachfolgegemeinschaft, betont aber zugleich mit dem Scheidungsverbot die Verantwortung der Ehepartner füreinander - vor allem wohl die der Ehemänner für ihre Frauen, die auf männlichen Schutz angewiesen waren, da sie keine eigenen Rechte hatten. Eine solche ökonomische Abhängigkeit und Schutzlosigkeit erleben Frauen in den westlichen Gesellschaften nicht mehr; nur an der Situation von Kindern während einer Scheidung kann noch etwas davon spürbar werden. Im Streit um Unterhaltspflichten und elterliche Sorge zeigt sich die prekäre Situation von Kindern und Jugendlichen, die noch nicht auf eigenen Füßen stehen und deshalb Zuwendung und Stabilität brauchen. Das Scheidungsverbot Jesu erinnert die Paare und Eltern an ihre Verantwortlichkeit und macht Kirche und Gesellschaft deutlich, dass Verlässlichkeit für jede Gemeinschaft konstitutiv sind, weil sie die Schwächeren schützen und damit erst den Spielraum für Freiheit und Entwicklung eröffnen.

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Auch die Texte der Schöpfungsgeschichte erzählen davon, dass jeder Mensch Familie hat und somit - nach Gottes Willen - in eine gemeinschaftliche Lebensgestalt hineingeboren wird. Zugleich erinnern sie daran, dass der Mensch auf ein Gegenüber angewiesen ist, wie es in neueren Übersetzungen heißt, auf „eine Hilfe, die ihm gleich sei“, einen Menschen auf Augenhöhe, der spannungsreich anders, aber doch ebenbürtig ist. Im Glück sexueller Begegnung „erkennen“ Menschen im Partner oder der Partnerin den anderen wie sich selbst, in der körperlichen Hingabe erleben wir ganz unmittelbar Verschmelzung und Angewiesensein; der andere ist „Fleisch von meinem Fleisch“, wie es im Schöpfungsbericht heißt. Das Angewiesensein auf andere macht uns also gerade nicht unfrei, sondern setzt erst viel von dem frei, was unsere Person ausmacht. Dazu gehört das Hineinwachsen in eine Familie und die Auseinandersetzung mit ihren kulturellen und religiösen Traditionen, aber auch die Liebe zu einem Menschen als dem ganz anderen, in dem wir die Gottesebenbildlichkeit entdecken. Erst in der Auseinandersetzung mit Eltern und Geschwistern und in der Erfahrung der Differenz zu einem Partner oder einer Partnerin finden wir unsere eigene Identität, erst in der Erfahrung der eigenen Unvollkommenheit und Angewiesenheit reifen wir zu erwachsenen Menschen. Dazu gehört auch die Offenheit für ein neues Leben und die Bereitschaft, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Die ersten Geschichten der Bibel stellen diesen immer auch gefährdeten Weg eines Paares, einer Familie unter den Schöpfungssegen Gottes und unter seinen Schutz. Das gilt auch nach dem so genannten „Sündenfall“, den wechselseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen, den Erfahrungen von Scham, Schmerz und Trennung, die auch die engste Gemeinschaft zu zerreißen drohen.

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Bei aller Hochschätzung als „göttlich Werk und Gebot“ erklärte Martin Luther die Ehe zum „weltlich Ding“, das von den Partnern gestaltbar ist und gestaltet werden muss. Dies kam liturgisch darin zum Ausdruck, dass nach Luthers Traubüchlein die Eheschließung vor der Kirchentür vollzogen wurde, sodass der anschließende Gottesdienst nicht mit dem Brautpaar, sondern mit dem Ehepaar gefeiert wurde. Die Ehe ist also für die evangelische Kirche kein Sakrament wie Taufe und Abendmahl; sie ist nicht von Jesus selbst eingesetzt und ist keine absolut gesetzte Ordnung, auch wenn wir uns ihre lebenslange Dauer wünschen. In einem Traugottesdienst feiern wir mit dem Paar, mit Freunden und Familien, dass die beiden „sich getraut“, sich den gemeinsamen Weg zugetraut und ihr Leben anvertraut haben, und bitten um Gottes Segen für diese Entscheidung und die gemeinsame Zukunft - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aus diesem evangelischen Verständnis erwächst eine große Freiheit im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen, die angesichts der Herausforderungen der eigenen Zeit immer wieder neu bedacht und oft auch erst errungen werden muss. Das zeigt sich im Umgang mit Scheidungen und Geschiedenen genauso wie mit Alleinerziehenden oder auch mit gleichgeschlechtlichen Paaren. Gesellschaftliche Emanzipationsprozesse haben die Ordnungen von Ehe und Familie ebenso verändert wie Geschlechterrollen, Beziehungen und Konventionen. Das geht nicht ohne Verunsicherungen und Auseinandersetzungen vor sich. Vielleicht ist auch deshalb der Wunsch, Liebe verbindlich und verantwortlich zu gestalten und den gemeinsamen Weg unter den Segen Gottes zu stellen, nach wie vor so stark.

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Die biblischen Texte lassen sich als eine Geschichte des Segenshandelns Gottes lesen. Beginnend mit dem Schöpfungssegen über das Zeichen des Regenbogens und die Verheißung von Zukunft nach der großen Flut bis zum Sinaibund mit Israel und weiter mit den Segenshandlungen Jesu wird Menschen immer wieder Gottes Liebe und Gnade zugesprochen, werden Neuanfänge auch in Krisensituationen ermöglicht. Dieses Segenshandeln Gottes kommt im kirchlichen Leben mehrfach zum Ausdruck: von der Taufe über Konfirmations- und Trausegen bis zur Aussegnung Verstorbener. So betrachtet, ist die Trauung ein Schritt auf einem gemeinsamen Weg - mit dem Versprechen, diesem Segens- und Versöhnungshandeln Gottes auch im menschlichen Miteinander zu entsprechen. Deshalb betont die EKD-Denkschrift von 1994, im Ja des Paares zueinander werde das Ja Gottes zum Menschen erfahrbar. Im Brennglas des besonderen Augenblicks wird deutlich: Es geht darum, auf dem gemeinsamen Weg für Gottes Wirklichkeit und Nähe offen zu bleiben, Veränderungsprozesse zu gestalten, Krisen zu bestehen, Neuanfänge zu wagen. Und es geht darum, einander zu verlässlichen Bündnispartnern und zum Segen zu werden.

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Die kirchlichen Segenshandlungen lassen sich aus evangelischer Sicht als Ausdruck der Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade - und eben nicht aufgrund bestimmter Leistungen - verstehen. Beim Segen geht es nicht nur um die Besiegelung des erfahrenen Glücks, sondern vielmehr und wesentlich um den wirkmächtigen Zuspruch von Zukunft. Segen ist das Versprechen der Begleitung und Nähe Gottes, die auch die nächste Generation und zukünftige Nachkommen mit einbezieht. Menschen können sich Liebe und Zukunft versprechen, weil sie selbst in der Erfahrung leben, von Gott gesegnet zu sein. Wird der Segen einem Paar zugesprochen, steht er als Zuspruch der bleibenden Gottesbeziehung über der Bindung dieser beiden. Dabei kann er zugleich als Zuspruch gegenüber überfordernden gesellschaftlichen Erwartungen gehört und geglaubt werden. In diesem Augenblick, in dem Gottes Wort hörbar wird und gemeinsam gebetet wird, in dem der Segen in der Handauflegung spürbar wird, kann deutlich werden, dass Gottes Zuwendung und Liebe als Kraftquelle stärker sind als menschliche Erwartungen und menschliches Versagen. Damit ist auch die Ermutigung verbunden, das gemeinsame Leben von der erfahrenen Liebe her zu gestalten und von Gottes Liebe umfangen zu lassen, was immer geschieht.

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Die Frage nach der Segnung homosexueller Paare und der Gleichstellung homosexueller Partnerschaften, die sich darin ausdrückt, bewegt die evangelische Kirche seit Langem und ist nach wie vor umstritten. Im Kern geht es bei diesem Thema um das evangelische Verständnis der kirchlichen Trauung angesichts neuer Lebensformen. Es geht aber auch um die Frage, wie biblische Texte - zum Beispiel der Schöpfungsbericht - auszulegen sind und welche Rolle dabei die historische und gesellschaftliche Einordnung spielt. Deutet man die biblischen Aussagen, in denen Homosexualität als Sünde gekennzeichnet wird (3. Mose 18,22; 20,13; Röm 1,26-27), als zeitlos gültig, kann man zu der Meinung kommen, eine homosexuelle Partnerschaft sei mit einer heterosexuellen keinesfalls vergleichbar. Allerdings gibt es auch biblische Texte, die von zärtlichen Beziehungen zwischen Männern sprechen. Fragt man jenseits dieser einzelnen Textstellen nach dem, was menschliche Beziehung in Gottes Schöpfung ausmacht, dann ist zu konstatieren: Der Mensch wird von Anfang an als Wesen beschrieben, das zur Gemeinschaft bestimmt ist (1. Mose 2,18). Durch das biblische Zeugnis hindurch klingt als „Grundton“ vor allem der Ruf nach einem verlässlichen, liebevollen und verantwortlichen Miteinander, nach einer Treue, die der Treue Gottes entspricht. Liest man die Bibel von dieser Grundüberzeugung her, dann sind gleichgeschlechtliche Partnerschaften, in denen sich Menschen zu einem verbindlichen und verantwortlichen Miteinander verpflichten, auch in theologischer Sicht als gleichwertig anzuerkennen. Nutzen homosexuelle Menschen heute die rechtliche Möglichkeit der eingetragenen Partnerschaft, dann erklären sie, wie heterosexuelle Menschen, bei der Eheschließung öffentlich ihren Willen, sich dauerhaft aneinander zu binden und füreinander Verantwortung zu tragen.

Manches heterosexuelle Paar entscheidet sich bewusst gegen Kinder oder bleibt aus anderen Gründen kinderlos und gestaltet seine Generationenbeziehungen dennoch schöpferisch und verantwortlich. Dass homosexuelle Paare gemeinsam keine Kinder zeugen können, kann deshalb kein Grund sein, ihnen den Segen zu verweigern. Tatsächlich leben viele homosexuelle Paare als Familie mit Kindern aus früheren Beziehungen oder mit Kindern, die durch eine Samenspende gezeugt wurden. Es zählt zu den Stärken des evangelischen Menschenbilds, dass es Menschen nicht auf biologische Merkmale reduziert, sondern ihre Identität und ihr Miteinander in vielfältiger Weise beschreibt. Hinter der Vielfalt, die wir in familiären und partnerschaftlichen Beziehungen erleben, stehen gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse. Die Erleichterung von Trennungen und Scheidungen, das Entstehen von Patchworkfamilien, homosexuellen Partnerschaften mit und ohne Kinder bringen offene Fragen mit sich. Zu den Veränderungsprozessen, mit denen Menschen persönlich konfrontiert sind, gehören neue Aufbrüche genauso wie Konflikte. Dass Menschen in solchen Situationen um Segen und Begleitung bitten, wenn der christliche Glaube in ihrem Leben eine Rolle spielt, ist verständlich und zu begrüßen. Die Diskussionsprozesse in einigen evangelischen Landeskirchen sind Ausdruck des geistlichen Ringens um das evangelische Verständnis von Familie und Partnerschaft angesichts des gesellschaftlichen Wandels und eines erweiterten Familienbegriffs auch im Recht.

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Liebe gilt als die intensivste persönliche und exklusive Beziehung zwischen zwei Menschen, und sie wird gerade in einer erfüllten sexuellen und erotischen Beziehung auch so erfahren. Das kann sich mit der Rechtsgestalt von Ehe und Familie reiben - sei es, dass die Ehe die Liebe erstickt, wie es vergangene Generationen angesichts der faktischen Unmöglichkeit, sich zu trennen, erfahren haben, oder sei es, weil Liebesbeziehungen sich in der Rechtsordnung nur unzureichend abbilden, wie es homosexuelle Paare immer noch erleben. Die letzten Jahrzehnte haben anschaulich gezeigt, wie sich das Recht unter gesellschaftlichen Veränderungen und dem Mentalitätswandel selbst verändert. Heute erscheinen die Institutionen Ehe und Familie nicht mehr als unveränderliche Ordnung, vielmehr sind sie eine Gestalt unseres Zusammenlebens, die Verbindlichkeit und Verlässlichkeit ermöglicht. Mit der zunehmenden Individualisierung und dem Strukturwandel der Familie in den letzten Jahrzehnten wurden die Rechte von Frauen und Kindern gestärkt. Diese Entwicklung ist jedoch nicht als Bedrohung oder Zerfall der Familie zu begreifen. Vielmehr geht es darum, die partnerschaftliche Familie zum Leitbild zu erheben und Chancengleichheit und Fairness innerhalb der Familie einen entscheidenden Wert beizumessen (Gerhard 2009). Denn die Erfahrung zeigt, dass Liebesbeziehungen, die auf der wechselseitigen Anerkennung als Partner mit gleichen Rechten und Pflichten beruhen, erst jene Stabilisierung bieten, die „die Ebbe und Flut der Zuneigung aushalten können“ (Kleingeld/Anderson 2008, 29). An Gerechtigkeit orientierte Familienkonzeptionen kritisieren ein Liebesideal, das auf „unfairen“ bzw. „ungleichen Chancen für die Einzelnen“ (Rawls 1979, 94 u. 555) beruht. Sie können sich dabei auf den Umgang Jesu mit rechtlosen Frauen und mit unmündigen Kindern berufen.

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Heute verstehen sich Menschen bei einer Eheschließung oder bei der Begründung einer Lebenspartnerschaft grundsätzlich als Gleiche, die mit dem Ehevertrag eine liebevolle und verlässliche Lebensbindung eingehen. Dabei steht das Recht nicht im Gegensatz zur Liebe, vielmehr ist Gerechtigkeit in der Liebe enthalten. „Liebe ohne Gerechtigkeit ist wie ein Körper ohne Rückgrat“, schreibt Paul Tillich (1956) in einem Aufsatz über die „Moral der Liebe“. „Die Gerechtigkeit in der Liebe macht es unmöglich, dass man im Namen der Liebe die Selbstzerstörung des anderen verlangt. Gerechtigkeit schützt (vielmehr) die Unabhängigkeit derer, die in einer Liebesbeziehung stehen.“ Mit der Freiheit moderner Menschen, ihr berufliches Leben unabhängig vom Herkommen zu gestalten und ihren Lebenspartner unabhängig von Konventionen zu wählen, wachsen allerdings auch die Erwartungen aneinander wie an das Gelingen des eigenen Lebens. Die Freiheit und Unabhängigkeit der Frauen und die erleichterte Möglichkeit für Paare, sich auch wieder zu trennen, kann dazu führen, dass die Partnerschaft immer wieder auf den Prüfstand gestellt wird - gerade dann, wenn die beruflichen oder familiären Lebensbedingungen sich verändern.

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Erwachsene haben meistens die Möglichkeit und zugleich die Pflicht, viele Entscheidungen für sich und andere zu treffen, für ihr Leben und Überleben zu sorgen. Kinder sind aber in vielerlei Hinsicht abhängig von ihren Eltern und der Familie. Ihnen auch in Trennungen und Scheidungen Verlässlichkeit und Heimat und in stabilen Beziehungen die nötige Freiheit zu geben, das gehört heute zu den größten Herausforderungen: Eltern, die ihre Kinder erzogen haben, müssen sie vielleicht auch noch stark unterstützen, wenn sie schon erwachsen sind. Paare sorgen sich um Pflegebedürftige in der Familie. Partner pflegen ihre erkrankten Frauen, junge Kinder kümmern sich um psychisch kranke Eltern. Für andere verantwortlich zu sein, aber auch auf andere angewiesen zu sein, kann Familienmitglieder überfordern. Aber mit wechselseitigem Vertrauen und in offen und konstruktiv ausgetragenen Konflikten können sich neue Perspektiven öffnen. Dazu braucht es aber gute Rahmenbedingungen und Unterstützung, Rat und Hilfe von Dritten und schließlich die Erfahrung und Hoffnung, auch spannungsreiche Situationen gemeinsam durchstehen und bestehen zu können.

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Die Evangelische Kirche in Deutschland würdigt die Rechtsform der Ehe als besondere „Stütze und Hilfe“: „Sie schafft und sichert dauerhaft und folgenhaft die durch ihren Öffentlichkeitscharakter dokumentierte wechselseitige Verantwortlichkeit und Verlässlichkeit, aber auch den Schutz des Schwächeren in der Partnerschaft.“ (EKD-Texte 101, 15). Menschen, die Kindern beim Aufwachsen zur Seite stehen, die kranke oder ältere Famlienmitglieder unterstützen, leisten zugleich einen wichtigen Dienst an der Gesellschaft. Familiäres Zusammenleben ist aber gefährdet, wenn wirtschaftlicher Druck, Zeitknappheit, kulturelle Normen keine Rücksicht auf diese so wichtige, oft aber auch asymmetrisch geteilte Verantwortung und Sorge füreinander nehmen. Deswegen ist es aus kirchlicher Sicht erforderlich, das fürsorgliche Miteinander von Familien zu stärken - das gilt im Blick auf Zeit für Erziehung und Pflege genauso wie im Blick auf sozialpolitische und steuerliche Aspekte der Familienförderung und die Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen. Dabei müssen heute alle Formen, Familie und Partnerschaft zu leben, berücksichtigt werden. Im Wandel der Lebensformen, der auch die Stärke von Familie ausmacht, bleiben die wechselseitigen Bindungen, die Familie konstituieren, auf gesellschaftliche und institutionelle Stützung angewiesen. Hier bieten neben Ehe und Elternschaft heute auch eingetragene Partnerschaften einen rechtlichen Anknüpfungspunkt. Wo sich Menschen in den ihre Beziehungen entscheidenden Lebenssituationen unter den Segen Gottes stellen wollen, sollte sich die Kirche deshalb auch aus theologischen Gründen nicht verweigern, denn „nach reformatorischem Verständnis sind die Aussagen der Bibel zum Zusammenleben der Menschen in ihrer Vielfalt zu beachten und an der Nähe zur Botschaft von der Versöhnung der Welt in Christus und der Rechtfertigung der Menschen bei Gott durch Jesus Christus zu messen“. (EKD-Texte 101, 13)

6. Herausforderungen und Brennpunkte der Familienpolitik

Familien sind sinnstiftender Lebensraum und Orte verlässlicher Sorge. In Familien werden unverzichtbare Leistungen für Wirtschaft und Gesellschaft erbracht und sozialer Zusammenhalt gestiftet. Sie stehen nach wie vor an erster Stelle, wenn Menschen in Notlagen geraten. Andererseits werden Familien auch vor neue gesellschaftliche Erwartungen und Anforderungen gestellt und fühlen sich zum Teil erheblich überfordert. Alle Familien sind deshalb darauf angewiesen, dass ihre Leistungen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft anerkannt und unterstützt werden.

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Familien werden heute weniger als Rechtsgemeinschaft mit festen Rollen von Mann und Frau, Eltern und Kindern verstanden. Sie sind unterschiedlicher geworden, verändern sich, aber sie funktionieren und entwickeln ihre eigenen Stärken. Die meisten Menschen wünschen sich Familie und sehnen sich danach, in einer Familie zu leben. Studien wie die Shell-Jugendstudie zeigen, dass die Beziehungen zwischen Kindern und ihren Eltern liebevoller und wärmer geworden sind; Eltern sind oft wichtige Vorbilder, aber auch die Freundinnen und Freunde ihrer Kinder. Gleichwohl zerbrechen Familien an äußerer und innerer Überforderung; sie brauchen deshalb Zeit füreinander, gesellschaftliche Unterstützung und Hilfe in Krisensituationen. Im Folgenden sollen die wichtigsten „Brennpunkte“ angesprochen werden, die Familien heute erleben und in denen sich neue Herausforderungen und Veränderungsprozesse exemplarisch spiegeln.

6.1 Zeit füreinander - Alltag und Fest

Gemeinsame Zeit in der Familie entsteht nicht von selbst, sondern muss aktiv von den Familienmitgliedern „hergestellt“ werden. Erwerbsarbeitszeit, Schule und Unterricht, Freizeit, Sport und ehrenamtliches Engagement finden in unterschiedlichen Rhythmen und zu unterschiedlichen Zeiten statt, stellen verschiedene Ansprüche an die Einzelnen und können miteinander kollidieren. Familien brauchen aber gemeinsame Zeit, um sich als zusammengehörig zu erfahren. Gemeinsame Feiern, Feste und Rituale stützen und stärken den Zusammenhalt. Unverzichtbar ist der Sonntag als gemeinsamer erwerbs-, schul- und einkaufsfreier Tag, an dem für Gottesdienst, Gemeinsamkeit und Muße Zeit ist.

6.2 Erwerbsarbeit und Sorgetätigkeiten in der Familie

Die Gleichzeitigkeit von Erwerbsarbeit und familiärer Sorge wird vor allem als Problem der Kinder und ihrer Mütter wahrgenommen. Erst in jüngster Zeit sind familienfreundliche Arbeitszeiten auch ein Thema für Väter. Die Zunahme der Mütter-Erwerbstätigkeit geht vor allem auf eine Zunahme von Teilzeitarbeit und prekärer Beschäftigung zurück, das Erwerbsarbeitsvolumen von Frauen hat dagegen nicht zugenommen. Gleichwohl hat das zumindest in Westdeutschland lange vorherrschende männliche Ernährermodell an Dominanz eingebüßt und ist durch vielfältige Arrangements abgelöst worden: das modernisierte Ernährermodell mit der zuverdienenden Partnerin, zwei in Vollzeit erwerbstätige Elternteile, aber auch Frauen als Familienernährerinnen, insbesondere im Falle der Alleinerziehenden. Unabhängig davon, wie viele Stunden Frauen erwerbstätig sind, obliegt ihnen in jedem Fall die Hauptlast der Haus- und Sorgearbeit. Zwar hat der technische Fortschritt die Hausarbeit zum Teil erleichtert und verändert, doch ist das Stundenvolumen gleich geblieben. Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit in der Familie ist vor allem durch persönliche Beziehungen geprägt und nicht gleichermaßen von bezahlten Kräften leistbar. Wo das dennoch geschieht, handelt es sich in der Regel um Schwarzarbeit oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse, in denen Hausarbeit auf andere Frauen, meistens Migrantinnen, verlagert wird.

6.3 Erziehung und Bildung

Die gesellschaftlichen Debatten über Bildung und Erziehung haben sich in den letzten Jahren stark verändert: Galt bis vor Kurzem in Westdeutschland noch die Devise, dass Erziehung in der Familie stattfinde, der Kindergarten für ergänzende Betreuung zuständig sei und mit dem Schuleintritt der Bildungsweg beginne, so werden diese Zuordnungen heute grundlegend in Frage gestellt. Familien begegnen mehr denn je dem Anspruch, die Bildungsfähigkeit der Kinder zu verbessern, den Grundstein für qualifizierte Ausbildungen und höhere Studierquoten zu legen sowie für eine bessere Verwendbarkeit auf dem Arbeitsmarkt („employability“) zu sorgen. Dabei ist Bildung, wie Studienabschlüsse belegen, gerade in Deutschland nach wie vor von der sozialen Herkunft abhängig. Als einer der großen Bildungsträger kann die evangelische Kirche Familien bei der Erziehung im Hinblick auf Wertorientierungen und Identitätsbildung entscheidend unterstützen und Orientierungen bieten.

6.4 Generationenbeziehungen und Fürsorglichkeit

Familien sind Übungsstätten für soziales Lernen und bilden ein Netzwerk der Unterstützung zwischen den Generationen. Sie fördern die Weitergabe von Erfahrungen und begleiten die kommenden Generationen auf ihrem Weg ins Leben. In vielen Fällen bieten sie bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit nach wie vor Fürsorglichkeit und paktische Hilfe an. Trotz zunehmender Mobilität ist die wechselseitige familiäre Generationensolidarität, die sich auch in finanziellen Transfers von den Älteren an die Jüngeren ausdrückt, ungebrochen. Kinder schätzen ihre Eltern und Großeltern und erfahren von ihnen vielfältige Unterstützung und umgekehrt.

6.5 Häusliche Pflege

Pflegebedürftige werden immer noch überwiegend in Familien gepflegt. Dabei übernehmen Frauen ganz überwiegend diese Aufgabe. Angesichts des knapper werdenden familiären Pflegepotenzials - nicht zuletzt aufgrund von Veränderungen in der Arbeitswelt und des gesellschaftlichen Wandels - wachsen die Herausforderungen an die Sozialsysteme, wird ein weiterer Ausbau der pflegerischen und hauswirtschaftlichen Dienstleistungen notwendig sein. Gleichzeitig ist die Verbesserung der kommunalen und nachbarschaftlichen Netze und eine Nahversorgung mit Produkten und Dienstleistungen des täglichen Lebens erforderlich, um den Verbleib in der eigenen Wohnung möglichst lange zu erhalten.

6.6 Gewalt in Familien

Gewalt in der Familie war bis in die 1980er Jahre tabuisiert, für sexuelle Gewalt an Kindern galt das bis in die jüngste Gegenwart. Das Ideal der Familie war geprägt vom Bild einer harmonischen, gewaltfreien Beziehung. Gewalt in der Familie ist jedoch die am meisten verbreitete Form von Gewalt und tritt als körperliche, psychische und sexuelle Gewalt oder auch als Vernachlässigung in Erscheinung. Betroffen von allen Formen sind Kinder (Jungen und Mädchen) und Frauen. Aber auch Männer erfahren Gewalt, allerdings ist deren Gefährdung außerhalb der Familie höher als bei Frauen, die Gewalt überwiegend im häuslichen Bereich erleben. Besonders problematisch sind Gewalterfahrungen von Kindern in der Familie, weil sie auf die Familie angewiesen und der Situation besonders hilflos ausgesetzt sind. Die Gefahr, dass noch Erwachsene eine solche Gewalterfahrung, die sie als Kinder nicht verlassen konnten, an die nächste Generation weitergeben, ist deshalb groß. Lange übersehen wurde, dass auch in der Pflege Gewalt erfahren wird - von Pflegebedürftigen wie von Pflegenden.

6.7 Migration und Familienkulturen

Migration gehört zu den Erfahrungen jeder Zeit und Generation, schon biblische Geschichten berichten davon. Entscheidend ist, wie Einheimische und Zugewanderte ihr Zusammenleben gestalten. Das Ankommen in einer neuen Gesellschaft ist ein Generationenprojekt, das Migrantenfamilien dazu herausfordert, eine neue Balance von Herkunfts-Kultur und neuen kulturellen Einflüssen zu finden, um heimisch zu werden. Herausgefordert ist auch die einheimische Gesellschaft mit ihren kulturellen und religiösen Traditionen, mit ihren Familienbildern und Erziehungsstilen. Bikulturelles Aufwachsen bietet die Chance, Rituale und Lebensdeutungen unterschiedlicher Kulturen und religiöser Lebenszusammenhänge verstehen zu können und sich - bei allen Spannungen, die auch damit verbunden sind - auf die Suche nach einer eigenen kulturellen Identität und gestalteten Religiosität zu begeben. Gerade das Zusammenleben mit anderen Religionen erinnert die säkularisierte Gesellschaft erneut an die religiöse Prägung der Lebenszusammenhänge - von den Alltagsritualen wie Tisch- und Abendgebeten bis zu Hochzeiten und Beerdigungen.

6.8 Reichtum und Armut von Familien

Kinder zu erziehen erhöht statistisch gesehen das Armutsrisiko. Auch die sozialpolitischen Transfers können dieses Risiko nicht beseitigen, da sie die betroffenen Familien nicht zielgenau erreichen. Armut ist allerdings weit mehr als das Fehlen materieller Ressourcen. In armen Familien reduzieren sich auch die Bildungschancen der Kinder, die gesundheitliche Versorgung ist ungenügend, die sozialen Netze sind kleiner, die Angebote im Wohnquartier schlechter: Armut bedeutet geringere Teilhabe und geringere soziale Ressourcen. Insofern geht es bei der Armutsprävention nicht nur um Verteilungs-, sondern auch um Befähigungs- und Teilhabegerechtigkeit.

7. Familienpolitik als neue Form sozialer Politik

In der international vergleichenden Familienforschung und Sozialpolitik hat ein Perspektivenwechsel die besondere Bedeutung von Familien als wesentliche Faktoren allgemeiner Wohlfahrt und des gesellschaftlichen Reichtums hervorgehoben. Damit wurde einerseits offenbar, dass der westdeutsche Sozialstaat mit seinem tradierten Familienbild eine nachhaltige Familienpolitik versäumt hat, andererseits ist deutlich geworden, dass verlässliche Sorgearbeit für die vorangegangene und die nachkommende Generation einen wichtigen, bislang nicht ausreichend berücksichtigten Beitrag zum Bruttosozialprodukt leistet. Der Familie als gesellschaftlicher Institution kommt dabei für die Weitergabe des Lebens und den sozialen Zusammenhalt nach wie vor eine zentrale und unverzichtbare Rolle zu.

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Im europäischen Vergleich der Familienpolitiken und Trends ergibt sich der aus deutscher Perspektive erstaunliche Befund, dass die Länder mit der höchsten Frauen-, ja Mütter-Erwerbsquote zugleich die Länder mit den höchsten Geburtenraten sind (Norwegen, Schweden, Dänemark und Frankreich). Zudem wird deutlich, dass Länder, die sich im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse verhältnismäßig spät modernisiert haben, zum Beispiel Griechenland, Spanien, Italien und Deutschland, heute in Europa über die niedrigsten Geburtenraten verfügen. Deshalb ist die immer wieder vorgebrachte Behauptung, die Gleichstellung der Geschlechter sei ursächlich für die Krise der Familienbeziehungen, nicht aufrechtzuerhalten. Das Gegenteil ist der Fall: Nicht die Gleichberechtigung der Partner und Modernität, sondern die Aufrechterhaltung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten in Bildung, Beruf und häuslicher Aufgabenteilung und späte Familiengründungen sind heute ein wesentlicher Grund für niedrige Geburtenraten.

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Der europäische Integrationsprozess, mit dem die Europäische Union zu einer Rechtsgemeinschaft besonders auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zusammenwächst, ist ein wesentlicher Anlass zum Umdenken auch in der Familienpolitik. Denn Veränderungen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bleiben nicht ohne Auswirkung auf die privaten Lebensformen, das Familienrecht und das Familienleben. Die Europäische Union hat auf der Grundlage des Amsterdamer Vertrages von 1997 sowohl „die Gleichstellung von Männern und Frauen“ als auch ein hohes Beschäftigungsniveau zu ihren Hauptzielen erklärt (Art. 2 sowie Art. 136 u. 137 des EG-Vertrages in der Fassung des Amsterdamer Vertrages). Seit dem EU-Gipfel in Lissabon (2000) wird deshalb in jährlichen Programmen eine europäische Beschäftigungsstrategie vereinbart, die zur Stärkung der Europäischen Union als Wirtschaftsmacht ausdrücklich die Förderung der Beschäftigung von Frauen vorsieht, also grundsätzlich davon ausgeht, dass Frauen ebenso wie Männer erwerbstätig oder ökonomisch selbstständig sind. Für Ehe, Familie und Partnerschaft stellen sich damit jedoch angesichts großer Versäumnisse in der Familienpolitik in der Bundesrepublik vielfältige Aufgaben und Herausforderungen.

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Denn obwohl Deutschland nach einer Studie der OECD vom 1.9.2009 im Vergleich für Kinder je nach Altersgruppe 10 bis zu 20% mehr Geld für familienpolitische Leistungen ausgibt als andere, stellt die Sachverständigen-Kommission des Siebten Familienberichts fest, dass diese Transfers bisher „zu wenig befriedigenden Ergebnissen geführt haben. Gemessen an Indikatoren wie Geburtenrate, Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie, Armutsrisiko oder Bildungsniveau haben andere Staaten mit nicht mehr finanziellem Aufwand häufig bessere Ergebnisse erreicht.“ (BMFSFJ 2006, S. XXXII). Das geplante Betreuungsgeld, das ab 2013, wenn der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für alle Zwei- bis Dreijährigen gültig wird, an Eltern gezahlt werden soll, die Betreuung innerhalb der Familie oder über Tagespflege abdecken, ändert daran nichts - im Gegenteil. Verbände und Expertinnen und Experten verweisen darauf, dass diese Leistung finanzielle Anreize schafft, die Bildungsbeteiligung von Kindern und die Erwerbstätigkeit von Eltern zu verringern statt zu erhöhen. Bildungsgerechtigkeit lässt sich durch finanzielle und personelle Investitionen in Kindergärten, Kindertagesstätten und Schulen fördern. Diese können familiäre Sorgearbeit keinesfalls ersetzen, aber ergänzen. Bei diesen Investitionen in die Infrastruktur hat Deutschland jedoch Nachholbedarf: Sie könnten gezielter wirksam werden als die derzeitige steuerliche Entlastung des Ehegattensplittings, das aus sozial- und gleichstellungspolitischen Gründen seit Langem grundsätzlich in Frage gestellt und auch von der OECD kritisiert wird.

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Die gegenwärtigen Probleme deutschen Sozialstaats, der im internationalen Vergleich wegen der Ausrichtung am männlichen Familienernährer als konservativ-korporatistisches Modell gekennzeichnet wird, liegen in seiner historisch gewachsenen Struktur und Systematik begründet. Sozialpolitik war danach vorrangig auf das Funktionieren des Verhältnisses von Arbeitsmarkt und Wirtschaft ausgerichtet und wurde auf Vollbeschäftigung und sog. Normalarbeitsverhältnisse hin gestaltet.Aus dieser Perspektive war Familienpolitik deshalb nur ein Anhängsel der Sozialpolitik bzw.eine „unliebsame Störung der versicherungsmathematischen Rechnung“ (Achinger 1979). Die Rede von „versicherungsfremden Leistungen“, wenn es um Kinder- und Familienpolitik ging, ist hierfür bezeichnend. Unter „Arbeit“ wurde nur Lohnarbeit, bezahlte Arbeit verstanden. Arbeit, die zur Herstellung und Wiederherstellung der Arbeitskraft beiträgt, gesellschaftlich unentbehrliche Haus-, Erziehungs- und Sorgetätigkeit wurde hingegen ausgeblendet.

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In der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung wird inzwischen das spezifische Verhältnis von Staat, Markt und Familie ins Zentrum der Analysen gestellt. Dieser Ansatz nimmt insofern einen Perspektivenwechsel vor, als damit Familienpolitik als tragende Säule der Sozialpolitik erkannt wird. Damit setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Funktionsfähigkeit des bisherigen wie gegenwärtigen Sozialstaats zum größeren Teil auf der informellen, d. h. vor allem der familialen Wohlfahrtsproduktion (Kaufmann 1997) beruht. Denn die private Alltagsarbeit sowie die Erziehung und Pflege der Kinder und Alten, überhaupt jede Form sozialer Hilfeleistung und gesellschaftlicher Solidarität, bilden die eigentliche und unverzichtbare Grundlage und Voraussetzung unseres gesellschaftlichen Reichtums. Das bisherige wohlfahrtsstaatliche Arrangement mit seiner traditionellen Familienverfassung setzte eine geschlechtshierarchische Arbeitsteilung voraus, die die Sorge für andere als Liebesdienst oder „Arbeit aus Liebe“ und somit alltägliche Haus- und Erziehungsarbeit unsichtbar und unbezahlbar gewährleistete. Angesichts des tiefgreifenden Strukturwandels im Blick auf Arbeitsmarkt, Familie, den demographischen Wandel und die veränderten Anforderungen und Bedürfnisse hinsichtlich Bildung, Erziehung, Gesundheit und Pflege problematisierte daher auch der Siebte Familienbericht ausführlich das „erhebliche Defizit an Fürsorge/Care“, das, von Familien geleistet, keineswegs als quasi „natürliche“ Ressource betrachtet werden kann, sondern in einer gleichberechtigten Erwerbsgesellschaft bewusst gestaltet und organisiert werden muss.

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Wer Familien, Ehe und Partnerschaftsbindungen und deren gesellschaftliche Teilhabe wirksam fördern und gute Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern schaffen möchte, sollte Familienpolitik daher als Querschnittsthema betrachten. Das hat zur Folge, dass alle Politikfelder von der Sozialpolitik bis hin zur Steuer- und Wirtschaftspolitik auf ihre Familienfreundlichkeit zu überprüfen sind. Und es bedeutet, dass der Perspektivenwechsel auch eine neue Prioritätensetzung beinhaltet. Denn die gegenwärtigen Anforderungen an eine familien- und geschlechtergerechte Sozialpolitik sind nur zu bewältigen, wenn die Pflege-, Erziehungs- und Betreuungsarbeit, überhaupt die Sorge für andere, als materielle und kulturelle Wohlfahrtsproduktion sozialpolitisch aufgewertet und zum Maßstab für gelingende Sozialstaatlichkeit werden (Gerhard 2010). Inzwischen haben die weltweiten Verflechtungen und die Umstrukturierungen der Arbeitswelt von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft alle westlichen Industriegesellschaften eingeholt. Damit ist die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von bezahlter und unbezahlter, formeller und informeller, Lohn- und Haus-Arbeit und auf all die unverzichtbaren Sorge-Tätigkeiten gerichtet, die unter dem englischen Begriff Care zusammengefasst werden. Das Konzept Care hat sich inzwischen zu einem Schlüsselwort international vergleichender Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtsforschung entwickelt, weil es die neuen politischen und sozialen Herausforderungen auf den Begriff bringt. Die European Social Platform,ein Bündnis von über 40 repräsentativen europäischen Nichtregierungsorganisationen, die im sozialen Bereich aktiv sind, hat erst kürzlich das Thema Care an die Spitze ihrer politischen Agenda gesetzt und Empfehlungen ausgearbeitet (www.socialplatform.org), wie das Recht und die Pflicht, für andere zu sorgen, und das Recht, umsorgt/gepflegt zu werden, mit staatlicher Hilfe und in der Zivilgesellschaft umzusetzen sind. Dabei wurde Care als Menschenrecht in all seinen Facetten (beruflicher, privater, institutioneller Pflege und Sorge für andere, aber auch im Blick auf die Rechte der Gepflegten) als „internationales soziales Kapital“ behandelt und eine transnationale politische Ökonomie der „Sorge für andere“ eingefordert. Noch einmal wird die Bedeutung „fürsorglicher Praxis“ für eine neue Form sozialer Politik betont, um gesellschaftlichen Zusammenhalt und die soziale Integration von Benachteiligten und derer, die auf Hilfe angewiesen sind, zu gewährleisten.

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Eine nachhaltige Familienpolitik ist daher nur durch die systematische Verknüpfung der Politikfelder Arbeit, Bildung, Familie und Soziales zu erreichen. Letztlich geht es darum, dass Politik, Wirtschaft und die organisierte Zivilgesellschaft - und dabei sind die Kirchen wichtige Akteure - aus der Mitte der Gesellschaft Lösungen erarbeiten, die es Männern und Frauen ermöglichen, Berufs- und Familienarbeit partnerschaftlich zu gestalten. Familie muss von einer privaten Frauenangelegenheit zu einer von Männern und Frauen verantworteten gesellschaftspolitischen Angelegenheit werden. Sie ist „öffentliches Gut“ und „gute Gabe Gottes“. Dazu ist ein neues normatives Familienmodell zu fördern, das der partnerschaftlichen Familie, in der die Rechte und Pflichten jedes Mitgliedes, auch der Kinder, gerecht untereinander geteilt und wechselseitig anerkannt werden. Dieses Modell ist auch als gerechtigkeitsorientierte Familie zu charakterisieren, um klar zu machen, dass gefühlsmäßige Bindungen und institutionelle Absicherungen, oder anders ausgedrückt, Liebe und die Wahrung und Inanspruchnahme von Rechten einander bedingen und im Einzelfall der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit die Richtung weisen.

8. Wie Kirche und Diakonie Familien stark machen können

Kirche ist nach wie vor eine wichtige Ansprechpartnerin für Familien. Mit ihren Kasualien, Festen und Feiern begegnet sie Familien in Übergangssituationen, mit ihren Tageseinrichtungen für Kinder, Jugendtreffs und Schulen bietet sie Orte für Bildung, Erziehung und Begegnung, mit ihren diakonischen Diensten begleitet sie in Krisensituationen. Dabei haben Gemeinden, Diakonie und Verbände oft ganz unterschiedliche Gruppen und Familien im Auge. Eine Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie, die gemeinsame Entwicklung von Leitbildern und Angeboten und eine verstärkte Zusammenarbeit mit dritten Partnern in der Region sind deshalb unbedingt notwendig. Darüber hinaus sollten Kirchengemeinden ihre generationenübergreifende Arbeit bewusst ausbauen und die Gemeindezentren als Orte erlebten zivilgesellschaftlichen Engagements und erlebter Gemeinschaft gestalten. Angesichts des Strukturwandels von Familien haben Gemeinden und Familienzentren eine wachsende Bedeutung auch für die religiöse Erziehung und die Weitergabe des Glaubens.

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Viele Synodalbeschlüsse der letzten Jahre betonen, dass Kirche sich gegenüber erweiterten Familienformen und neuen Leitbildern öffnen muss. Auch die gemeindliche Praxis muss mit der Proklamation der EKD-Synode „Familie haben alle“ ernst machen und sensibler für die bestehende Vielfalt an familiären Lebensformen werden. Angebote für Familien richten sich bislang - manchmal ausdrücklich, manchmal unterschwellig - weitgehend an junge Eltern mit ihren Kindern. Familie reicht aber vom Wochenendvater über das miteinander älter werdende Schwesternpaar und die Patchwork-Familie bis zum kinderlosen Ehepaar mit der von ihm gepflegten Tante; sie alle sollten in der Familienarbeit der Gemeinden vorkommen. Gemeindeangebote sind allerdings häufig auf kontinuierliche Mitarbeit ausgerichtet und können von Familien, die mobil leben, kaum wahrgenommen werden. Auch Gottesdienstzeiten und Kasualien sollten auf den veränderten Lebenswandel Rücksicht nehmen. Es ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr, dass Frauen und Männer durch das „Regelangebot“ ihrer Gemeinde mit der evangelischen Kirche in Berührung kommen. Insbesondere die Lebenssituation von Alleinerziehenden, Patchworkfamilien und Singles oder Geschiedenen erfordert veränderte Aktivitäten und Angebote, die eine breite Teilhabe am kirchlichen Leben ermöglichen. Zugangsbarrieren zu evangelischen Gemeinden, dies zeigen die Sinus-Milieu-Studien (Wippermann 2011), bestehen vor allem für berufstätige Männer und Frauen ebenso wie für bildungsferne Familien in Unterversorgungslagen. Voraussetzung für eine familiensensible Gemeindearbeit ist, dass die Verantwortlichen in den Kirchengemeinden die beschriebenen Veränderungen nicht nur wahrnehmen, sondern aktiv in ihre Arbeit einbeziehen. Dabei geht es nicht darum, immer neue Angebote für weitere Zielgruppen zu machen, sondern mit anderen evangelischen Trägern wie Familienbildungsstätten oder diakonischen Einrichtungen zu kooperieren. Die erste und wichtigste Aufgabe ist aber, den Blick zu weiten für das, was Ehe, Lebenspartnerschaft und Familie in der jeweiligen Gemeinde konkret vor Ort ausmacht, um einer Milieuverengung in der Kirchengemeinde vorzubeugen.

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Eine bewusste Zusammenarbeit zwischen Kirchengemeinden und diakonischen Angeboten kann helfen, Aufmerksamkeit für das Potenzial der vielfältigen Lebensformen und Bedarfe von Familien zu entwickeln. In den diakonischen Einrichtungen und Diensten sind oft ganz andere Menschen und nicht nur Kirchenmitglieder anzutreffen als in Kirchen und Gemeindegruppen. Die Tageseinrichtungen für Kinder, die Jugendtreffs und Familienzentren, aber auch die diakonischen Pflegedienste, Projekte und Beratungsstellen verfügen über ein differenziertes Wissen und breite Erfahrungen zur Situation von Familien vor Ort und können sie an Kirchengemeinden weitergeben. Eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD über die systematische Arbeit mit Familien in verschiedenen Landeskirchen zeigt, dass Kirche im Bereich der Familienarbeit deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt und wie notwendig es ist, sich zwischen Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen über die jeweiligen Erfahrungen und Leitbilder zu verständigen, wenn eine profilierte und konzeptionelle evangelische Arbeit mit Familien gelingen soll. Kirchenkreise und Landeskirchen können solche Prozesse anstoßen.

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Pfarrerinnen und Pfarrer, Erzieherinnen und Erzieher, aber auch Gemeindepädagogen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie begegnen Familien in sehr unterschiedlichen Lebenslagen und in Krisensituationen - häufig gerade dann, wenn sich Hoffnungen und Sorgen bündeln: bei Hochzeiten, Taufen und Konfirmationen, bei Kindergartenentlassungen und Einschulungsfeiern oder bei der Schulentlassung, beim ersten Besuch in einer neu zugezogenen Familie, in der Jugendarbeit oder auch, wenn Kinder und Jugendliche durch die Scheidung ihrer Eltern belastet werden. Weitere Anlässe sind Krankenbesuche, die Sterbebegleitung und die Seelsorge pflegender Angehöriger sowie Beerdigungen. Kirche ist nach wie vor an den Lebensschwellen und in den Umbrüchen gefragt. Wenn dabei Vertrauen wächst, entsteht ein Bogen der Lebensbegleitung durch Höhen und Tiefen. Das kann gelingen, wenn in der Vorbereitung und Gestaltung von Kasualien Offenheit und Sensibilität für die tatsächliche Lebenssituation der jeweiligen Familien spürbar wird, wenn deren Hoffnungen und Wünsche zu Wort kommen und mit dem frei machenden Evangelium „versprochen“ werden, sodass gerade auch in Umbrüchen Verstehen, Versöhnung und Neuanfänge möglich werden. Gemeinden, die Paare trauen und Kinder taufen, haben eine besondere Verantwortung, Paare in schwierigen Lebenslagen zu stärken und Kinder zu begleiten. Immer häufiger zeigt sich, dass über die bekannten Kasualien hinaus zaghaft neue oder alte neu entstehen: bei Ein- und Auszügen, bei Trennung und Scheidung, zum Ehejubiläum, bei Tauf- und Konfirmationsfeiern, die viele Familien in der Gemeinde zusammenführen. Es ist ein Segen für konfessionsverbindende Familien, dass ihre Mitglieder in der evangelischen Kirche gemeinsam das Abendmahl empfangen und damit auch in ihrem Glauben Gemeinsamkeit erleben können.

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Evangelische Gemeinden verstehen sich in besonderer Weise als Gemeinschaften,die vom Engagement ihrer Mitglieder, von Gruppen und Initiativen getragen werden. Hier zeigt sich, dass Kirche ein Teil der Zivilgesellschaft ist, in der viele unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen eine Chance zur Teilhabe erfahren. Dabei sind Gemeinden nicht nur, wie es traditionell in der Kinder- und Jugendarbeit oder in der offenen Altenarbeit der Fall ist, auf bestimmte Zielgruppen ausgerichtet. Christliche Gemeinden haben die Ressourcen, Angebote für ein generationenübergreifendes Miteinander zu entwickeln. Kirchengemeinden können Räume anbieten, in denen sich die Generationen begegnen, wo Familien mit Kindern Paten-Großeltern finden und ältere Menschen ihre beruflichen Erfahrungen als Mentoren weitergeben, wo Alleinerziehende in Familienzentren ein hilfreiches Netzwerk knüpfen und Eltern einander dabei unterstützen, Erwerbstätigkeit und Familie vereinbaren zu können. Attraktive Gemeinden gestalten ihre Angebote so, dass sie auch denen zum verbindlichen Ort werden, deren Kinder oder Eltern weit entfernt wohnen oder die unter ihrem Alleinsein leiden.

Mehrgenerationenhäuser und Tageseinrichtungen für Kinder, die sich in Zusammenarbeit mit Beratungsstellen und Familienbildungsstätten zu Familienzentren entwickeln, machen deutlich, was sie der Sache nach letztlich immer schon sind: ein Ort, der alle Generationen einlädt, an dem sie miteinander ins Gespräch kommen und einander unterstützen. Dabei kommen jedoch auch erhebliche regionale und soziale Unterschiede zum Tragen. Ob Stadtteilgemeinde oder ländlicher Raum, Volkskirche oder Diaspora, benachteiligte Lebenslagen oder Familien in Wohlstandslagen - sie fordern unterschiedliche Gestaltung gemeindlicher Angebote, wirken auf unterschiedliche Weise einladend oder ausgrenzend.

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In der Gemeinde lässt sich finden, was auch Familien stärkt: Vorbilder für glaubwürdiges Christsein, Gespräche über Glaubens- und Sinnfragen, gemeinsames Singen, Beten und Feiern. Bei gemeinsamen Festen und Mahlzeiten, bei Glaubenskursen und Freizeiten, in Familiencafés können die verschiedenen Generationen über ihren Glauben ins Gespräch kommen. Bei Seminaren zur Ehevorbereitung oder bei besonderen Paarwochen kann besprochen und erlebt werden, was den Zusammenhalt von Paaren stärkt. Kindergottesdienst und Konfirmandenarbeit bieten einen Rahmen, um Geschichten und Lieder, Traditionen und Rituale weiterzugeben, die in vielen Familien verloren gegangen sind. Gottesdienste, die unterschiedliche Generationen zusammenführen, lassen Gemeinden als Gemeinschaft lebendig werden.

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Aber auch, wo sich in Familien Spannungen abzeichnen, sind Gemeinden gefordert. Oft geschieht dies gerade dann, wenn Familienfeste oder Feste im Kirchenjahr gefeiert werden. Eindrückliche Beispiele bieten verunsicherte Jugendliche, die ihrer Konfirmation ängstlich oder traurig entgegensehen, weil sie den Streit ihrer geschiedenen Eltern fürchten oder auf ein Elternteil und deren mögliche neue Lebenspartner verzichten müssen. Ähnlich ist es, wenn Familien bei Beerdigungen unversöhnt aufeinandertreffen, oder auch, wenn Alleinerziehende unsicher sind, ob sie ihr Kind zur Taufe anmelden können. Hier brauchen Menschen kompetente Seelsorger und Seelsorgerinnen, die gerade vor dem Hintergrund eigener reflektierter Familienerfahrungen unterstützend begleiten können. Darüber hinaus suchen Menschen bewusst in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen Beratung und Unterstützung in schwierigen Lebenslagen. Ehe-, Lebens- und Erziehungsberatungsstellen, aber auch Schwangerschaftskonflikt- und Sozialberatung sind nicht nur für Kirchenmitglieder wichtige Angebote, die verlässlich zur Verfügung stehen müssen. Diakonische Dienste helfen Familien in Notlagen: bei Armut und Überschuldung, im Umgang mit Behinderungen, in Krankheit und Pflegebedürftigkeit und bei Suchtproblemen.

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Wenn es um Konflikte geht, dürfen aber auch die Menschen nicht vergessen werden, die bei der Kirche selbst arbeiten oder in ihr Ämter übernehmen. An ihre Lebensführung, ihr Ehe- und Familienleben werden Anforderungen gestellt, die sie bisweilen als einengend oder gar unvereinbar mit ihren eigenen Lebenskonzepten erleben. Pfarrhäuser sind nach wie vor zentrale Orte und Anlaufstellen in der Gemeinde. Zugleich aber zeigt sich im Leben von Pfarrerinnen und Pfarrern und ihren Familiensituationen der gesellschaftliche Wandel. Die Emotionalität früherer Debatten um geschiedene Paare und Patchworkfamilien im Pfarrhaus, aber auch die Heftigkeit heutiger Diskussionen um homosexuelle Lebenspartnerschaften und bi-religiöse Ehen macht deutlich, dass Pfarrhäuser nach wie vor als symbolische Orte für die Veränderungen im Leben der Gemeinde wahrgenommen werden und dass an den Lebensstil von Pfarrerinnen und Pfarrern besondere Erwartungen gerichtet sind. Neue Lebensformen im Pfarrhaus können den Blick dafür öffnen, dass in vielen unterschiedlichen Formen Leben gelingen kann, wenn es verantwortlich, verbindlich und verlässlich gestaltet wird.

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Die verantwortlichen Kirchenleitungen müssen darüber hinaus auch pragmatisch über mögliche eigene institutionelle Veränderungen im Gemeindeleben nachdenken, die der Vielfalt von Ehe und Familie entgegenkommen. Dazu gehört auch die bewusste Verantwortung für familienfreundliche Arbeitsverhältnisse aller Beschäftigten im kirchlichen und diakonischen Dienst sowie Entgelte, die eine menschenwürdige Existenzsicherung bei Vollzeitstellen ermöglichen.

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Benachteiligte, behinderte und pflegebedürftige Menschen, aber auch Familien mit kleinen Kindern und Menschen, die Angehörige pflegen, sind besonders angewiesen auf ihr soziales Umfeld. Gemeinsam mit den diakonischen Angeboten in der Region können Gemeinden ein Netzwerk bilden, in dem Familien Hilfe und Unterstützung erfahren, sich austauschen und lernen können. Dazu gehören Tageseinrichtungen und Familienbildungsstätten, Beratungsstellen, Mittagstische und Familienzentren, Kinderkleiderkammern genauso wie Pflegeberatungsstellen und Kurzzeitpflegeeinrichtungen oder ambulante Dienste. Viele dieser so wesentlichen Angebote wie zum Beispiel die Ehe- und Lebensberatungsstellen sind freiwillige Leistungen der Kommunen. Auch Dienste wie die „Familien- und Dorfhilfe“ sind nicht flächendeckend vorhanden und haben keine bundesweite Regelfinanzierung. Sie sind oft von den Haushaltslagen von Ländern und Kommunen abhängig und mosaikartig von verschiedensten Kostenträgern finanziert. In der Kommune wird ganz unmittelbar sichtbar, in welcher Weise Familie auf gesellschaftliche Unterstützung angewiesen ist. Hier sind Kirche und Diakonie als Träger von Tageseinrichtungen, Beratungsstellen und Pflegediensten auch selbst gefordert. Sie müssen ihre Angebote bedarfsgerecht weiterentwickeln, besser vernetzen und im Sinne der Prävention und Begleitung von Familien für eine sozialraumorientierte Kooperation zwischen Tageseinrichtung und Kinder- und Jugendarbeit, zwischen Religionsunterricht und Konfirmandenarbeit, zwischen Pflegediensten und Gemeinde sorgen.

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Darüber hinaus müssen Kirche und Diakonie verstärkt mit dritten Partnern zusammenarbeiten und Verantwortung für das Wohnviertel oder Quartier übernehmen. Voraussetzung hierfür ist eine kritische Würdigung des Sozialraums, in dem die Gemeinde angesiedelt ist. Das gilt für die Kooperation mit den Schulen genauso wie für die Zusammenarbeit mit Gesundheitseinrichtungen, für Netzwerke mit Firmen oder für die Zusammenarbeit mit Bauamt und Gewerbekreis, wenn es um eine familien- und altersgerechte, aber auch integrationsfreundliche Infrastruktur in den Städten geht. Kirche und Diakonie sind nach wie vor wichtige gesellschaftliche Akteure. Sie müssen sich deshalb über die eigenen Grenzen hinaus an gesellschaftlichen Bündnissen für Familie beteiligen und dadurch auch als Anwälte von Familien erkennbar werden.

9. Empfehlungen
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Nach evangelischem Verständnis ist die Familie der maßgebliche Ort, an dem Autonomie und Angewiesenheit, Freiheit und Bindung gleichzeitig erfahren und gelebt werden können. Leitlinie einer evangelisch ausgerichteten Förderung von Familien, Ehen und Lebenspartnerschaften muss die konsequente Stärkung von fürsorglichen familiären Beziehungen sein. Wo Menschen auf Dauer und im Zusammenhang der Generationen Verantwortung füreinander übernehmen, sollten sie Unterstützung in Kirche, Gesellschaft und Staat erfahren. Dabei darf die Form, in der Familie und Partnerschaft gelebt werden, nicht ausschlaggebend sein. Alle familiären Beziehungen, in denen sich Menschen in Freiheit und verlässlich aneinander binden, füreinander Verantwortung übernehmen und fürsorglich und respektvoll miteinander umgehen, müssen auf die Unterstützung der evangelischen Kirche bauen können. Daraus ergeben sich Empfehlungen für politisches, soziales und kirchliches Handeln.

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Angesichts des tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandels ist auch die Kirche aufgefordert, Familie neu zu denken und die neue Vielfalt von privaten Lebensformen unvoreingenommen anzuerkennen und zu unterstützen. Diese Anerkennung ist nicht lediglich als Anpassung an neue Familienwirklichkeiten zu verstehen, sondern als eine normative Orientierung. Vor dem Hintergrund der befreienden Botschaft des Evangeliums geht es darum, das Versprechen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen ernst zu nehmen und Gerechtigkeit auch in der Familie umzusetzen. Die traditionellen Leitbilder halten den neuen Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie den vielfältigen Erwartungen an Familien nicht mehr stand. Die Erziehung der Kinder, die Pflege kranker und alter Menschen sowie die alltägliche Sorge für das Wohl der Familienangehörigen sind so kostbare Aufgaben, dass sie einer neuen gesellschaftlichen Wertschätzung und Achtsamkeit bedürfen. Sie sind deshalb nicht ausschließlich der Privatsphäre oder einem der Partner, in der Regel der Frau, zu überlassen. Frauen und Männer haben das Recht auf einen eigenen Lebensentwurf, in dem sie Beruf und Familie vereinbaren können. Im Zentrum der Familie heute steht das Kindeswohl, das auf eigenständigen Kinderrechten beruht. Der gesellschaftliche Wandel bietet deshalb eine Chance, neue Formen der Arbeitsteilung in Familie und Beruf zu praktizieren und insbesondere auch die Haus-, Sorge- und Pflegetätigkeiten partnerschaftlich zu teilen. Für diese Ziele setzt sich die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen (eaf), der Dachverband Familien unterstützender Werke und Verbände in der EKD, seit Langem ein. Familienarbeit und Familienpolitik sollte grundsätzlich auch als zentrales Handlungsfeld landeskirchlichen Handelns verstanden werden, das weiterentwickelt und gefördert werden muss. (s. Kap. 3).

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Familienrecht und Rechtsprechung gehen inzwischen von einem erweiterten Familienbegriff aus, in dem die Ehe nicht mehr notwendigerweise die Voraussetzung für Elternschaft und für Familie im Sinne des Art. 6 GG ist. Leitende Prinzipien, die sich auf die internationale Geltung der Menschenrechte und die Entwicklung des europäischen Antidiskriminierungsrechts gründen, sind die Gleichberechtigung der Kinder und der Ehefrauen sowie die Anerkennung unterschiedlicher sexueller Orientierungen. Allerdings führt die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung auch zu erheblichen Problemen: Zum Beispiel werden im deutschen Steuer- und Sozialrecht nach wie vor Ehen mit einem Alleinverdiener bzw. Hauptverdiener finanziell begünstigt, während im Unterhaltsrecht nach der Scheidung die Erwerbstätigkeit beider Partner vorausgesetzt wird. Die rechtliche Anerkennung der Vielfalt von Familien- und Lebensformen muss auch in der Kirche wahrgenommen und in das kirchliche Handeln einbezogen werden (s. Kap. 4).

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Die Bibel beschreibt im Alten und Neuen Testament das familiale Zusammenleben in einer großen Vielfalt. Das historisch bedingte Ideal der bürgerlichen Familie kann daher biblisch nicht als einzig mögliche Lebensform begründet werden. Die evangelische Kirche würdigt die Ehe als besondere Stütze und Hilfe, die sich auf Verlässlichkeit, wechselseitige Anerkennung und Liebe gründet. Gleichzeitig ist sie gehalten, andere an Gerechtigkeit orientierte Familienkonstellationen sowie das fürsorgliche Miteinander von Familien und Partnerschaften - selbst in ihrem Scheitern - zu stärken, aufzufangen und in den kirchlichen Segen einzuschließen. Wo sich Menschen in entscheidenden Lebenssituationen unter den Segen Gottes stellen wollen, sollte sich die evangelische Kirche auch aus theologischen Gründen nicht verweigern, wie auch die Diskussion in den einzelnen Landeskirchen zeigt (s. Kap. 5).

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Angesichts von Verunsicherungen und Umbrüchen im gesellschaftlichen und kulturellen Wandel sind Kirche und Diakonie in besonderer Weise herausgefordert, in öffentlichen Debatten Stellung zu den brennendsten Fragen der Familien- und Sozialpolitik zu beziehen sowie in ihrer gemeindlichen und diakonischen Praxis Orientierung zu geben. Sie werden die Lebenswirklichkeit der Familien nur treffen, wenn sie informiert und anteilnehmend auch auf die Menschen zugehen, die der Kirche fernstehen oder sich in ihr nicht vertreten wissen. Dabei steht der Kirche als Institution und als zivilgesellschaftlicher Akteur, in ihren vielfältigen Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, in diakonischen Diensten, Verbänden und Gremien sowie in den Gemeinden ein breites Feld der Verkündigung und sozialer Praxis zu Gebote. In allen diesen Feldern kann sie für ein grundsätzliches Umdenken in Familienfragen, die Neubewertung von Erwerbs- und Sorgearbeit eintreten und aus evangelischer Sicht für ein neues Verhältnis von Wachstum und Wohlfahrt und für andere Prioritäten in der Sozialpolitik werben (s. Kap. 6).

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Grundsätzlich gilt es, Menschen zu unterstützen, die für andere sorgen, sie betreuen, erziehen und pflegen und dabei ihre beruflichen Chancen zurückstellen. Wichtig für die Zukunft ist die gesellschaftliche Neubewertung dieser fürsorglichen Tätigkeiten im Verhältnis zur Erwerbsarbeit. Dazu bedarf es vor allem einer gerechteren Verteilung der Haus-, Sorge- und Pflegearbeit zwischen Männern und Frauen. Eine an Gerechtigkeit orientierte Familie zu unterstützen ist aber nicht allein die Aufgabe staatlicher Institutionen, sondern erfordert ein neues Miteinander zwischen den Geschlechtern und zwischen denen, die private und öffentliche Verantwortung für die Erziehungs- und Sorgetätigkeiten tragen. Mitarbeitende in Kirchengemeinden und Diakonie mit ihrem spezifischen Zugang zu Familien, ihren Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, nicht zuletzt die ehrenamtlich Engagierten haben die besondere Chance, Leitbildfunktionen zu übernehmen und ihr soziales Handeln an einem Ethos fürsorglicher Praxis auszurichten (s. Kap. 6.2).

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Die partnerschaftliche Familie als Modell der Zukunft braucht neue Formen gesellschaftlicher, rechtlicher und sozialpolitischer Unterstützung für ihre Erziehungs- und Sorgearbeit. Dies betrifft insbesondere die Leistungen von Frauen, die (zeitweise) überwiegend Familienaufgaben oder ehrenamtliche Arbeit in Kirchengemeinden übernehmen. Dazu gehören nicht nur familienfreundliche Arbeitszeiten für Männer und Frauen, sondern auch die steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Förderung von Familien- und Pflegezeiten, die Einbußen bei der Reduzierung von Arbeitszeit zugunsten von Erziehungs- und Pflegeaufgaben ausgleichen. Als Arbeitgeberin ist auch die Kirche gefordert, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu unterstützen, die Vielfalt der Familienformen bei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anzuerkennen und die Tarif- und Arbeitsbedingungen, Versorgungsansprüche und Infrastruktur der Rechtslage entsprechend anzupassen (s. Kap. 6.2 und Kap. 7 u. 8).

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Eine grundlegende Bedingung für das Gelingen von Familie ist der konsequente und qualifizierte Ausbau einer familienunterstützenden Infrastruktur von den Krippen bis zu Ganztagsschulen, zu der Kirche und Diakonie bisher schon einen wichtigen Beitrag leisten. Die kirchlich-diakonische Trägerschaft von Tageseinrichtungen für Kinder und Einrichtungen für Pflegebedürftige ist eine zentrale Aufgabe kirchlicher Familienpolitik. Aus den aktuellen Ausbauprogrammen für Kitas dürfen sich Kirchengemeinden und Diakonie nicht zurückziehen; vielmehr sollten sie weiterhin auf die pädagogische Qualität ihrer Angebote achten. Die Verbesserung der Bildungschancen und mehr Bildungsgerechtigkeit setzen bedarfsgerechte Angebote der frühkindlichen Erziehung voraus - das betrifft insbesondere die Öffnungszeiten, Gruppengrößen und pädagogische Qualität - sowie eine Förderung der Familienbildungsstätten, den Ausbau der Familienzentren sowie Angebote von Dorf- und Familienhilfe. Der Ausbau der Infrastruktur bedeutet nicht, Familien aus ihrer Verantwortung zu entlassen, sie bleiben die wichtigsten Orte für das umsorgte und gedeihliche Heranwachsen der Kinder und für die Einübung in gesellschaftlicher Solidarität. Tageseinrichtungen und Schulen, aber auch Kirchengemeinden müssen ihre Zusammenarbeit mit Familien aber im Sinne einer Erziehungspartnerschaft weiterentwickeln. Insgesamt ist die Kooperation formaler Bildungsträger wie der Schulen mit Bildungsangeboten in Jugendarbeit, Sportvereinen und Kirchengemeinden weiter auszubauen (s. Kap. 6.3).

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Der Ausbau von Tageseinrichtungen und Ganztagsschulen, von Familienbildungs- und Beratungsangeboten, von Pflegediensten und haushaltsnahen Dienstleistungen kann nur gelingen, wenn die Attraktivität der sozialen Berufe in Erziehung, Beratung und Pflege auch für Männer steigt. Schon jetzt ist ein Fachkräftemangel in Erziehungs- und Pflegeberufen zu beklagen, der sich in den nächsten Jahren noch erheblich verschärfen wird. Die „klassischen Frauenberufe“ leiden noch immer unter zu geringer Bezahlung, mangelnder Durchlässigkeit und geringen Aufstiegschancen und sind zudem häufig durch Schichtarbeit belastet. Angesichts der Akademisierung und Professionalisierung der Erziehungs- und Pflegeberufe im europäischen Kontext und angesichts des wachsenden Wettbewerbs auf dem Sozial- und Gesundheitsmarkt müssen sich auch Kirche und Diakonie als Trägerinnen von Schulen, Einrichtungen und Diensten für angemessene Tarife, familienfreundliche Arbeitsbedingungen und verbesserte Aufstiegsmöglichkeiten in diesem Feld einsetzen (s. Kap. 6.3 u. 6.5).

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Die Verankerung von Frauen- und Kinderrechten ist eine Errungenschaft für das familiale Zusammenleben. Von besonderer Bedeutung sind die Rechte der Kinder, die seit 1989 in der UN-Konvention für Kinderrechte durch völkerrechtliche Vereinbarungen zum Wohl des Kindes festgelegt sind und die Veränderungen im deutschen Familienrecht leiten. In einer individualisierten und demokratischen Gesellschaft kann Gemeinschaft nur gelingen, wenn die Bedürfnisse der Schwächeren und Benachteiligten zur Richtschnur sozialen Handelns werden. Das Erziehungsrecht der Eltern, zu deren Verantwortung auch die religiöse Erziehung gehört, muss deshalb so wahrgenommen werden, dass Kinder in einem Raum der Geborgenheit und Zuwendung aufwachsen können, geschützt vor Gewalt und Missbrauch.

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Kindergottesdienste und Kinderbibeltage bzw. -wochen, Kinder-, Jugendarbeit und Konfimandenarbeit, aber auch Schulgottesdienste und Projektwochen gewinnen zunehmend an Bedeutung für die religiöse Sozialisation und das Kennenlernen von Gemeinde und Gottesdienst. Angesichts der Säkularisierung, wachsender Mobilität und vielfältiger Zeitrhythmen von Familien wird es dabei immer wichtiger, Angebote zu entwickeln, die in herausgehobenen Zeiten erfahrungs- und projektorientiertes Lernen ermöglichen. Auch hier geht es darum, familiäre Erziehung und Bildung zu ergänzen, Kindern und Jugendlichen biblische Traditionen zu erschließen und ihnen neue Zugänge zu Gebeten und kirchlichen Festzeiten zu ermöglichen. Die Begleitung von jugendlichen und erwachsenen Teamern, die ihren Glauben und ihr Christsein ins Gespräch bringen, aber auch eine offene und sensible Zusammenarbeit mit Familien und Elternhäusern muss dabei genauso selbstverständlich sein wie die Erziehungspartnerschaft in Tageseinrichtungen oder Schulen (s. Kap. 6.3).

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Angesichts der Zunahme bikultureller Familien mit unterschiedlichen religiösen Herkunftstraditionen müssen sich auch Religionsunterricht, Tageseinrichtungen und kirchliche Kinder- und Jugendarbeit darauf einstellen, dass Menschen in Zukunft die Entscheidung für ihre eigene Religion bewusst in Kenntnis und im Dialog mit anderen Religionen treffen. Kirchliche Einrichtungen stehen vor der Herausforderung, die christlichen Feste und Traditionen zu gestalten und sich gleichzeitig für neue zu öffnen, ohne beliebig und austauschbar zu werden. Darüber hinaus besteht die Herausforderung, auch Kasualien wie den Segen anlässlich einer Eheschließung oder die Bestattung so zu gestalten, dass Menschen unterschiedlichen Glaubens daran teilnehmen können (s. Kap. 6.7).

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Eine große sozialpolitische Herausforderung stellt die zunehmende soziale Ungleichheit dar, die den sozialen Zusammenhalt gefährdet und den Grundprinzipien der Gerechtigkeit widerspricht. Dabei geht es nicht nur um die zunehmenden sozialen Unterschiede zwischen Familien in prekären Lebenslagen und in Armut einerseits und wohlhabenden Familien andererseits, sondern insbesondere um die soziale Schieflage zwischen Menschen, die alltäglich die Sorge für andere übernehmen, Kinder erziehen und Angehörige pflegen, und anderen, die ihre Zeit und Energie in die Erwerbsarbeit investieren können. Der Arbeitsmarkt fordert zunehmende Flexibilität und Mobilität und nimmt auf Sorgeverpflichtungen zu wenig Rücksicht. Darüber hinaus ist es wichtig, für existenzsichernde Entgelte für die Einzelnen zu sorgen und eine armutsfeste Grundversorgung für Familien sicherzustellen, die Eltern und ihre Kinder aus Armutslagen herausbringt und gerechte Teilhabe ermöglicht (s. Kap. 6.8).

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Wesentliche sozialpolitische Aufgabe ist es darüber hinaus, für familienfreundliche Lebensräume zu sorgen. Familien brauchen in städtischen und ländlichen Räumen ein kulturell vitales Gemeinwesen und verlässliche soziale Unterstützung. Hierfür braucht es familienorientierte Stadt- und Quartiersförderung. Eine verstärkte Zusammenarbeit von diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinden kann zur Verbesserung der Angebote für Familien beitragen. Tageseinrichtungen für Kinder und Mutter-Kind-Gruppen der Kirchengemeinden, Familienbildungsstätten mit ihren Patenprogrammen, Ehe-, Lebens- und Familienberatungsstellen und Kirchengemeinden mit ihren Angeboten rund um die Taufe müssen so miteinander kooperieren, dass Netzwerke entstehen, in denen aktive Gemeindemitglieder wie auch kirchenferne Menschen Unterstützung für Familie und Erziehung, Hilfe in Alltagsbelastungen und Krisensituationen oder Angebote zur religiösen Erziehung finden. Eine stillschweigende Zuordnung, nach der die Diakonie vor allem für Familien in Problemlagen zuständig ist, während Gemeinden vor allem „normale“ Mittelschichtfamilien ansprechen, ist zu vermeiden. So ist es zum Beispiel notwendig, Familien in Armutslagen oder Familien mit Pflegeaufgaben stärker als Gemeindemitglieder und weniger als ausschließliche Adressaten diakonischer Dienste zu sehen (s. Kap. 8).

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Familien erfahren Unterstützung durch die Einbindung von sozialen Großeltern, Tanten, Paten oder Mentoren. In Paten- und Großelternprogrammen, bei Väter-Kind-Tagen und Familienfreizeiten, bei Kindertafeln und Hausaufgabenangeboten hat sich bereits ein breites Feld ehrenamtlichen und bürgerschaftlichen Engagements entwickelt. In vielen Kirchengemeinden mit Kinder- und Familiengottesdiensten, Kinder- und Jugendgruppen ist diese Tradition selbstverständlich. Bei der Förderung von ehrenamtlichem und bürgerschaftlichem Engagement z.B. bei Ehrenamtsbörsen und Freiwilligenagenturen sowie für die Qualifizierung in Ehrenamtsakademien und im Freiwilligenmanagement ist die Zusammenarbeit zwischen Kirchengemeinden und diakonischen Trägern wichtig. Schließlich geht es um die Anerkennung und Unterstützung ehrenamtlicher Dienste, nicht zuletzt durch Anleitung, Begleitung und Supervision durch Fachkräfte. Die Entwicklung einer neuen Engagement-Kultur in Kirche und Diakonie ist deshalb kein „Sparmodell“ und kein „Ersatz“ für Hauptamtliche; vielmehr sind Menschen für zivilgesellschaftliches Engagement zu gewinnen, das gleichzeitig zur Entwicklung einer aktiven Gemeinde- und Gemeinwesenarbeit beiträgt (s. Kap. 6.4 u. 8).

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Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirche, sowohl Haupt- als auch Ehrenamtliche in Gemeinde, Tageseinrichtungen, Schulen, diakonischen Diensten und Verbänden, müssen in der Lage sein, mit Verdachtsfällen von Gewalt in der Familie oder in Einrichtungen umzugehen. Sie brauchen Fortbildungsangebote, um Betroffene zum Sprechen zu ermutigen und fachliche Hilfe vermitteln zu können. Darüber hinaus müssen Kirche und Diakonie eigene Beratungseinrichtungen erhalten und ausbauen, die Hilfen zur Erziehung, Beistand für die Arbeit der Frauenhäuser bis zu Präventionsmaßnahmen gegen sexuellen Missbrauch und Unterstützungsangeboten für pflegende Angehörige vorhalten (s. Kap. 6.6).

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Familien müssen immer wieder eine neue Balance finden, wenn es darum geht, Gemeinschaft in christlicher Freiheit zu gestalten. Evangelische Theologie und Kirche sind aus ihrer biblischen Tradition heraus gefragt, zur Orientierung auf ein Menschenbild beizutragen, das Menschen jenseits von Leistungsanforderungen wertschätzt und annimmt. Das betrifft vor allem Fragen des Umgangs mit Zeit, mit Arbeit und Konsum, mit kulturellen und religiösen Unterschieden sowie die Gestaltung von Kasualien.

Die Kirche muss sich dafür einsetzen, die grenzenlosen Zeiterfordernisse moderner Ökonomien zu beschränken und einen Rhythmus für Arbeit und Muße zu finden. Der Sonntag als Tag für gemeinsame Zeit in Familien, Vereinen und Gemeinden mit Verfassungsrang ist weiterhin auf rechtlichen, aber auch auf gesellschaftlichen Schutz von Unternehmen, Ländern und Kommunen angewiesen. Das Gleiche gilt für die christlichen Fest- und Feiertage. Politik wie Unternehmen sind gefordert, auf Familienzeiten, Sonn- und Feiertage Rücksicht zu nehmen und die Arbeitszeiten den Familienbedingungen entsprechend familienfreundlich zu gestalten. Dazu sollten sich Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen an lokalen Bündnissen für Familie beteiligen und z.B. an der Entwicklung familiengerechter Zeitstrukturen auf lokaler Ebene mitwirken (s. Kap. 6.1).

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Aus den aufgezeigten Veränderungen resultieren neue Anforderungen für alle, die Verantwortung in der Gemeinde übernehmen, die planen und gestalten. Menschen brauchen seelsorgliche und spirituelle Angebote im Umgang mit Krisen und Übergängen des Lebens. Notwendig sind eine sensible und situationsbezogene Gestaltung von Kasualien und die konsequente Öffnung der Gemeindeangebote für Menschen in unterschiedlichen Lebensformen, das gilt auch für Alleinstehende, die soziale Anbindung z.B. in Freizeiten, Begegnungen oder als Begleiter und Begleiterinnen von Kindern und Jugendlichen suchen.

Einzelne Landeskirchen unterstützen diese Neuorientierung, indem sie Gemeinden und diakonische Einrichtungen auszeichnen, die Zeit und Energie investieren, um der Pluralität der Familienformen und Lebensstile gerecht zu werden. Ein Siegel „familienkompetente Gemeinde“ könnte auch EKD-weit Gemeinden motivieren, die Ressourcen in der eigenen Gemeinde in ihrer Breite und Vielfältigkeit zu erfassen und daraus Schlüsse für die Praxis zu ziehen (s. Kap. 8).

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Mitglieder der Ad-hoc-Kommission
  • Bundesministerin a. D. Dr. Christine Bergmann, Berlin (Vorsitzende)
  • Prof. Dr. Ute Gerhard, Bremen (stellv. Vorsitzende)
  • Oberkirchenrätin Dr. Kristin Bergmann, Hannover
  • Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler, München
  • Prof. Dr. Kerstin Feldhoff, Münster
  • Kirchenpräsident Dr. Volker Jung, Darmstadt
  • Direktorin Susanne Kahl-Passoth, Berlin
  • Jens-Peter Kruse, Hannover
  • Prof. Dr. Stefanie Schardien, Hildesheim
  • Prof. Dr. Bernd Schlüter, Berlin
  • Dr. Insa Schoeningh, Berlin
  • Prof. Dr. Barbara Thiessen, Landshut
  • Rainer Volz, Düsseldorf
  • Oberkirchenrätin Cornelia Coenen-Marx, Hannover (Geschäftsführung)
Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

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