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In den Texten des Neues Testaments wird deutlich: Das Miteinander in Ehe und Familie ist wichtig, ist aber nicht die einzig mögliche Lebensform. Das Leben Jesu selbst ist voller eindrücklicher Beispiele für diese Überzeugung: Im Licht der baldigen Erwartung des künftigen Gottesreiches entscheidet er sich für ein eheloses Leben und ruft seine Jüngerinnen und Jünger auf, ihre Familien zurückzulassen, um mit ihm zu gehen (u. a. Mk 1,19). In dieses Bild passt auch die schroffe Zurückweisung, mit der Jesus seinen Eltern schon als Junge im Tempel (Lk 2,48-50), dann später noch einmal seiner Mutter und den eigenen Brüdern begegnet (Lk 8,19-21). Auch wenn es den Erwartungen eines exklusiven Verhältnisses von Eltern und Kindern, Geschwistern und Familien widerspricht, lässt sich daran ablesen, dass wir jenseits der engeren ehelichen und familiären Beziehungen in einer größeren Gemeinschaft, der Gemeinschaft in Gott, leben. Diese Überschreitungen familiärer Exklusivität gewinnen in der Geschichte der Kirche immer wieder neu Gestalt: in der Geschwisterlichkeit von Gemeinden, der Familiaritas von Klöstern, dem Aufbau ganz neuer Lebensgemeinschaften oder dem Patenamt, das keinesfalls nur nach dem Tod der Eltern Bedeutung gewann, wie viele meinen, sondern den biologischen Eltern eine soziale und geistliche Elternschaft zur Seite stellte, um Kinder in die Familie Gottes einzuführen.

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

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