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Obwohl sich in den westlichen Gesellschaften ein hohes Autonomieideal des Individuums entwickelt hat, bleibt Familie der Raum der Gemeinsamkeit und des Füreinander-da-Seins, in dem Halt und Liebe erfahren werden können. In der wachsenden Sehnsucht, eine Familie zu gründen oder in einer Familie zu leben, wird sichtbar, dass Menschen neben dem Wunsch nach Autonomie und Freiheit zugleich ein Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit haben. Angesichts gravierender gesellschaftlicher Umbrüche und der wachsenden Erwartung an Mobilität und Flexibilität in der Berufswelt werden Ehe und Familie auch als ein Schutzraum erfahren, als Gemeinschaft, die gesellschaftliche Anforderungen auszubalancieren hat. Familien werden dabei vielfältige Aufgaben zugetraut und zugemutet: Kinder sollen so erzogen werden, dass sie das Leben in einer auf Individualisierung angelegten Wissensgesellschaft bestehen. Ehe- und Lebenspartner sollen sich gegenseitig ermöglichen, persönliches Glück zu erfahren und zu genießen und einander eine Stütze sein. Kranke und alte Menschen sollen versorgt werden, verwandtschaftliche, nachbarschaftliche und freundschaftliche Netze wollen gepflegt und weiterentwickelt werden. Zwischen den Anforderungen des Berufslebens und den Erwartungen an Erziehung, Pflege und Freundschaft muss der Alltag bewältigt werden. Bei all dem wollen Eltern ihre Kinder glücklich machen; sie möchten mit ihren Kindern ein erfülltes Familienleben führen, in dem die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu ihrem Recht kommen (Jurczyk/Lange/Thiessen 2013). Die Kirchen unterstützen Familien in ihrem Wunsch nach gelingender Gemeinschaft, sie begleiten sie aber auch im Scheitern und bei Neuaufbrüchen.

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

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