Kulturkampf um Ehe und Familie

Alexander Foitzik, Redakteur beim katholischen Magazin "Herder Korrespondenz", schreibt zur Frage, wie das Familienpapier sich auch auf die katholische Debatte auswirken könnte.
Veröffentlichung
Montag, 9. September 2013
Herder Korrespondenz, 67. Jahrgang, Heft 9

Wer über Familie schreibt, schreibt über Fragen, die Menschen bis ins Tiefste treffen.
Nikolaus Schneider

Deutschland ist nicht Frankreich. Und in Deutschland findet auch kein Kulturkampf um Ehe und Familie statt, wie ihn Beobachter in den ersten Monaten dieses Jahres bei unseren westlichen Nachbarn ausbrechen sahen. Schließlich hat die deutsche Regierung kein Gesetzesvorhaben zur Legalisierung der "Homo-Ehe", das Adoptionsrecht von Kindern inklusive, zum Prestigeobjekt erhoben beziehungsweise dessen Realisierung zur eigenen Schicksalsfrage stilisiert.

Ebenso ist die katholische Kirche in Deutschland, gerade was ihre gesellschaftliche Stellung und politischen Einflussmöglichkeiten angeht, nicht vergleichbar mit der Kirche im laizistischen Frankreich, wo Staat und Kirche, das öffentliche und das privat-religiöse Leben grosso modo zwei getrennte Sphären bilden.

In Deutschland bestehen auf verschiedener Ebene fest etablierte und institutionalisierte Gesprächsmöglichkeiten zwischen Kirche, Staat und Politik. In Frankreich reihte sich die katholische Kirche ostentativ ein in Massendemonstrationen – "Manif pour tous" –, um gegen das Gesetzesvorhaben von Präsident François Hollande zu protestieren; zumindest solange das Gesetz noch nicht von einer Parlamentsmehrheit beschlossen worden war und der Protest sich zunehmend radikalisierte beziehungsweise immer mehr zur Sache rechtsextremer politischer Kreise wurde.

Selbstredend kritisieren auch die katholischen Bischöfe in Deutschland politische Vorhaben oder Gerichtsentscheide, die in ihren Augen die grundgesetzlich geschützte Sonderstellung der Ehe von Mann und Frau relativieren oder gar gefährden. So musste sich zuletzt das Bundesverfassungsgericht vom deutschen "Familienbischof" Franz-Peter Tebartz-van Elst (Limburg) rügen lassen, weil es die steuerliche Ungleichbehandlung von Ehe und gleichgeschlechtlicher Partnerschaft als "verfassungswidrig" verurteilt hat. Die katholische Kirche lehne jede Gleichbehandlung der Ehe von Mann und Frau mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft grundsätzlich ab.

Die Anwalts-Rolle der Kirche für die Ehe ist umstritten

Dabei wird in Deutschland kaum jemand ernsthaft von einer solchen Wortmeldung überrascht sein oder womöglich gar der Kirche das Recht zu solcher Kritik bestreiten. Zum medialen Aufreger taugen solche Einlassungen freilich auch nur noch selten. In der breiten Öffentlichkeit wie in weiten Teilen des Kirchenvolkes rechnet man wohl immer schon mit solchen Reaktionen der Kirchenleitung auf einschlägige politische Vorhaben oder Gesetzesurteile.

Gerade die Anwalts-Rolle der Kirche für die lebenslange Ehe von Mann und Frau beziehungsweise die daraus entstehende Familie ist unbestritten; auch wenn die mitgelieferten naturrechtlichen beziehungsweise schöpfungstheologischen Begründungen der kirchlichen Position schon ihrer Sprache wegen vermutlich immer weniger verstanden oder nachvollzogen werden können. Dass Homosexuelle, so wie etwa auch Geschiedene oder in Beziehungen ohne Trauschein Lebende von der katholischen Kirche oder zumindest doch ihrer Leitung ignoriert, missachtet, womöglich offen oder versteckt diskriminiert werden, gehört offenbar leider ebenso zum unbefragten Image der Kirche in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit.

Kulturkampf-Potenzial besitzt das Thema Ehe und Familie aber durchaus auch in Deutschland. Das zeigte sich zuletzt sehr deutlich an den jahrelangen Auseinandersetzungen über einen gesetzlich garantierten Kindertagesstätten-Platz für Kinder unter drei Jahren beziehungsweise die damit politisch verknüpfte Einführung eines "Betreuungsgeldes" für Eltern, die auf eine außerfamiliäre Betreuung in diesem Alter verzichten (vgl. HK, April 2007, 163 ff.). Das eine oder andere Nachhutgefecht wird jetzt auch noch nach dem Stichtag, dem 1. August dieses Jahres, geschlagen beziehungsweise werden von verschiedener Seite auch Nachforderungen gestellt (vgl. dieses Heft, 438).

Was aber wäre in Deutschland los, wenn eine Regierung die "Mariage pour tous" in Angriff nähme? Würde eine gesellschaftliche Mehrheit die so genannte Homo-Ehe, auch Adoptionsrechte für gleichgeschlechtliche Paare akzeptieren? Einer Mitte Juni veröffentlichten Umfrage des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zufolge genießen homosexuelle Paare mit Kindern hohe Zustimmung in unserer Gesellschaft. Demnach
sahen 88 Prozent der Befragten in schwulen und lesbischen Lebensgemeinschaften mit Kindern selbstverständlich eine Form der Familie.

Über Ehe und Familie kann kaum nüchtern geredet werden

Sollte dieses Umfrage-Ergebnis wirklich schon repräsentativ für die deutsche Gesellschaft sein? Würde in Deutschland womöglich keiner auf die Straße gehen, um wie in Frankreich gegen den behaupteten  "Zivilisationsbruch" zu demonstrieren?  Bislang sorgt die Homo-Ehe bei den politischen Parteien beispielsweise nur innerhalb der Union für Gesprächs- und Konfliktstoff.

Dabei gehören Ehe und Familie offensichtlich zu den Themen, über die kaum nüchtern, unparteiisch und emotionslos geredet werden kann, und Familienpolitik steht scheinbar geradezu zwangsläufig unter Ideologieverdacht. Denn natürlich ist beim Thema Familie keiner und keine unbeteiligt. Immer steht auch der eigene Lebensentwurf, die eigene Lebenserfahrung ausgesprochen-unausgesprochen zur Debatte, oftmals auch die Lebensleistung in traditionellen so genannten Alleinverdiener-Familien.

"Was wird der Ehe von Mann und Frau weggenommen, wenn gleichgeschlechtliche Partner sich öffentlich und voreinander bekennen wollen zu allen Rechten und Pflichten, die mit dem Eheversprechen verbunden sind?"

Tief reichende Sehnsüchte und Wünsche sind ebenso im Spiel wie zerplatzte Träume und Hoffnungen, gescheiterte Ideale, manches "wunschlose Unglück". Und wenn "funktionierende" Ehen und Familien Kern und Fundament jedes gedeihlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Zukunft von Gesellschaft überhaupt sind, entstehen umgekehrt rasch auch sehr weit reichende Ängste, wo etwa überkommene Familienbilder oder auch traditionelle familiäre Rollenvorstellungen in Frage gestellt werden.

Wo aber solche Angst herrscht, werden auch Sündenböcke gesucht: Frauen, die nur nach Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit streben beispielsweise. Paare etwa, die ohne die nötige Frustrationstoleranz  und  Versöhnungsbereitschaft  vorgeblich "beim kleinsten Anlass einfach auseinander laufen". Oder solche eben, die sich für die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften einsetzen. Aber hängt denn die Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft zu Ehe und Kindern wirklich davon ab, ob Homosexuellen das Recht zur Eheschließung gewährt wird? Und was wird der Ehe von Mann und Frau weggenommen, wenn gleichgeschlechtliche Partner sich öffentlich und voreinander bekennen wollen zu allen Rechten und Pflichten, die mit dem Eheversprechen verbunden sind?

Aus dieser beim Thema Ehe und Familie offenbar unvermeidlichen Diskussionslage erklärt sich vermutlich auch die Heftigkeit, mit der in den vergangenen Wochen innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland gestritten wurde. Mitte Juni hatte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine "Orientierungshilfe" zum Thema Familie veröffentlicht (vgl. HK, Juli 2013, 333ff.). Angesichts eines tief greifenden gesellschaftlichen Wandels sollte sie zu einer Verständigung über Ehe, Familie und Partnerschaft innerhalb der evangelischen Kirche und der Gesellschaft insgesamt beitragen.

Es geht um Verantwortungsbereitschaft, Verlässlichkeit und gegenseitige Fürsorge

Als (Kultur)Kampfansage verstanden offenbar viele und nicht nur evangelische Christen ihre zentrale Aussage: Wo immer Menschen auf Dauer und im Zusammenhang der Generationen Verantwortung füreinander übernehmen, sollen sie Unterstützung in Kirche, Staat und Gesellschaft erfahren. Die Form, in der Familie und Partnerschaft dabei gelebt werden, darf für diese Unterstützung nicht ausschlaggebend sein. Ebenso stehen in der theologisch-ethischen Bewertung dieser vielfältigen Lebenswirklichkeit von Familie die Werte Verantwortungsbereitschaft, Verlässlichkeit, gegenseitige Fürsorge im Zentrum, gleich ob diese in der Ehe von Mann und Frau, in Partnerschaften ohne Trauschein, in Patchworkfamilien, in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften  oder  so  genannten "Regenbogenfamilien" gelebt werden.

Die Orientierungshilfe löste eine Protestwelle aus, mit der der Rat der EKD trotz dieses immer spannungsvollen Themas wohl kaum gerechnet hatte. Manche stießen sich dabei einfach nur an Verfahrensfragen. Bei einem Thema solcher Tragweite sei ein breiterer Konsultations- und Redaktionsprozess unverzichtbar. Andere rieben sich vor allem an dem zu leichtfertig verfassten theologischen Kapitel der Orientierungshilfe: Auch eine familienpolitische Stellungnahme der EKD, die sich "nur" als gesellschaftlicher Diskussionsimpuls versteht, müsse sich viel sorgfältiger mit dem biblischen Zeugnis, mit bibelhermeneutischen Fragen und der kirchlichen Lehrtradition auseinandersetzen; viel zu verkürzt schienen den meisten der Kritiker vor allem die Einlassungen zu Martin Luthers Eheverständnis.

"Schließlich liegt angesichts des offensichtlich männlichen Übergewichts auf Seiten der schärfsten Kritiker die Vermutung nahe, dass vor allem auch die entschiedene "Gender-Perspektive" der Orientierungshilfe für reichlich Unmut sorgte"

Der Anspruch der Orientierungshilfe, die heutige Vielfalt familialer Formen wahrzunehmen, einzuordnen und ethisch zu würdigen, wurde vielfach schlicht nur als "zeitgeistige", unzulässige Relativierung des evangelischen Ehe- und Familienverständnisses verstanden.

In dem durchaus verständnisvollen und sensiblen Umgang mit dem Faktum des häufigen Scheiterns von Ehen – oft mitverursacht durch übermäßige Erwartungen der Gesellschaft wie der Partner untereinander – sahen wieder andere das Ideal einer lebenslangen ehelichen Treue aufgegeben beziehungsweise fahrlässig zur Disposition gestellt.

Selbstredend sorgten auch die Passagen der Orientierungshilfe zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften für entschiedenen Protest; das Verständnis etwa für deren Wunsch nach kirchlichem Segen zu allererst. Viel ausführlicher doch hätte die Orientierungshilfe sich auseinandersetzen sollen mit den unbestreitbar heftigen und spannungsreichen Diskussionen der letzten Jahre und Jahrzehnte in den einzelnen Landeskirchen in dieser Frage.

Schließlich liegt angesichts des offensichtlich männlichen Übergewichts auf Seiten der schärfsten Kritiker die Vermutung nahe, dass vor allem auch die entschiedene "Gender-Perspektive" der Orientierungshilfe für reichlich Unmut sorgte, die Frage also nach bestimmten zeitbedingten männlichen und weiblichen Rollenbildern beziehungsweise Rollenerwartungen in den wechselnden Vorstellungen und Familien-Idealen. Kaum verhehlen die vom Rat der EKD beauftragten Experten tatsächlich eine gewisse Sympathie beispielsweise gegenüber dem Autonomiestreben von Frauen beziehungsweise zeigen sie gesteigerte Aufmerksamkeit, wenn es darum geht, sich mit der besonderen und vielfachen Belastung von Frauen im Familienalltag auseinanderzusetzen und entsprechende familienpolitische und -rechtliche Maßnahmen zur Abhilfe vorzuschlagen. Ist solchem Anliegen vernünftig zu widersprechen?

Diskussionen auch in der katholischen Kirche

Die Orientierungshilfe löste dabei nicht nur ökumenische Irritationen aus. Zu kurz war geraten, was ihre Autoren zum evangelischen und zum katholischen Eheverständnis beziehungsweise zum Unterschied zwischen beiden schrieben. Im Namen der Deutschen Bischofskonferenz erklärte Bischof Tebartz-van Elst, man sei sehr besorgt, wie in einem offiziellen Text des Rates der EKD eine Relativierung der lebenslang in Treue gelebten Ehe erfolge. Und es folgt die rhetorische Frage, ob man in der evangelischen Kirche nicht mehr daran glaube, dass lebenslange Treue möglich sei.

Auch der Kölner Erzbischof, Kardinal Joachim Meisner, zeigte sich "erschüttert" über die Beliebigkeit und Relativierung von Ehe und Familie in der Orientierungshilfe. Es sei ja die Aufgabe von Seelsorge, die dort besprochenen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen zu "registrieren". Diese aber dürften nicht einfach zum "Wahrheitskriterium" erhoben werden.

"Ebenso braucht es eine möglichst breit geführte Auseinandersetzung darüber, wie die Kirche an dem Ideal lebenslanger Treue in der Ehe festhalten kann"

Dabei ringt man doch wahrlich auch innerhalb der katholischen Kirche mit dem Thema Ehe und Familie. So waren dies beispielsweise in den letzten beiden Jahren immer wiederkehrende Themen bei den unterschiedlichen Veranstaltungen und Konsultationen im Kontext der diözesanen sowie des Diözesen übergreifenden Dialog- oder Gesprächsprozesses: die grundsätzliche Frage, wie die Kirche in ihrer Seelsorge, aber auch in ihrer Verkündigung "den Menschen nahe" und lebensdienlich(er) sein kann, wie sie dabei auch die Vielfalt der verschiedenen Lebensformen wahrnimmt (womit anderes gemeint ist als "registrieren") und sich dieser stellt, und wie schließlich "Lebbarkeit" zum Kriterium der kirchlichen Sexualethik und die Qualität von Beziehungen zum Maßstab auch ihrer theologisch-ethischen Beurteilung werden kann. All dieses fokussiert beispielsweise in der konkreten Frage nach dem Umgang der Kirche mit wiederverheirateten Geschiedenen und mit homosexuellen Menschen.

Dabei kann es im Falle der wiederverheirateten Geschiedenen auch nicht "nur" um eine pastoral motivierte Zulassung zu den Sakramenten nach stiller Einzelfallprüfung gehen oder um arbeitsrechtliche Fragen in der Kirche, so wichtig beides natürlich ist. Ebenso braucht es eine möglichst breit geführte Auseinandersetzung darüber, wie die Kirche an dem Ideal lebenslanger Treue in der Ehe festhalten und dieses auch vertreten kann, mit gut begründeten und nachvollziehbaren Argumenten in den eigenen Reihen ebenso wie in der Öffentlichkeit einer pluralen Gesellschaft.

Dies aber wird nur gelingen, wenn sie sich auch ebenso ernsthaft und nachvollziehbar mit den Gründen vielfachen Scheiterns von Lebensplänen, mit enttäuschten Erwartungen, neuen Hoffnung und Sehnsüchten auseinandersetzt. Das Schlagwort von einem "barmherzigen" Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen bleibt demgegenüber missverständlich und vorsichtig ausgedrückt "unterkomplex".

Auf vorschnelle Abwertung anderer Positionen verzichten

Und der Umgang mit Homosexuellen in der Kirche? Immer weniger scheinen auch Katholikinnen und Katholiken, die mit ihrer Kirche hoch identifiziert sind, die offizielle Position der Kirche nachvollziehen zu können: Demnach werden homosexuell empfindende Menschen nicht abgelehnt, dürfen diese keinesfalls diskriminiert werden. Gleichzeitig verurteilt die Kirche jedoch auch gleichgeschlechtliche Partner, die in festen Partnerschaften leben, in gegenseitiger Verantwortung und Fürsorge. Ob dieses Unverständnis vieler Katholiken dabei schon gleichbedeutend ist beispielsweise mit dem Wunsch nach kirchlichem Segen für diese gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, lässt sich derzeit weder behaupten noch bestreiten. Warum aber nicht offen darüber reden?

Eine offene, faire, möglichst breit geführte Diskussion zum Thema Ehe und Familie ist in jedem Fall auch in der katholischen Kirche in Deutschland dringend: mit theologisch-anthropologisch gut begründeten Argumenten, in Treue gegenüber der Tradition gleichermaßen wie mit wachem, wertschätzendem Blick auf die konkrete Lebenswirklichkeit. Diese Diskussion mag heftig werden, die Auseinandersetzungen um die Orientierungshilfe in der Schwesterkirche bieten bestes Anschauungsmaterial. Wenn es jedoch gelingt, auf vorschnelle Abwertung anderer Positionen oder ideologische Immunisierung der eigenen zu verzichten, können diese innerkirchlichen Diskussionen auch zu einem wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte insgesamt werden – nicht zuletzt zur Vermeidung eines Kulturkampfes um Ehe und Familie à la française und auch um des eigenen Images wegen.

Die Website der Herder Korrespondenz

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