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Auch die bürgerliche Familie, die sich bis in unsere Tage zum Leitbild und Inbegriff familiärer Kultur entwickelt hat, konnte noch am Ende des 19. Jahrhunderts nur von einer verhältnismäßig kleinen Gesellschaftsschicht gelebt werden - Schätzungen sprechen von einer Minderheit von 5-15% mit leicht steigender Tendenz (Kocka 1988, 13). Ihre Vorbildfunktion beruhte auf der mit der Industrialisierung ermöglichten Trennung von Haushalt und Betrieb, der Absicherung durch das Einkommen bzw. den Lohn eines Familienernährers und damit einer geschlechtsspezifischen familiären Aufgabenteilung, die einer neuen, die liberale Gesellschaft kennzeichnenden Trennung von Privatsphäre und bürgerlicher Öffentlichkeit entsprach. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entstand zugleich die Vorstellung „polarisierter Geschlechterrollen“, wonach dem Mann das öffentliche Leben, das Recht und der Gelderwerb - kurz die „männliche“ Sphäre der Vernunft - vorbehalten war, während der Frau das häusliche Leben, Erziehung und Hingabe zur „Bestimmung“ wurde, weil man Liebe, Gefühl und Gemüt eher als „weiblich“ begriff. Medizin, Anthropologie, Psychologie und schließlich die Psychoanalyse haben dieses Konzept im Laufe des 19. Jahrhunderts „wissenschaftlich fundiert“ (Hausen 1976, 369; vgl. auch Honegger 1991). Die populäre Ratgeberliteratur mit ihren Haushalts-, Koch- und Erziehungsbüchern hat ein Übriges dazu getan, „Kinder, Küche und Kirche“ als Sphäre der Frauen zu definieren. Paradoxerweise konnte sich also in einer Zeit, in der überkommene Standesdefinitionen erodierten und die Freiheit der Menschen zum rechtsstaatlichen Programm erhoben wurde, zugleich die „naturgegebene“ Differenz der Geschlechter als ausschlaggebendes Orientierungsmuster durchsetzen.