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Das Wort Gottes als Richter, Regel und Richtschnur
2. Das Wort Gottes als Richter, Regel und Richtschnur
4 "…und bleibt allein die heilige Schrift der einige Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem einigen Probierstein sollen und müßen alle Lehren erkannt und geurtheilet werden, ob sbie gut oder bös, recht oder unrecht sein" (BSLK, 769), so heißt es in der Konkordienformel von 1577. Das heißt doch: Weder die einzelnen Glaubenden noch die Kirchen können die Schrift regieren. Sie ist nicht der Besitz der Kirche und ihrer Gläubigen. Sie ist "norma normans" und wird nicht durch unser Verständnis von ihr normiert. Wir können sie nicht zum Büttel unserer eigenen Frömmigkeitsformen oder unserer eigenen Lebensstile machen. Wir müssen auch als Kirche eine auf das Wort Gottes erwartungsvoll hörende Kirche bleiben.
5 Wie schwierig und kontrovers dieses Hören auf die Schrift mitunter ist, konnte man in diesem Sommer gut verfolgen. Der Rat hat im September zu einem theologischen Symposium im Blick auf den Streit um die Orientierungshilfe "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken" eingeladen. In den theologischen Vorträgen des Symposiums wurde deutlich, dass die an der Orientierungshilfe aufgebrochenen Fragen weder neu noch leicht zu beantworten sind. Der Dokumentationsband spiegelt diese gehaltvolle Debatte.
Die Ehe als Leitbild hatte schon den Rat der EKD von 1991-1997 beschäftigt. Damals wurde eine "Kammer für Ehe und Familie" berufen, die 1998 eine Stellungnahme veröffentlichte mit dem Titel "Gottes Gabe und persönliche Verantwortung. Zur ethischen Orientierung für das Zusammenleben in Ehe und Familie". Damals blieben auch schon sehr viele Fragen offen; es wurde allerdings die Bedeutung von inhaltlichen Kriterien für den Leitbildcharakter einer Ehe festgehalten: "Mit wachsendem Nachdruck" wurde dafür plädiert, "die gemeinsamen Anstrengungen darauf zu richten, eine Verständigung über die inhaltlichen Kriterien, also das Leitbild des Zusammenlebens von Mann und Frau zu erzielen“. (ebd., S. 8)
"Die kritische Debatte und das Symposium verdeutlichten aber, dass der Rat dem Bedürfnis auch nach einer theologischen Klärung des Leitbildes Ehe hätte nachkommen müssen"
Die Orientierungshilfe von 2013 hat diesen Gedanken im Grundsatz aufgenommen. Allerdings wurde nicht das "Leitbild Ehe" reflektiert, sondern die die Institution Ehe konstituierenden Werte wurden zum Maßstab für die Wertschätzung auch anderer Formen familiären Zusammenlebens gemacht. Die kritische Debatte und das Symposium verdeutlichten aber, dass der Rat dem Bedürfnis auch nach einer theologischen Klärung des Leitbildes Ehe hätte nachkommen müssen.
6 Um gut auf die Schrift zu hören, hilft eine klassische Unterscheidung des Theologen Karl Barth: das Wort Gottes tritt uns in dreifacher Gestalt entgegen, als verkündigtes Wort, als geschriebenes Wort und als geoffenbartes Wort. Gottes Wort begegnet uns als geoffenbartes Wort, nämlich in Jesus Christus. Von diesem zeugt das geschriebene Wort Gottes, das heißt die Heilige Schrift. Und das verkündigte Wort, das heißt die Predigt, bezieht sich auf dieses geschriebene Wort und wird von ihm so ausgerichtet, dass sich das geoffenbarte Wort Gottes ereignen kann. Das geschriebene Wort ist aber nur Wort Gottes, insofern es von dem geoffenbarten Wort Zeugnis gibt und uns je und je durch Gottes Wirken lebendiges Wort Gottes wird. Die Mitte der Schrift ist das geoffenbarte Wort Gottes, Jesus Christus selbst, Gottes Güte und Barmherzigkeit.
Die Differenzierung Barths ist eine hermeneutische Hilfe für die Auslegung biblischer Texte. Sie macht deutlich, dass Gottes Wort weder einfach identisch ist mit dem Wortlaut der Schrift noch mit den Worten der Verkündigung in der Predigt. Bei der Reflexion über die Heilige Schrift müssen die drei Gestalten des Wortes Gottes aufeinander bezogen bleiben. Jede Vereinseitigung führt zu theologischen Engführungen und dadurch zu Fehlurteilen.
Es ist meine Überzeugung, dass sich manche Aspekte der Orientierungshilfe selbst, manche Kritik und manche Verteidigung in unserer heftigen Diskussion verstehen lassen als Folge solcher Vereinseitigungen. Dies will ich im Folgenden genauer entfalten.
2. 1 Zum verkündigten Wort Gottes
7 Wer sich nicht auf das geschriebene und das geoffenbarte Wort Gottes zurückbezieht, steht in der Gefahr, eigene Urteile und eigene Frömmigkeit zu rechtfertigen. Die Heilige Schrift verliert dann ihre Funktion als Richterin des eigenen Glaubens. Unsere Verkündigung wird so zur Proklamation eigener, nur zeitbezogener Botschaften. Wir lesen aus der Bibel heraus, was wir zuvor hineingelesen haben, was wir vorher schon wussten und nun mit der Bibel eher illustrieren als begründen. Die Bibel wird zu einem Bestätigungsbuch unserer eigenen Glaubensüberzeugung degradiert. Wir müssen sie aber – um es mit Dietrich Bonhoeffer zu sagen – nicht nur für uns, sondern auch gegen uns lesen.
8 Ich halte es für ein 'Markenzeichen' protestantischer Theologie, die Einsichten einer jeden Zeit wahrzunehmen und sie im Lichte biblisch-theologischer Einsichten zu klären und zu deuten. Wir sollen das Hören auf Gottes Wort hineinstellen in unsere Gegenwart und Gott gleichsam mitreden lassen in unserer Suche nach Halt und Orientierung. Während des Symposiums wurde mir deutlich, dass die Orientierungshilfe in einigen Teilen unsere eigene Verkündigung (z. B. Gottes Segen für gleichgeschlechtlich liebende Menschen) im Verhältnis zur Bibel zu pauschal reflektiert hat. Die Debatte um diese Fragen hat unsere Kirche schon in den 90er Jahren sehr intensiv beschäftigt; es ist gut, wenn wir die unterschiedlichen, z. T. auch unversöhnlichen Positionen nicht zu trennenden Bekenntnisfragen werden lassen, sondern im theologischen Gespräch bleiben.
2. 2 Zum geschriebenen Wort Gottes
9 Wer das geschriebene Wort Gottes mit dem geoffenbarten Wort gleichsetzt, öffnet die Tür für eine Gesetzlichkeit im Umgang mit der Bibel. Gesetzlichkeit aber will nicht wahrnehmen, dass das geoffenbarte Gotteswort, nämlich Jesus Christus, nicht in den Buchstaben der Bibel gefangen ist. So schrieb Paulus an die Korinther: "Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig." (2. Korinther 3, 5f.)
Gottes Wort Jesus Christus ist in der Bibel bezeugt, ohne mit dem Buchstabensinn der einzelnen Worte identisch zu sein. "Was Christum treibet" ist nach Luther die hermeneutische Frage, mit deren Hilfe sich uns der Sinn des geschriebenen Gotteswortes erschließt. Diese Einsicht stellt uns vor die Aufgabe, in einigen Fragen mit der Schrift gegen die Schrift zu argumentieren. So hatte schon Luther den Jakobusbrief als "recht stroherne Epistel" gebrandmarkt, weil dort die Rechtfertigung allein aus Glauben allein durch Christus nicht deutlich genug hervortrete.
"Der bloße Verweis auf einen Wortlaut der Bibel ist also kein hinreichendes Argument, um theologische Fragen zu klären"
10 In der Bibel lesen wir, dass homosexuelle Praktiken verurteilt werden. Wir lesen aber zugleich: "Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm." (1. Johannes 4, 16b) Eine pauschale Verurteilung homosexueller Beziehungen widerspricht dem Geist dieser Liebe, die in Jesus Christus zur Welt gekommen ist und an der wir unsere Beziehungen orientieren. Deshalb würdigen wir in der Orientierungshilfe gleich-geschlechtliche Liebesbeziehungen, obwohl es dafür keine direkten Schriftbezüge gibt.
11 Der bloße Verweis auf einen Wortlaut der Bibel ist also kein hinreichendes Argument, um theologische Fragen zu klären. Und die Unterscheidung von geschriebenem und geoffenbartem Wort eröffnet auch die Einsicht, inwiefern die historisch-kritische Auslegung der Bibel ihr theologisches Recht hat. Sie verhindert, dass wir historische Gegebenheiten der damaligen Umwelt als Gottes geoffenbartes Wort missverstehen. Was damals unter homosexuellen Verhältnissen verstanden wurde, hat mit der uns heute vor Augen stehenden einvernehmlichen homosexuellen Liebe zweier freier und gleichberechtigter Partner nichts zu tun. Es hat keinen Sinn, sich in der Auseinandersetzung um die Orientierungshilfe auf einzelne Bibelstellen zu berufen, ohne hermeneutisch zu reflektieren, was damals konkret gemeint war. Diese hermeneutische Reflexion müssen wir uns zumuten. Durch das Symposium ist mir deutlich geworden, dass wir – ganz unabhängig von den konkreten existentiellen Fragen nach Ehe, Familie und Sexualität – eine grundlegende hermeneutische Reflexion über den evangelischen Grundsatz "sola scriptura" brauchen.
2.3 Zum geoffenbarten Wort Gottes
12 Das geoffenbarte Wort Gottes ist für den christlichen Glauben unser lebendiger Herr
Jesus Christus. Sein Werk ist der zentrale Inhalt des Evangeliums und zugleich der hermeneutische Schlüssel, der das geschriebene Wort für unsere Verkündigung und für kirchliche Äußerungen aufschließt.
"Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu Eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften", heißt es in der zweiten These der Barmer Theologischen Erklärung. Das lässt uns auch die Rede von vermeintlichen
"Schöpfungsordnungen" kritisch hinterfragen. Und auch die christliche Begründung der Institution Ehe muss sich gegenüber dem Kriterium des geoffenbarten Wortes Gottes, Jesus Christus, als tauglich erweisen. Es trifft zu, dass die Orientierungshilfe dies nicht ausreichend reflektiert hat. Hier sind weitere Klärungen nötig.
13 Die Blickrichtung der Orientierungshilfe halte ich gleichwohl für richtig: Im Hören auf Jesus Christus gewinnen wir Kriterien für ein verlässliches, verantwortliches, vertrauensvolles und von Liebe geprägtes Handeln in den verschiedenen familiären Beziehungen unserer Tage. Für diese auf Liebe, Verantwortung, Sorge und lebenslange Treue ausgerichtete Haltung ist die Ehe und ist die auf ihr aufbauende Familie eine besonders taugliche und bewährte Lebensform. Sie bietet für viele Menschen ein besonderes Glückspotential. Das gilt für das Aufwachsen von Kindern, für deren Wohl Vater und Mutter Sorge tragen. Das gilt aber auch für das Beziehungsglück von Mann und Frau, wie es schon im 2. Schöpfungsbericht zum Ausdruck gebracht wird: "Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch." (1. Mose 2,24)
"Viele Menschen unserer Kirche haben durch die Orientierungshilfe eine Wertschätzung erfahren, die sie bisher vermissten. Die theologische Debatte muss aber weitergehen"
Aber die Institution der Ehe garantiert nicht die Realisierung dieses Glückes – so wenig wie irgendeine andere Form familiären Zusammenlebens. Wir betonen als evangelische Kirche die Wertschätzung der Ehe zwischen Mann und Frau, wir machen Mut und Lust zur lebenslangen Ehe und verstehen sie als Leitbild. Gleichzeitig sprechen wir Alleinerziehenden, 'Patchworkfamilien' und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften nicht ab, dass Menschen darin treu, vertrauensvoll, verantwortlich und liebevoll zusammenleben können. Auch in ihnen kann der Segen Gottes erwartet und erfahren werden. Und auch diese Formen familiären Zusammenlebens verdienen kirchliche Wertschätzung und Förderung. Es ist ein Verdienst der Orientierungshilfe, dass sie dies ausgesprochen und dazu konkrete Vorschläge formuliert hat.
14 Die Heilige Schrift ist "Richter, Regel und Richtschnur" evangelischer Urteilsbildung. Evangelischer Glaube geht gleichsam immer existentiell ins Risiko und kann seine an der Schrift gewonnenen Überzeugungen immer nur in der Hoffnung entfalten, dass Gottes Geist selbst das Zeugnis beglaubigt, das wir einander aus der Schrift geben.
Der Ad-hoc-Kommission, die die Orientierungshilfe für den Rat erarbeitet hat, will ich ausdrücklich danken. Sie hat mit ihrer Arbeit für unsere Kirche, für die Diakonie und die Familienverbände wichtige Impulse gegeben. Viele Menschen unserer Kirche haben durch die Orientierungshilfe eine Wertschätzung erfahren, die sie bisher vermissten. Die theologische Debatte muss aber weitergehen. Deshalb hat der Rat der EKD die Kammer für Theologie gebeten, die oben genannten theologisch-hermeneutischen Grundfragen aufzunehmen und einen Text zum evangelischen Verständnis der Ehe zu erarbeiten.