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Ehe und Familien – institutionentheoretische Überlegungen in evangelischer Perspektive

Dieser Vortrag von Prof. Dr. Peter Dabrock, Erlangen, ist die Kurzfassung seines Beitrages "Brauchen wir eine neue evangelische Institutionenethik?", gehalten bei einer Konsultation zur EKD-Orientierungshilfe an der Evangelischen Akademie Bad Boll am 22. und 23. November 2013.
Quellen: 
Veröffentlichung
Freitag, 22. November 2013
Evangelische Akademie Bad Boll

Die Langfassung dieses Beitrages für die Evangelische Akademie Bad Boll ist hier zu finden: "Brauchen wir eine neue evangelische Institutionenethik?"

1. Grundzüge einer evangelischen Institutionenethik

1.1. Wenn in der gegenwärtigen Debatte um die OH der Ruf nach einer neuen evangelischen Institutionentheorie laut erschallt, dann verbindet sich damit die Erwartung, dass angesichts des offensichtlich nicht als Orientierung, sondern als Desorientierung wahrgenommenen Textes wieder Sicherheit, Ordnung und Stabilität in Fragen der Lebensführung einkehren möge. Offensichtlich hegen manche die Hoffnung, man könne nach der Skizzierung eines evangelischen Verständnisses von Institutionen dieses allgemeine Verständnis einfach auf bestimmte Anwendungsfelder übertragen, um so die spezifischen Problemlagen, die sich dort jeweils ergeben, galant zu umgehen. M.E. hat die Debatte um die OH gezeigt, dass dies nicht geht.

1.2. Schon die Rede von Institutionen im Allgemeinen, erst recht im theologischen Redekreis, ist alles andere als klar und setzt oft mehr voraus, als hinterher eingelöst wird. Das gilt erst recht, wenn aus solchen stillschweigend als geteilt vorausgesetzten Annahmen konkrete ethische Forderungen abgeleitet werden sollen. Sehr allgemein wird man unter einer ‚Institution‘ ein „Muster“ begreifen können, „das auf Dauer gestellt wird und aufgrund seiner Zeitfestigkeit Erwartungen stabilisiert.“ (Nassehi 2008: 61) Institutionen, so sie ihren Zweck erfüllen, schaffen also Erwartungs- und Handlungssicherheit, stabilisieren individuelles Verhalten und damit auch gesellschaftliche Kommunikationen und deshalb die Gesellschaft als ganze. Durch die Komplexitätsreduktion, sich nicht in jeder Kommunikation komplett neu erfinden zu müssen, sondern auf bewährte Kommunikationspfade setzen zu können, ermöglichen sie zugleich Komplexitätssteigerungen.

Sofern sie die Möglichkeit zur Gestaltung und Nutzung des durch sie bereitgestellten Spielraumes für individuelle Kreativität bieten, können Institutionen also durchaus einen Freiheitsgewinn gewähren. Dass über die Funktionen der Generierung von Erwartungssicherheit, der Entlastung gegenüber komplizierten Neuerfindungen und der Gesellschaftsstabilisierung hinaus auch Konformität und Normalisierungszwang Institutionen begleiten, darf nicht vergessen werden. Diese Effekte sind nicht einfach ein bisweilen auftretendes Übel von Institutionen, sondern die notwendig dazugehörende andere Seite von Komplexitätsreduktion und Freiheitsgewinn.

"Die Stabilität zahlreicher Institutionsmuster ruht durchaus auf dünnem Grund [...] und kann schneller als gedacht entmythologisiert werden"

1.3. Wegen der Ambivalenz zwischen Entlastungsfunktionen für die persönliche Lebensgestaltung einerseits und Konformitätsdruck andererseits geht eine einigermaßen gehaltvolle Institutionentheorie, sei sie theologisch, sei sie soziologisch, sozialpsychologisch oder juristisch ausgerichtet, keineswegs in der Funktionsbeschreibung von Institutionen auf, sondern sollte Fragen der Aneignung, der fortlaufenden Gestaltung und grundsätzlichen Kritisierbarkeit von Institutionen (vgl. Huber 1985: 122) einschließen. Institutionen sind also nicht einfach Bedingung von Freiheit, sondern werden nur kultiviert, wenn freie Menschen sie aufnehmen und fortschreiben. Deshalb insistiert Huber zu Recht darauf, dass im „Prozess der Zivilisation“ (N. Elias) institutionelle Regeln nicht mehr primär aufgrund formeller oder informeller Sanktionen, sondern aus Einsicht befolgt oder eben dort, wo die Einsicht verloren geht, kritisiert, ggf. reformiert, abgeschafft und damit nicht mehr befolgt werden. Einen Artenschutz für Institutionen gibt es in Neuzeit und Moderne nicht, allem Sehnen danach zum Trotz!

Daraus folgt für diejenigen, die in primärer Naivität auf die skizzierten Wirkungen von Institutionen – im hiesigen Fall: der traditionellen Ehe und Familie – hoffen, die ernüchternde Einsicht: Zwar lässt sich nach wie vor eine verbreitete Hochschätzung zentraler Institutionen konstatieren, wie sie beispielsweise in dem weit verbreiteten Wunsch, eine institutionell abgesicherte und erfüllende Partnerschaft, offen für Nachwuchs, zu führen, zum Ausdruck kommt. Aber die Stabilität zahlreicher Institutionsmuster ruht durchaus auf dünnem Grund, insofern die vermeintliche Selbstverständlichkeit des Gegebenen durch das Schalwerden eines institutionellen settings, durch Überforderungen (wie sie vielfach für die Ehe konstatiert werden, die nach Auskunft nicht weniger Soziologen an ihrem eigenen Ideal, das kaum jemand zu erfüllen fähig ist, zu scheitern droht) oder auch durch Konkurrenzangebote, die deutlich machen, dass auch andere institutionelle Lebensformen attraktiv sind, schneller als gedacht entmythologisiert werden kann.

Weil alle drei Destabilisierungsfaktoren in der sog. wertepluralen und „posttraditionalen Gesellschaft“ (Giddens 1996) zu Hauf zu finden sind, kann man sich der Wirkung von Institutionen bestenfalls in einer Art „sekundärer Naivität“ (P. Wust) überlassen. „Sekundäre Naivität“ meint dabei, dass man um die grundsätzliche Fragilität von Institutionen in der Moderne weiß, aber dennoch den Wunsch hegt, in bestimmten stabilen settings zu leben oder sich ihnen sogar ganz anzuvertrauen und auch bereit ist, diese Institutionen, soweit sie als lebensdienlich erlebt werden, aneignend und transformativ mit Leben zu füllen.

1.4. In diesem Sinne möchte ich zwei neuere evangelische Institutionentheorien vorstellen – und an anderen könnte man das zu Sagende auch durchspielen. Zunächst zu Ernst Wolf. Seine Institutionentheorie ist auch kompositorisch ein eindrücklicher Systementwurf (vgl. Wolf 1975: 168-289). Insofern Wolf Institutionen definiert als „soziale Daseinsstrukturen der geschaffenen Welt als Einladung Gottes zu ordnender und gestaltender Tat in der Freiheit des Glaubensgehorsams vor Gott“ (Wolf 1975: 173), hat er in der Tat einen binnentheologisch zunächst plausiblen Zugang gefunden, eine schöpfungstheologische Grundlegung von Institutionen zu öffnen für Gestaltungsmodi aus dem Geiste der vom Glauben (und damit auch der Liebe des Glaubens) erschlossenen Freiheit. Indem er Institutionen mit Hans Dombois als Einheit von göttlicher Stiftung und menschlicher Annahme begreift (vgl. Wolf 1975: 172), findet Wolf einen Mittelweg zwischen konservativer Ordnungstheologie und einer die Stetigkeiten des Lebens nicht hinreichend würdigender Situationsethik (vgl. Wolf 1975: 173).

"Als Bekräftigung [...] ist daran zu erinnern, dass das aus der geglaubten Gemeinschaftstreue Gottes gewonnene Verständnis von Freiheit die Inklusion aller unter vorrangiger Berücksichtigung der Schwachen einschließt"

Dies geschieht in einer Formatierung, die Institutionengestaltungen an die oben skizzierte, bei ihm vor allem von der Rechtfertigungslehre her gelesene einladende Treue Gottes bindet. Wenn Wolf dann jedoch in geradezu kompositorischem Zwang, gemäß der von ihm in Aufnahme traditioneller lutherischer Elemente identifizierten Dreigestaltigkeit menschlichen Lebens, nämlich im Gegenüber zu Gott, zu anderen Menschen und zur Welt die Institutionalität von Bund, Mitmenschlichkeit und Herrschaftsauftrag identifiziert, der die exemplarischen Institutionen Kirche und Staat, Ehe und Familie und Eigentum und Arbeit entsprechen sollen, die wiederum jeweils durch die Rahmung gebietender, verbietender und gewährender Rechte gestaltet werden, dann blockiert doch das System die Wirklichkeitsbeschreibung zu stark. Ähnliches gilt im Übrigen auch für die ansonsten ohne Zweifel beeindruckenden gesellschafts- und institutionentheoretischen Überlegungen von Eilert Herms. Sofern sie zeigen, was man ohne sie gar nicht sähe, besitzen theoretische Rahmungen zwar durchaus ihr Recht. Aber der Systemzwang ist wohl zu groß, denn – wie Wolfgang Huber mit Blick auf Wolf zu Recht kritisiert – „[d]er gesamte institutionelle Bereich der Kultur bleibt außerhalb der Betrachtung: Bildung und Wissenschaft, Kommunikation und Kunst, Freundschaft und Geselligkeit haben keinen Ort. Die kennzeichnenden Institutionen der technischen Welt werden ebenso wenig einbezogen wie die transnationalen Formen politischer Ordnung.“ (Huber 1985: 125)

Damit zu Wolfgang Huber selbst: Er selbst schlägt daher einen anderen Weg vor: Nicht von der Schöpfungstheologie, die doch dazu neigt, bestimmte Formen der Institutionalität über Gebühr zu würdigen und andere Formen erst gar nicht in den Blick zu nehmen, solle eine theologische Institutionenbegründung ausgehen, sondern von dem binnentheologisch formulierten Kriterium, ob sie „die Treue Gottes zum Menschen als seinem freien Gegenüber bezeug[en]“, und von der nicht nur binnentheologisch, sondern auch außertheologisch nachvollziehbaren Prüfregel, ob sie „Menschen … die wechselseitige Verlässlichkeit ermöglichen und zugleich der Freiheit Raum geben.“ (Huber 1985: 126) Dieses eher von der Soteriologie her gewonnene Institutionenverständnis ist also deutlich sparsamer in der Identifizierung von vornherein theologisch legitimierten Institutionen. Es geht zwar durchaus vom Gegebensein von Institutionen aus, befragt sie aber je und je nach ihrer Freiheits- und Kommunikationsdienlichkeit aus dem Geiste der geschenkten Treue Gottes, die als Liebe weiterzugeben ist.

1.5. Wolfgang Hubers Prüfkriterium, ob Institutionen der Ermöglichung und Entfaltung kommunikativer Freiheit dienen, entspricht sowohl dem unüberbietbar in Luthers Freiheitstraktat auf den Punkt gebrachten christlichen Verständnis von Freiheit aus der Dialektik von Glaube und Liebe und verweist so auf die evangelisch-theologische Schriftauslegungstradition. Nicht als Gegensatz, sondern als Bekräftigung von Hubers Grundgedanken ist daran zu erinnern, dass das aus der geglaubten Gemeinschaftstreue Gottes gewonnene Verständnis von Freiheit die Inklusion aller unter vorrangiger Berücksichtigung der Schwachen einschließt. Gerade die alttestamentliche Tradition hilft, im Glauben an den dort an vielen Stellen eindringlich bezeugten gemeinschaftstreuen Gott eine Sensibilität für Ungerechtigkeiten und Exklusionsgefährdungen auch in der Gegenwart zu identifizieren.

Wer von der soteriologisch gedeuteten Freiheit her institutionelle Verhältnisse prüft, kann – nicht im Sinne eines dictum probantium, sondern weil sich an dieser Stelle in provozierender Klarheit der Umgang mit Institutionen zumindest in der christlichen Gemeinde zeigt – nicht an der Aussage von Gal 3,28 vorbeigehen: „Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.“ Weder ethnische Herkunft noch sozialer Status noch Geschlechterrollen dürfen den Umgang von Christen untereinander im Letzten prägen. Nun zeigt der Inhalt des Philemonbriefes, dass sich Paulus selbst wohl nicht konsequent an seine ekklesiologisch-sozialanthropologische Figur als Kriterium für die Gestaltung von Institutionen gehalten hat. Der Impuls von Gal 3,28 entspricht aber sowohl einem Gleichberechtigt-Sein in Christus als auch dem an anderen Stellen (nicht nur bei Paulus, sondern in weiten Teilen der neutestamentlichen Traditionsstränge) stark gemachten Liebesethos.

"Institutionen verlieren ihre Legitimation, wenn sie Menschen auf einen bestimmten Status festlegen"

Jedenfalls führt ein Weg vom diesem dekonstruierenden Verständnis von Status und Institutionen, das bei Paulus ohne Zweifel nur auf die Mitglieder der Gemeinde bezogen wird, zur These von der gleichen Würde aller Menschen. Wenn Christine Gerber darauf hinweist, dass die Haustafeln der Deuteropaulinen wieder Statusunterschiede einziehen und entsprechend den Zeitgeist der antiken Stadtkultur atmen, triff sie den entscheidenden Punkt (vgl. Gerber 2013): Selbst in einer moderaten Interpretation wird man aus Gal 3,28 ableiten müssen, dass Institutionen ihre Legitimation verlieren, wenn sie Menschen auf einen bestimmten Status festlegen und nicht – nochmals mit Huber gesprochen – primär „wechselseitige Verlässlichkeit ermöglichen und zugleich der Freiheit Raum geben.“ Mit Gal 3,28 muss man also keineswegs alle Unterschiede aufheben, aber doch zumindest anerkennen, dass damit eine Dynamik in Gang gesetzt ist, faktisch immer schon gegebene Institutionen zu kritisieren und neu zu gestalten, wo sie diesen Kriterien von Verlässlichkeit und kommunikativer Freiheitsermöglichung widersprechen.

2. Konsequenzen für das Verständnis der Institutionen ‚Ehe‘ und ‚Familie‘ sowie für das alternativer Lebensformen

Aus den vorangegangenen Überlegungen seien einige wenige Schlussfolgerungen für die aktuelle Debatte um die Orientierungshilfe gezogen.

2.1. Es gibt Ehe, Familie und alternative Lebensformen, es hat sie immer gegeben, es wird sie immer geben. Wer befürchtet, dass eine Gleichstellung alternativer Lebensformen mit Ehe und Familie deren Attraktivität mindern würde, nimmt die sozialwissenschaftliche Datenlage nicht ernst, hat unbegründete Verlustängste, ist von Phobien gegenüber alternativen Lebensformen geprägt oder verfolgt andere Ziele. Die größte Überzeugungsarbeit für die Attraktivität der Ehe, darauf hat Klaus Tanner am Ende seines Berliner Vortrages zu Recht hingewiesen, wird nicht durch theoretische Begründungsfiguren geleistet, sondern durch die gelebte Praxis (vgl. Tanner 2013).

2.2. Zwar hat es die Institution der Ehe (sei sie nun explizit so genannt oder nicht) immer schon gegeben, sie ist aber in einer solchen Vielfalt gelebt worden, dass man sich durchaus fragen kann, ob mit Blick auf die theologisch-ethische Kriteriologie wirklich von einer Kontinuität von biblischer Zeit hin zur Gegenwart gesprochen werden kann. Christine Gerber (vgl. Gerber 2013) und Jürgen Ebach (vgl. Ebach 2012) mahnen jedenfalls zur Vorsicht. Nun hält sich seit Menschengedenken das Merkmal der natürlichen Reproduktion in auf Dauer gestellten Beziehungen durch, aber selbstverständlich wurden Kinder auch außerhalb von Ehen geboren und blieben Ehen kinderlos. Wichtiger ist es, daran zu erinnern, dass es gerade hinsichtlich der Gegenseitigkeit, der Symmetrie zwischen den Partnern, dem Verständnis von Treue, Verlässlichkeit, Verbindlichkeit zu einer Intensivierung der Ehepraxis gekommen ist, die man so – trotz einzelner beachtlicher Geschichten – nicht in die Schilderungen der Ehe der Patriarchen, aber auch in die Sozialstruktur der frühchristlichen Gemeinden zurückprojizieren kann (vgl. nochmals Ebach 2012; Gerber 2013).

Sehr wohl ist es aber möglich, die immer gegebenen gegengeschlechtlichen Lebensformen darauf hin zu befragen, ob sie dem oben skizzierten Kriterienset für Institutionen entsprechen oder nicht. In diesem Sinne ist nicht so sehr von vermeintlichen Schöpfungsordnungen, sondern von der Ermöglichung von wechselseitiger Verlässlichkeit und von in Liebe grundierter Freiheit her zu fragen, was Ehe und Familie prägen soll. Wilfried Härle hat dazu überzeugend sechs Dimensionen festgehalten (vgl. Härle 2013), die sich nach meiner Wahrnehmung alle auch, einschließlich der entscheidenden theologischen Begründung aus dem in der Treue Gottes in Jesus Christus sich erschließenden Gotteswillen, in der OH finden:

  • 1. Geschlechtlichkeit als gute, aber herausfordernde Gabe Gottes,
  • 2. Exklusivität der Beziehung,
  • 3. rechtliche Schutzbedürftigkeit und -würdigkeit der auf Dauer gestellten
  • Beziehung,
  • 4. Verurteilung von Ehebruch und Ehescheidung,
  • 5. Gleichwürdigkeit und Gleichwertigkeit der Ehepartner,
  • 6. die grundsätzliche Bedeutung von Kindern für das Eheleben.

2.3. Wo und weil Ehe in diesem Sinne Freude, Treue, Verlässlichkeit, Respekt auf Augenhöhe, Offenheit für Generativität ermöglicht, wo in Familien eine generationenübergreifende Bereitschaft herrscht, Verantwortung füreinander zu übernehmen, überzeugen diese Bilder als Visionen, sind also attraktive Leitbilder. So dienen sie Menschen in alternativen Lebensformen als Orientierung. Das gilt aber nicht für die Ehe an sich oder die aus einer Ehe erwachsende Familie an sich, sondern für die von diesen Kriterien her gedeutete Institution Ehe. Daraus sind abschließend zwei Konsequenzen zu ziehen:

2.3.1. Gerade wer die Institutionalität von Ehe und Familie stärken will, wird dies nicht primär durch das Pochen auf theologische Ordnungstheologien tun, sondern indem er (oder sie) sich dafür einsetzt, Ehe und Familie als Raum von Verlässlichkeit und Freiheitsermöglichung zu stärken. Gerade die sozialpolitischen Teile der OH geben hier wertvolle Anregungen und zeigen darin ihre eher versteckte, aber sehr wohl vorhandene und in den kritischen Kommentaren nicht hinreichend gewürdigte theologische Dignität. Umgekehrt formuliert: diesen theologisch-ethisch relevanten Zusammenhang nicht gesehen zu haben, ist ein entscheidendes Defizit zahlreicher kritischer Beiträge.

2.3.2. Als erstaunlich und betrüblich ist es zu bezeichnen, wenn zahlreiche Kritiker der OH die Ehe als Leitbild hochhalten, wofür sie nach den zurückliegenden Ausführungen ja auch guten Grund haben, aber sich zugleich vehement dagegen wehren, dass Menschen, die nicht heterosexuell sind, in einer so verstandenen Institution leben wollen. Statt Freude darüber zu empfinden, dass das Leitbild ausstrahlt, brechen offensichtlich vielfach kleingläubige, mutlose Verlustängste auf, eines privilegierten Status beraubt zu werden. Sicher, die natürliche Möglichkeit, Kinder zu bekommen, gehört zu den Besonderheiten einer heterosexuellen Beziehung.

"Begreift man das Liebesgebot als Erfindungsregel für Institutionengestaltung [...], dann muss man nun wirklich keine Angst haben, dass eine Orientierung daran billiger Zeitgeist sei"

Aber gibt es nicht auch Adoptionsfamilien, in denen Generativität auf eine nichtbiologische Weise gelebt wird und die wir doch wie selbstverständlich als Ehe und Familie bezeichnen? Gibt es nicht ebenso bemerkenswerte Regenbogenfamilien, wie es schreckliche Gewalt in heterosexuellen Ehen und ihren Familien gibt? Um nicht missverstanden zu werden: Das Umgekehrte kann natürlich auch zutreffen. Weil doch alles so viel komplizierter ist, verliert man leicht die Orientierung. Man gewinnt sie aber nicht im Sinne eines Pfeifens im Walde zurück, wenn man alleine auf überkommene Ehe- und Familienbilder setzt, ohne eine theologisch-ethische Würdigkeit alternativer Lebensformen vorzunehmen.

2.4. Brauchen wir eine neue Institutionenethik, um den Anfragen an das evangelische Verständnis von Ehe, Familie und alternativen Lebensformen zu begegnen? Ja und Nein. Nein, denn im Geiste der Gemeinschaftstreue faktisch gegebene Institutionen auszulegen und zu gestalten, stellt nun wirklich keine grundstürzende Neuigkeit dar. Ja, denn an diese Verbindlichkeit und Freiheit fördernde Chance zu erinnern und sie zu vorzuleben, gerade in posttraditionalen Zeiten, ist allerdings immer wieder neu nötig: Begreift man das Liebesgebot als Erfindungsregel für Institutionengestaltung und sieht in der immer wieder ins Feld geführten Kriterienliste von Verantwortung, Verbindlichkeit und Verlässlichkeit, von Treue und Dauer Ausdrucksformen dieser Erfindungsregel für die Beurteilung von Institutionen, dann muss man nun wirklich keine Angst haben, dass eine Orientierung daran billiger Zeitgeist sei und die Institutionen Ehe und Familie ihrer attrahierenden Ausstrahlung desavouiert würden. Unterstellungen dieser Art kann man deshalb selbstbewusst zurückweisen.

Allerdings muss man dann darauf verzichten, die vor allem von liberal-konservativen Journalisten eingeklagte Erwartung zu bedienen, als „Bundeswerteagentur“ (W. Huber) für bestimmte, schon schal gewordene Deutungen der Institutionen Ehe und Familie herzuhalten. Wie man sich stattdessen mutig an den Menschen, ihren Hoffnungen, aber auch an ihren realen Ängsten ausrichten kann, hat die OH vorgemacht. Sie mag an manchen Punkten theologisch nicht ausführlich genug gewesen sein. Dieses Defizit kann und darf durch die gegenwärtige Debatte ausgeglichen werden. Die mit der OH eingeschlagene Richtung ist richtig, weil sie die Menschen in ihrem Dasein ernstnimmt und die Institutionengestaltung an ihnen ausrichtet – und um die Menschen muss es am Ende gehen (vgl. Mk 2,27).


Literatur

Ebach, Jürgen: Wir müssen doch noch einmal bei Adam und Eva anfangen, in: Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Familienfragen (Hg.): Familienbilder in Kirche und Gesellschaft, Berlin 2012, 19-30.

Gerber, Christine: Wie wird Ehe- und Familienethik „schriftgemäß“? Eine Zustimmung zur Orientierungshilfe. (01.10.2013).

Giddens, Anthony: Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft, in: Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash (Hg.): Reflexive Modernisierung, Frankfurt/M. 1996, 113-194.

Härle, Wilfried: Die Orientierungshilfe (OH) der EKD „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Eine kritische Stellungnahme in konstruktiver Absicht (01.10.2013).

Huber, Wolfgang: Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung. 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1985.

Nassehi, Armin: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen, Wiesbaden 2008.

Tanner, Klaus: Stellungnahme zur Orientierungshilfe: Zwischen Autonomie und
Angewiesenheit
(01.10.2013).

Wolf, Ernst: Sozialethik. Theologische Grundfragen, Göttingen 1975.

Mehr Informationen zur Tagung in Bad Boll finden Sie hier.