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Die sozialen Milieus in Deutschland entwickeln sich aktuell in hohem Maße auseinander. Auffällig ist die Polarisierung sozialer Lebenslagen - zwischen Ein- und Zwei-Verdiener-Haushalten, vor allem aber zwischen denen, die für Kinder sorgen, und denen, die keine Kinder zu versorgen haben. Besonders bedenklich ist, dass es überdurchschnittlich viele Alleinerziehende sind, die von Einkommensarmut betroffen sind: Alleinerziehende mit einem Kind sind zu 46%, mit zwei und mehr Kindern sogar zu 62% armutsgefährdet. In Paarhaushalten variiert die Armutsrisikoquote je nach Kinderzahl zwischen 7 und 22% (BMFSFJ 2012, 100f.). Bei den Unter-18-Jährigen ist ein Fünftel von Armut betroffen (BMFSFJ 2012, 98). In armen Familien häufen sich Unterversorgungslagen. Hier haben die Mütter oder Väter häufig einen niedrigen oder keinen Bildungs- oder Berufsabschluss. Das führt zu diskontinuierlicher Erwerbsarbeit und hoher, generationsübergreifender Arbeitslosigkeit. Wenn diese in materieller Armut groß gewordenen Kinder selber Eltern werden, haben sie häufig durch ihre frühen Deprivationserfahrungen und damit meist einhergehender Unterversorgung in mehreren Lebensbereichen geringe Beziehungskompetenzen. Sie haben häufig Ausgrenzung und das Gefühl von Wertlosigkeit erfahren, das auch an die Kinder weitervermittelt wird. So erstaunt es nicht, dass Kinder, die in Armut aufwachsen und deren Eltern arbeitslos sind, am häufigsten Zuwendungsdefizite der Eltern benennen (30%, Hurrelmann/Andresen 2010, 88f.).

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

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