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Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen
Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.
Da sind auf der einen Seite die sogenannten Konservativen in Kirche und Gesellschaft, die in der Orientierungshilfe vor allem eine Würdigung der Ehe als Institution vermissen. Da sind auf der anderen Seite die sogenannten Fortschrittlichen, die die Orientierungshilfe begrüßen, gerade weil sie nicht länger an der traditionellen lebenslangen Ehe als Leitbild festhält, sondern die Pluralität familialer und partnerschaftlicher Lebensformen würdigt und die Orientierung an Gerechtigkeit und Liebe ins Zentrum stellt.
Selbstverständlich sind beide Seiten sicher, ihre jeweiligen Perspektiven biblisch-theologisch begründen zu können. Ich will im Dialog mit beiden Adressatengruppen einige Überlegungen zu Ehe und Familie anstellen, die Kernanliegen beider Gruppierungen Rechnung zu tragen versuchen.
1. Homosexualität und Ehe im Licht neuzeitlicher Geschlechtermetaphysik
Die Begründungsmuster der Konservativen laufen in etwa so: Nur die heterosexuelle Ehe ist offen für Kinder, nur sie ist biblisch begründbar und verankert und zwar in den Schöpfungserzählungen, die besagen, dass Mann und Frau gegensätzliche Wesen sind, unterschiedliche Tugenden verkörpern und nur in ihrer Komplementarität eine Ganzheit ergeben. Diesen unterschiedlichen Annahmen ist aus mehreren Gründen zu widersprechen. So gibt es in der Gegenwart eine wachsende Anzahl gewollt kinderloser Ehepaare auf der einen Seite, denen man das Recht auf die Ehe aufgrund mangelnder Fertilitätsabsichten nicht absprechen wird. Gleichzeitig gibt es gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, in denen Kinder erzogen werden, meist geht es dabei um leibliche Kinder aus vorherigen Beziehungen.
Seit 2004 ist die Stiefkindadoption möglich, die es dem Partner des leiblichen Elternteils erlaubt, seine Beziehung zum Kind auf eine rechtlich tragfähige Grundlage zu stellen. Seit 2013 ist die Sukzessivadoption für gleichgeschlechtliche Paare möglich, d.h. eine Partnerin kann ein Kind, das ihre Partnerin adoptiert hat, ebenfalls adoptieren. Am 6. Juni 2013 hat das Bundesverfassungsgericht überdies entschieden, dass das Ehegattensplitting auch für eingetragene Lebenspartnerschaften gelten soll. Eine endgültige Gleichstellung von homosexuellen Paaren, die lebenslang zusammenleben wollen, steht allerdings noch aus. Damit würden in Deutschland letzte Rechtsunsicherheiten, die derzeit noch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften und ihre Kinder bestehen, ausgeräumt.
"Entscheidend ist für Kinder, dass ihre Eltern sie lieben und sich um sie kümmern – das Geschlecht und die sexuelle Orientierung der Eltern sind unerheblich"
Großbritannien und Frankreich sind an diesem Punkt weiter. In Frankreich hat das Parlament im Februar 2013 die „Ehe für alle“ beschlossen. Das schließt das gemeinsame Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Ehepaare ein. Und in Großbritannien setzte sich Premierminister David Cameron nachdrücklich für die Home-Ehe ein, gerade weil er konservativ ist und die Ehe für eine gute Institution hält und Lesben und Schwule davon nicht länger ausgeschlossen sein sollen. Das Parlament hat im Juli 2013 ein entsprechendes Gesetz für England verabschiedet (die Neuregelung gilt nicht für Schottland und Nordirland). Auch die Queen hat ihre formale Zustimmung gegeben. Das Gesetz wird 2014 in Kraft treten.
Entscheidend ist bei all diesen Veränderungen im Hinblick auf einen erweiterten Familienbegriff das Kindeswohl, das Beachtung finden muss. Hier werden vor allem Bedenken im Hinblick auf gleichgeschlechtliche Eltern geäußert. Kinder seien sowohl auf einen Vater als auch eine Mutter angewiesen. Doch Befürchtungen, dass die kindliche Entwicklung negativ beeinflusst wird, wenn Kinder mit lesbischen oder schwulen Eltern aufwachsen, lassen sich nicht bestätigen. Vor allem im angelsächsischen Raum gibt es etliche Studien, die zeigen: Entscheidend ist für Kinder, dass ihre Eltern sie lieben und sich um sie kümmern – das Geschlecht und die sexuelle Orientierung der Eltern sind unerheblich. Es kann allerdings durch Diskriminierungserfahrungen zu erhöhten Belastungen für Kinder in sogenannten Regenbogenfamilien kommen. Es steht zugleich zu erwarten, dass sich Diskriminierungserfahrungen mit der Normalität dieser Lebensform erübrigen, mindestens aber verringern.
Nun hegen in der Kirche trotzdem noch viele große Vorbehalte gegen die Homo-Ehe. Das hat mit tief verwurzelten Vorstellungen über die duale Geschlechterontologie zu tun, nach der Mann und Frau zwar prinzipiell gleichwertig, aber grundsätzlich verschieden seien. Ein komplementäres Geschlechterverhältnis lässt sich allerdings nicht biblisch begründen. Die Bibel geht als Zeugnis der antiken Welt von einem patriarchalen Geschlechterverhältnis aus, das allerdings immer wieder infrage gestellt wird, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament.
Besonders prominent ist hier die Taufformel in Gal 3,28 zu nennen: „In Christus gilt nicht mehr Jude noch Grieche, nicht mehr Sklave noch Freier, nicht mehr Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Die Neuschöpfung durch die Taufe in Christus relativiert und transformiert Unterschiede des Geschlechts, der Ethnie, des sozialen Rangs tiefgreifend. Tatsächlich lassen sich egalitäre Tendenzen in der frühen Christenheit nachweisen, sie hatten in der römisch-patriarchalen Umwelt lediglich keinen Bestand.
Aber das Entscheidende ist: Das Gegenüber zur egalitären Beziehung zwischen Männern und Frauen ist dabei nicht die polar-komplementäre, sondern die patriarchale Geschlechterordnung, in der sich die Ehefrau dem Mann unterzuordnen hat. Die Haustafeln in Kolosser- und Epheserbrief, deren Autoren Schüler des Paulus waren, unterstreichen gegenüber Paulus und den ersten christlichen Gemeinschaften denn auch diese patriarchale Ordnung von Ehe und Familie. Sie tun dies gezielt im Namen des Paulus, um dessen Relativierung der Ehe (in 1 Kor 7) zu korrigieren. Denn anders als seine späteren Schüler präferierte Paulus selbst die Ehelosigkeit, weil er die Wiederkunft des Herrn unmittelbar erwartete, sich ganz in den Dienst des Herrn gestellt sah und diese Lebensform auch im Hinblick auf andere Christusnachfolger bevorzugte. Ehe und Familie hatten für ihn an Bedeutung verloren.
"Die Ehe ist dem historischen Wandel unterworfen und entwickelt sich ständig weiter. Schon die Reformatoren haben das betont"
Die Vorstellung, dass Männer und Frauen sich komplementär zueinander verhalten und dabei zwei unterschiedliche Pole zu einer Ganzheit vereinen, ist historisch betrachtet relativ neu. Sie entwickelte sich erst im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit im 18. und 19. Jahrhundert im Bürgertum und hat sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf breiter Basis durchgesetzt. Das Bürgertum suchte sich in der Neuzeit vom Adel und von dessen sexuell ausschweifendem Lebensstil abzusetzen und etablierte vor allem im Anschluss an die Romantik ein neues Verständnis von der Ehe und der Tugendhaftigkeit der Frau.
Die Vorstellung also, die bis heute in unseren Diskursen nachwirkt, dass Frauen und Männer Gegensätze sind und Frauen von Natur aus – bzw. weil Gott sie so geschaffen hat – besonders fürsorglich, mütterlich, emotional sind, dafür aber kein Interesse an Sexualität, an Macht und an abstrakter Mathematik haben, und dass Männer umgekehrt von Natur aus dominant, aggressiv, sexuell schwer zu bändigen, dafür aber nüchterner, sachlicher und klüger sind, prägt nur eine kleine Episode der Geschichte. Sie wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend als Konstruktion entlarvt, weil sie sich empirisch nicht halten lässt. Wir wissen heute, dass es strategisch kluge Machtpolitikerinnen und emotional fürsorgliche Väter gibt, und verabschieden uns zunehmend von den Geschlechterklischees, die viele Menschen beider Geschlechter als repressiv erlebt haben und zum Teil immer noch erleben.
Damit ist erstens klar, dass die Ehe weder die neuzeitliche Komplementarität von Mann und Frau noch eine patriarchale Geschlechterordnung voraussetzt. Die Ehe ist dem historischen Wandel unterworfen und entwickelt sich ständig weiter. Schon die Reformatoren haben das betont. Die lutherische Ehelehre hat im Gegensatz zum römischen Katholizismus bewusst darauf verzichtet, „von einem, dem geschichtlichen Wandel nichtunterworfenen und stets mit sich selbst identischen Begriff der Ehe auszugehen.“ (Dietrich Rössler) Den Reformatoren war es bei aller Hochschätzung der Ehe wichtig, aus ihr kein dogmatisches Lehrstück zu machen, sondern sie der sittlichen Lebensgestaltung, also der Ethik, zuzuweisen und dabei individuelle und überindividuelle Perspektiven konstruktiv miteinander zu verbinden.
Damit sind zugleich die Befürchtungen derjenigen zu entkräften, die der Ehe als Institution gerade deshalb gegenüber skeptisch sind, weil sie sie grundlegend mit einer asymmetrischen Geschlechterordnung verknüpft sehen, die sich insbesondere für Frauen problematisch auswirken konnte und kann. In die Institution Ehe ist Kontingenz immer schon mit eingebaut, sie hat aus evangelischer Sicht keine zeitübergreifende „himmlische“ Objektivität wie das im katholischen Sakramentsverständnis proklamiert wird, sondern bedarf der ethischen Gestaltungskompetenz.
"Es ist aus historischen und exegetischen Gründen nicht möglich, die neuzeitlich-bürgerliche Vorstellung von Ehe und Familie biblisch zu begründen"
Die Ehe hat sich modernisiert, sie folgt weithin nicht mehr dem traditionellen Modell der Hausfrauen- oder Ernährerehe. Männer und Frauen begegnen sich zunehmend auf Augenhöhe – im Hinblick auf das Niveau ihrer Ausbildungen, ihrer finanziellen Ressourcen, ihrer persönlichen und beruflichen Möglichkeiten. Die emotionale Intensität in Ehen hat dadurch eher zu-, statt abgenommen. Das kann die Kirche nur begrüßen. Manchmal verbirgt sich hinter gesellschaftlichen Entwicklungen nicht nur der viel geschmähte Zeitgeist, sondern auch der Heilige Geist. Die evangelische Kirche hat das bei der Einführung der Frauenordination klar erkannt.
Zweitens: Es ist aus historischen und exegetischen Gründen nicht möglich, die neuzeitlich-bürgerliche Vorstellung von Ehe und Familie biblisch zu begründen. Im Alten Testament mit seinen oftmals in unseren Augen prekären Ehe- und Familienverhältnissen (polygyn, patrilinear, konfliktreich) ist das mehr als offensichtlich.
Es ist auch bemerkenswert, dass Paulus und Jesus selbst ehelos waren. Jesus hatte zwar größten Respekt vor Kindern und ihrer Wahrnehmungskompetenz, konnte sich aber zugleich deutlich von seiner leiblichen Familie distanzieren. Als seine Mutter und seine Brüder ihn sprechen wollen, während er vor dem Volk redet, erwidert er schroff: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ Mit Blick auf die Menge vor ihm erklärt er: „Siehe da, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mein Bruder und Schwester und Mutter.“ (Mt 12, 46-50) Nicht biologische, sondern geistige Bindungen waren für Jesus zentral.
Das Ehescheidungsverbot Jesu weist zugleich darauf hin, dass Jesus sehr hohe Ansprüche an die Ehe formulierte und dabei insbesondere den Schutz der rechtlich schlechter gestellten Frau vor Augen hatte. Denn zu Jesu Zeiten konnte sich nur der Mann scheiden lassen, nicht oder nur in seltenen Fällen die Frau. Auch galt sexuelle Exklusivität nur für die Frau, nicht für den Mann.
Drittens: Gerade weil der Kirche an Verantwortung und Verlässlichkeit in Ehe
und Familie so viel liegt, sollte sie sich dafür einsetzen, dass gleichgeschlechtliche Paare den vollen ehelichen Status erlangen. Das stärkt das Modell der Ehe und zeigt, wie attraktiv und hilfreich diese Institution auch für andere Lebensformen ist. Zugleich sollte die Kirche neben Ehe und Familie auch andere Formen des Zusammenlebens würdigen. Ein Ausgangspunkt der Orientierungshilfe war ja die Erkenntnis, dass viele Alleinerziehende ihre Kinder nicht zur Taufe bringen, obwohl sie dies wünschen, weil sie fürchten, als unvollständige Familie in der Kirche nicht anerkannt zu sein.
"Eine christliche Ethik hat normativen, nicht rein deskriptiven Charakter und das heißt, sie hat Unterscheidungen zu treffen, die sich an dem orientieren, was aus christlicher Sicht lebensförderlich ist"
Die Kirche hat deshalb allen Grund, sich an diesem Punkt zu öffnen: Für gleichgeschlechtliche Paare mit und ohne Kinder, für nicht verheiratete Paare und Eltern, für Ein-Eltern-Familien, für Patchwork- und Stieffamilien. Alle Paare und Familien sollen sich in der Kirche willkommen und geachtet fühlen. Sie brauchen die Unterstützung der Kirche – in den Gemeinden, in der Seelsorge, in Kindergärten und Schulen – und last but not least: auch die Kirche braucht die Familien, die über ihre Kinder zugleich die Zukunft der Kirche sind.
Viertens: Das bedeutet nicht, jede private Lebensform „unvoreingenommen anzuerkennen und zu unterstützen“, wie es etwas ungeschützt in der Orientierungshilfe (141) heißt. Die Kirche wird vor dem Hintergrund ihres hohen Interesses an respektvollen, verlässlichen und belastbaren Beziehungen weiterhin polygame und polyamore Beziehungen als problematisch betrachten und inzestuöse und pädophile Beziehungen verurteilen. Eine christliche Ethik hat normativen, nicht rein deskriptiven Charakter und das heißt, sie hat Unterscheidungen zu treffen, die sich an dem orientieren, was aus christlicher Sicht lebensförderlich ist. Im Vordergrund steht dabei der Schutz der Schwachen und nicht das Recht auf Selbstverwirklichung.
Bischof Heinrich Bedford Strohm weist in diesem Zusammenhang auf die Goldene Regel als Kernsatz von Jesu Ethik hin: „Alles, was ihr wollt dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“ (Mt 7,12). Das ist eine menschennahe ethische Orientierung, die uns dazu herausfordert, uns in die Situation von Menschen hineinzuversetzen, die jeweils betroffen sind. Bedford Strohm folgert: „Wenn wir über Patchworkfamilien, über Alleinerziehende, über homosexuelle Partnerschaften reden, dann können wir das gut biblisch nur im Lichte der Goldenen Regel tun.“
2. Die unwahrscheinliche Stabilität von Ehe und Familie
Damit komme ich zur zweiten Rezipientengruppe – zu denen, die die Orientierungshilfe gerade deshalb begrüßen, weil sie die Ehe in ihr endlich relativiert und entmythologisiert sehen. Entscheidend sei die Qualität von Beziehungen, die Form oder äußere Struktur erscheint weniger oder gar nicht mehr von Belang.
Die Ehe als Institution ist deshalb kein Thema, die Kirche wird vielmehr dazu herausgefordert, sich neuen Leitbildern zu öffnen (OH, 132). Obwohl die Autorinnen und Autoren der OH in Diskussionen immer wieder versicherten, sie wollten die Ehe nicht abwerten, drängt sich dieser Eindruck bei der Lektüre auf. Ist die Ehe tatsächlich so schwach? Befindet sie sich in der Krise? Ist sie gar ein Auslaufmodell? Dazu einige Anmerkungen:
In den letzten Jahrzehnten haben andere Privatheitsmuster jenseits von Ehe und Familie zweifellos an Gewicht gewonnen. Es zeichnet sich eine Reduktion der institutionellen Qualität der Ehe ab. Zugleich wird die Kontinuität und Stabilität der herkömmlichen Ehe und Familie weithin unterschätzt. Die meisten Menschen wünschen sich in Deutschland nach wie vor eine lebenslange Ehe und Partnerschaft. Dass es nicht nur beim Wunsch bleibt, zeigt sich u.a. daran, dass trotz hoher Scheidungsquoten in Deutschland mehr Ehen durch den Tod eines Partners als durch Ehescheidung gelöst werden und der Anteil der Verwitweten größer ist als der der Geschiedenen – ein bemerkenswerter Befund. Ehe und Familie haben zwar einen Monopolverlust erlitten, aber das Kleinfamilienmodell bleibt „für die große Mehrheit der Bevölkerung unumstrittener Fixpunkt und Leitbild ihrer privaten Lebensorientierung.“ (Thomas Mayer)
"Die Ehe ist nicht instabiler geworden, weil sie unwichtiger wird, sondern weil man sie als lebendige tiefe Beziehung außerordentlich wichtig nimmt"
Von einer ernsthaften Krise von Ehe und Familie lässt sich nur dann sprechen, wenn das „golden age of marriage“ der 1960er Jahre mit seiner außergewöhnlich hohen Heiratsquote der Vergleichspunkt ist, nicht aber, wenn man größere Zeiträume betrachtet. Nimmt man das ganze 20. Jahrhundert in den Blick, dann kommt man zu dem Ergebnis, „dass zeithistorisch betrachtet die Menschen der Weimarer Republik hinsichtlich der Faktoren Heiratsalter, Heiratsneigung und Fertilität größere Ähnlichkeit zu den... familialen ‚Mustern der Postmoderne‘ als zu den Mustern in den sechziger Jahren zeigen. Berücksichtigen sollte man auch, dass die hohe subjektive Wertigkeit von Ehe und Familie den rückläufigen Heiratsquoten zum Trotz kulturell in keiner Weise in Frage gestellt wird.“ (Thomas Mayer)
Die überwiegende Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder sucht ihr individuelles Glück in erster Linie in Familie und Partnerschaft. Selbst die Scheidungsentwicklung ist nicht als Indiz für den Bedeutungsverlust der Ehe zu lesen, sondern eher umgekehrt für die wachsende psychische Bedeutung der Ehe. Es sind gerade die hohen Glückserwartungen, die zu Enttäuschungen und zuweilen auch zu einer Selbstüberforderung der Ehe führen. Die Ehe ist demnach nicht instabiler geworden, weil sie unwichtiger wird, sondern weil man sie als lebendige tiefe Beziehung außerordentlich wichtig nimmt.
Nach wie vor, so der Familiensoziologe Thomas Mayer, bieten Ehe und Familie „wie kein anderer Ort langfristige emotionale Geborgenheit, Bindung und Zusammengehörigkeit“. Das ist bei der deutlich verlängerten Lebenszeit besonders bemerkenswert. Der Fokus scheint bei dieser Diskussion einseitig auf Diskontinuität gerichtet zu sein. Das hat mit den Medien, aber auch der Forschung zu tun, die sich tendenziell auf die Auflösung von Beziehungen und auf neue Lebensformen konzentrieren. Es wäre ein spannendes Forschungsprojekt, demgegenüber der Frage nachzugehen, warum unter gegenwärtigen Bedingungen, in denen die Ehe weithin keine ökonomische, rechtliche oder gesellschaftliche Notwendigkeit mehr ist und die Ehedauer aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung sehr viel länger ist als ehedem, warum unter diesen unwahrscheinlichen Bedingungen so viele Menschen heiraten und die Mehrheit der Verheirateten ein Leben lang zusammen bleibt. Die Ehe ist nach wie vor für viele Menschen begehrenswert.
Ich denke, die Kirche hat ein Interesse, dieses Begehren zu unterstützen und zur Ehe zu ermutigen. Warum sollte sie dies tun?
Erstens: Jesus war ein Verfechter der lebenslangen Ehe. Das geht aus Markus 10,7-9 klar hervor: „Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und wird an seiner Frau hängen, und die zwei werden ein Fleisch sein. So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“ Dieser Satz wird bei jeder Trauung verlesen. Er drückt die enge wechselseitige Verbindung zwischen zwei Menschen aus, die hier eine große Selbstverpflichtung eingehen. Das öffentliche Bekenntnis, zusammenleben zu wollen „bis dass der Tod uns scheidet“, ist ein Wagnis, es erfordert Mut und entfaltet zugleich eine Dynamik, die auf die Gefühlslagen und das Selbstverständnis der Eheleute zurückwirkt.
"Vor allem im kirchlichen Kontext gibt es Menschen, die viel zu lange in einer Ehe leidend ausharren, weil sie ihr Treueversprechen vor dem Altar meinen nicht brechen zu dürfen"
Überdies, das war Martin Luther sehr wichtig, verpflichtet es die Zeugen der Eheschließung zur Unterstützung des Ehepaars. Der Eheschließung kommt insofern nach wie vor eine nicht geringe Orientierungsleistung zu. Die Erbschaftslinien werden neu definiert und die Herkunftsfamilien haben zu akzeptieren, dass die erste Loyalität nun dem Ehepartner und nicht mehr ihnen gilt. Insofern ist die Form keineswegs belanglos. Sie befreit von belastender Dauerreflexion und der ständigen Suche nach Selbstdefinition in einer Beziehung. Sie signalisiert, dass die Partnersuche beendet ist und markiert klare Grenzen nach außen.
Der überindividuelle Verflechtungszusammenhang hat insofern eine sowohl stabilisierende als auch entlastende Funktion. Dietrich Rössler bemerkt hierzu:„Die durch die verbindliche Ordnung begrenzte Verantwortung ist diejenige, die sich den konkreten Aufgaben zuwenden kann, weil die Grundsätze nicht mehr zur Diskussion stehen.“ Eine Ehe ist als Lebensform deshalb auch immer mehr als die Summe zweier Individuen. Sie verändert die darin involvierten Personen: „Niemand bleibt in der Ehe so, wie er vorher war.“ (Rössler) Die Ehe geht nicht in dem Willensakt oder der Leistung der Eheleute auf, sondern bildet eine eigene Realität, einen emergenten unverfügbaren Prozess, der unabschließbar ist.
Das bedeutet freilich auch, dass Ehen scheitern können. Vor allem im kirchlichen Kontext gibt es Menschen, die viel zu lange in einer Ehe leidend ausharren, weil sie ihr Treueversprechen vor dem Altar meinen nicht brechen zu dürfen. Die evangelische Kirche macht deshalb ausdrücklich klar, dass eine Auflösung der Ehe im Einzelfall für alle Beteiligten der lebensdienlichere Weg sein kann. Umgekehrt gilt es heute aber auch dazu zu ermutigen, Ehekrisen durchzustehen und eine Partnerschaft nicht vorschnell abzubrechen, wenn sich erste Enttäuschungen einstellen.
Ehen werden geschlossen im Horizont einer noch unbekannten Zukunft und weisen damit über das heute und hier einer Liebeserklärung hinaus. Das Ritual der Hochzeit ist als „Beschwörung der Kontinuitätssicherheit einer Partnerbeziehung“ (Nave-Herz) zu verstehen. Es ist weniger ein rite-de-passage als ein rite-de-confirmation. Für die Familiensoziologin Rosemarie Nave-Herz ist die nicht-eheliche Lebensgemeinschaft deshalb auch kein funktionales Äquivalent zur Ehe, sondern eine eigenständige Form, die in der Regel in eine Ehe übergeht oder sich auflöst, aber nur selten tatsächlich eine Lebensgemeinschaft darstellt.
Natürlich gibt es Ausnahmen und vermutlich gibt es zunehmend mehr davon. Insbesondere in der zweiten Lebenshälfte scheuen sich Paare, eine weitere formale Ehe einzugehen, obwohl sie ihre dann eingegangene Partnerschaft mit nicht geringerer Verbindlichkeit leben. Das hat nicht selten ökonomische Gründe, kann aber auch aus Rücksichtnahme auf die Kinder aus vorheriger Ehe erfolgen oder weil Loyalitäten zum früheren, ggf. verstorbenen oder auch noch lebenden Ehegatten (Modell Gauck) bestehen. Es gibt für die Kirche keinen Grund, diese eheanalogen Partnerschaften zu diskriminieren. Zugleich gilt es wahrzunehmen, dass gerade diese Partnerschaften am Modell der Ehe und ihren Maßstäben orientiert sind.
"Für die Reformatoren waren die Bejahung von Sexualität und Intimkommunikation in der Ehe und ein heiliges Leben kein Widerspruch"
Zweitens: Die Ehe ist vom Grundgesetz als eine Institution gedacht, die von einer großen Solidarität des Paares, das füreinander einsteht, ausgeht. Wird die Ehefrau pflegebedürftig, dann ist zunächst der Ehemann in der Pflicht. Er kann die Frau nicht einfach von heute auf morgen verlassen oder ihre Pflege nicht mehr finanzieren, nur weil diese nicht mehr ihren Leistungsanteil in die Ehe einbringen kann. Diese Solidarität und der Schutz des Schwächeren ist in einer an Markt und Tausch orientierten Gesellschaft alles andere als selbstverständlich.
Sie entspricht dem Ethos des Christentums, das deshalb ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Rechtsform Ehe hat und zwischen Bindung und Freiheit keinen Gegensatz sieht. Es geht um eine anspruchsvolle Freiheit, die nicht nur auf die individuelle Gestaltungsfreiheit bezogen ist, sondern Risiken der Bindung eingeht, Verantwortung übernimmt und das Wohl des anderen in die Orientierung der eigenen Lebensführung aufnimmt. Das ist auch und vor allem dann von Bedeutung, wenn es emotional fern liegt, noch an das Wohl des anderen zu denken wie im Fall der Scheidung. Das Eherecht nötigt gerade im Konfliktfall zum Schutz des Schwächeren und zur Fairness, die ohne rechtliche Härte in vielen Fällen unterbliebe.
Drittens: Für die Reformatoren war die Ehe Ausdruck der Weltzuwendung und der demonstrativen Sinnlichkeit des neuen Glaubens. Die Reformatoren lehnten deshalb eine Zwei-Stufen-Ethik ab, der gemäß geistliche (zölibatäre) Lebensformen höherwertig gegenüber weltlichen zu betrachten sind. Für die Reformatoren waren die Bejahung von Sexualität und Intimkommunikation in der Ehe und ein heiliges Leben kein Widerspruch, im Gegenteil: Die Ehe wird reformatorisch als vorzüglicher Ort der Bewährung des Glaubens verstanden.
Hier werden Gemeinschaft und Treue gelebt, hier werden Freud und Leid miteinander geteilt. Die Ehe verdeutlicht, was Liebe, Gnade, Anfechtung und Vergebung bedeuten können. Martin Luthers eigene Ehe mit Käthe war dafür stilbildend. Das ehemalige katholische Kloster, in dem sie lebten, wurde nun ein Ort, „an dem gelacht und geweint, geboren und gestorben, gebetet und gespielt wurde, kein monastischer ‘Zwischenraum’ zwischen Himmel und Erde, sondern ein Ort ganz und gar von dieser Welt und doch zugleich ein Ort heiligster Gottesgegenwart.“ (Thomas Kaufmann) Für Martin Bucer war deshalb auch nicht die Zeugung von Kindern der eigentliche Zweck der Ehe, sondern zunächst die eheliche Gemeinschaft selbst, das Gespräch, der Umgang miteinander „in größter Güte und Zuneigung.“
"Es geht darum, [...] aus christlicher Sicht den hohen Wert der Ehe und ihres Bekenntnisses zu wechselseitiger Liebe, Solidarität, Treue und Bindung in der spätmodernen Optionsgesellschaft zu würdigen und zu fördern – und die Segnungen, die sich damit verbinden, allen zu gewähren"
Weil die Reformatoren so hohe Ansprüche an die Beziehungsqualität der Ehe hatten, plädierten sie zugleich offen für das Recht auf Scheidung und Wiederheirat. Martin Luther, Johannes Bugenhagen, Heinrich Bullinger und Martin Bucer äußerten sich explizit dazu. Bucer ging sogar so weit, dass nicht nur schwerwiegendes Fehlverhalten (wie Ehebruch), sondern schon das Schwinden der Liebe und eine unversöhnliche Entfremdung in der Ehe Scheidungsgrund sei. Damit kommt er dem modernen Scheidungsrecht sehr nahe.
Wenn Ehen gelingen, haben sie eine besondere emotionale Qualität für die Partner, aber auch für Kinder, die dann in einem Raum der Geborgenheit und des Vertrauens aufwachsen. Gerade angesichts von Mobilität, vielen Kontingenzen und prekären Biographieplanungen ist der Wunsch nach privater Stabilität groß. Sehr viele Menschen erleben diese Stabilität und den gleichzeitigen Freiraum für die persönliche Weiterentwicklung in ehelichen und familialen Beziehungen. Für Rosemarie Nave-Herz ist die heutige Ehe „durch die Emotionalisierung, Intimisierung und Exklusivität ihrer Binnenstruktur [deshalb] eine bedeutende, selbstverständlich nicht alleinige, aber eine der bedeutsamsten identitätsbildenden und -erhaltenden Institutionen“. Der langjährige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio spricht im gleichen Sinn von der institutionellen Seite individueller Freiheit und Entwicklung. Diese positiv-realistische Perspektive auf die Ehe ist aus meiner Sicht in der Orientierungshilfe zu kurz gekommen.
Fazit
Es geht nicht darum, der traditionellen Ehe mit ihrem asymmetrischen Geschlechterarrangement das Wort zu reden oder einen essentialistischen Institutionenbegriff zu repristinieren, sondern aus christlicher Sicht den hohen Wert der Ehe und ihres Bekenntnisses zu wechselseitiger Liebe, Solidarität, Treue und Bindung in der spätmodernen Optionsgesellschaft zu würdigen und zu fördern – und die Segnungen, die sich damit verbinden, allen zu gewähren, die sie begehren, auch den gleichgeschlechtlichen Paaren.