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Die Vielfalt der Familienformen ist historisch kein neues Phänomen. Die Nachkriegszeit bis zur Mitte der 1960er Jahre gilt in der Familienforschung als „goldenes Zeitalter der Ehe“, weil „niemals in der Geschichte vor den 1960er Jahren so viele Menschen verheiratet waren, Kinder eher selbstverständlich waren, so wenige Ehen geschieden wurden und nichteheliche Lebensgemeinschaften so gut wie unbekannt waren“ (Nave-Herz 2003). Es war die Zeit, in der man in der Familiensoziologie von der „Universalität“ der Kern- oder Kleinfamilie als Normalfamilie (bestehend aus Vater, Mutter, Kind) ausgegangen ist. Deren spezifische Rollenteilung und Struktur wurde nicht nur für die Stabilität der Familie, sondern auch für die Gesellschaft für unverzichtbar gehalten. Ein Blick in die weitere Vergangenheit zeigt aber, dass zur spezifisch europäischen Entwicklung der Familie schon immer eine Vielfalt der Lebensformen gehört hat. Der Begriff von Familie, der die verschiedenen Lebensformen umfasste, hat sich überhaupt erst im 18. Jahrhundert herausgebildet. Solange Familienleben und Produktionsbereich noch untrennbar verbunden waren, wurde vom ganzen Haus gesprochen. Diese Lebensform betraf jedoch nur bestimmte Schichten von Bauern und Handwerkern, die sich Gesinde und andere abhängig Beschäftigte leisten konnten. Denn bis in die Neuzeit hinein war die Familiengründung an spezifische Besitz- bzw. Eigentumsverhältnisse gebunden; es bestanden zudem vielfältige Heiratsschranken und Ehehindernisse. Aus diesem Grund hat die historische Familienforschung auch die verbreitete Vorstellung von der Entwicklung der Groß- zur Kleinfamilie, mit der die Vergangenheit häufig idealisiert wird, als einen „Mythos“ bezeichnet.