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Auch die Texte der Schöpfungsgeschichte erzählen davon, dass jeder Mensch Familie hat und somit - nach Gottes Willen - in eine gemeinschaftliche Lebensgestalt hineingeboren wird. Zugleich erinnern sie daran, dass der Mensch auf ein Gegenüber angewiesen ist, wie es in neueren Übersetzungen heißt, auf „eine Hilfe, die ihm gleich sei“, einen Menschen auf Augenhöhe, der spannungsreich anders, aber doch ebenbürtig ist. Im Glück sexueller Begegnung „erkennen“ Menschen im Partner oder der Partnerin den anderen wie sich selbst, in der körperlichen Hingabe erleben wir ganz unmittelbar Verschmelzung und Angewiesensein; der andere ist „Fleisch von meinem Fleisch“, wie es im Schöpfungsbericht heißt. Das Angewiesensein auf andere macht uns also gerade nicht unfrei, sondern setzt erst viel von dem frei, was unsere Person ausmacht. Dazu gehört das Hineinwachsen in eine Familie und die Auseinandersetzung mit ihren kulturellen und religiösen Traditionen, aber auch die Liebe zu einem Menschen als dem ganz anderen, in dem wir die Gottesebenbildlichkeit entdecken. Erst in der Auseinandersetzung mit Eltern und Geschwistern und in der Erfahrung der Differenz zu einem Partner oder einer Partnerin finden wir unsere eigene Identität, erst in der Erfahrung der eigenen Unvollkommenheit und Angewiesenheit reifen wir zu erwachsenen Menschen. Dazu gehört auch die Offenheit für ein neues Leben und die Bereitschaft, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Die ersten Geschichten der Bibel stellen diesen immer auch gefährdeten Weg eines Paares, einer Familie unter den Schöpfungssegen Gottes und unter seinen Schutz. Das gilt auch nach dem so genannten „Sündenfall“, den wechselseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen, den Erfahrungen von Scham, Schmerz und Trennung, die auch die engste Gemeinschaft zu zerreißen drohen.

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

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