6.1 Zeit füreinander - Alltag und Fest

Gemeinsame Zeit in der Familie entsteht nicht von selbst, sondern muss aktiv von den Familienmitgliedern „hergestellt“ werden. Erwerbsarbeitszeit, Schule und Unterricht, Freizeit, Sport und ehrenamtliches Engagement finden in unterschiedlichen Rhythmen und zu unterschiedlichen Zeiten statt, stellen verschiedene Ansprüche an die Einzelnen und können miteinander kollidieren. Familien brauchen aber gemeinsame Zeit, um sich als zusammengehörig zu erfahren. Gemeinsame Feiern, Feste und Rituale stützen und stärken den Zusammenhalt. Unverzichtbar ist der Sonntag als gemeinsamer erwerbs-, schul- und einkaufsfreier Tag, an dem für Gottesdienst, Gemeinsamkeit und Muße Zeit ist.

57 Wenn Menschen einander nahekommen wollen, brauchen sie Zeit. Eltern möchten Zeit haben für ihre Kinder, Kinder möchten Zeit mit ihren Eltern verbringen, Paare brauchen Zeit für erfüllte Sexualität, gemeinsame Gespräche und Erfahrungen, alle Familienmitglieder brauchen auch Zeit für sich selbst, und schließlich brauchen Familien auch Zeit für andere soziale Netzwerke, wie z.B. die Kirchengemeinde oder Vereine. Viele Paare und Familien erleben Zeit aber heute als knappes Gut. Angesichts der unterschiedlichen beruflichen und schulischen Herausforderungen wird „Zeit als Paar“ oder „Familienzeit“ zu einer Gestaltungsaufgabe, an der alle Partner und Familienmitglieder immer wieder von Neuem beteiligt sind. Gemeinsame Mahlzeiten, freie Stunden am Wochenende, selbst Familienbesuche oder der gemeinsame Urlaub bilden ein Geländer für gemeinsame Erfahrung, müssen aber angesichts der vielfältigen Anforderungen oft langfristig geplant werden. Lebensphasen und Lebenszeiten werden unterschiedlich erfahren und gestaltet. Arbeitszeit und Familienzeiten haben einen verschiedenen Rhythmus und widersprüchliche Anforderungen. Diese unterschiedlichen Zeittakte können in der Familie konfliktträchtig aufeinanderprallen. Schließlich sind die Partner oder Familienmitglieder auch in unterschiedliche Zeitstrukturen wie Arbeitszeiten, Schul-, Behörden- und Verkehrszeiten eingebunden. Vielen Menschen sind diese Zeiten der Gemeinsamkeit als Ausgleich zu ihrem Schul- oder Berufsleben wertvoll. Auch umgekehrt wird die Zeit in sozialen, schulischen oder beruflichen Kontexten jenseits der partnerschaftlichen und familiären Beziehungen als wichtiger Teil des Lebens geschätzt: Neben der bewusst gemeinsam verbrachten Zeit gilt es auch, die Zeit für Haus- und Sorgearbeit zu berücksichtigen, die einen nicht unerheblichen Teil gemeinsam erlebter Zeit ausmacht.
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Zu fragen ist aber auch, welche schulischen und beruflichen Rahmenbedingungen nötig sind, damit Eltern und Kinder, aber auch Paare gemeinsam etwas unternehmen können. Wenn alle Familienmitglieder zu unterschiedlichen Zeiten arbeiten und lernen, bleibt keine Gemeinsamkeit. Da die Qualität des gemeinsamen Lebens eng verbunden ist mit zeitlichen Möglichkeiten und Verpflichtungen im Alltag und im Lebenslauf, braucht es verlässliche Zeiten, über die die Familie gemeinsam verfügen kann. Gerade für Kinder hat gemeinsam verbrachte Zeit eine herausragende Bedeutung: Sie stiftet Nähe, ermöglicht gegenseitige Anteilnahme, Unterstützung und Fürsorge. Familiale Routinen (Mahlzeiten) und Rituale (Zubettbringen) spielen dabei eine besondere Rolle. Ebenso wichtig sind die beiläufigen und nicht geplanten Zeiten, in denen Familienmitglieder einfach nur zusammen an einem Ort sind, ohne gezielt etwas Gemeinsames zu unternehmen. Wichtig ist Kindern nicht unbedingt, dass sie besonders viel Zeit mit den Eltern verbringen, sondern die verlässliche Anwesenheit der Eltern, vor allem abends und am Wochenende. Kinder wünschen sich eine verlässliche und vorhersehbare Chance, mit ihren Eltern spielen und lernen zu können. Überdies melden sie Ansprüche an die Begleitung in besonderen Situationen an. Wenn, dann wünschen sie sich vor allem mehr Zeit mit ihren Vätern (Hurrelmann/Andresen 2010, 92). Bemerkenswert ist, dass es nicht in erster Linie die Kinder mit zwei erwerbstätigen Eltern sind, die mit der elterlichen Zuwendung unzufrieden sind, sondern vorrangig Kinder von arbeitslosen und nicht erwerbstätigen Eltern sowie von erwerbstätigen Alleinerziehenden (ebd.).

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Als fester freier Tag in der Woche eröffnet der Sonntag vielen Familien Zeit für Gemeinschaft, Zeit für andere Menschen, für sich selbst und im Besonderen für Gott. Wer so beschäftigt und betriebsam ist, dass er die Beziehung zu seinen Nächsten vernachlässigt und sich auch selbst nicht mehr spürt, kann kaum spirituelle Erfahrungen machen. Denn auch und gerade Religion lebt aus Treue, und Glaube bedeutet, dass wir in allem, was wir sind und tun, auf Gott bezogen bleiben. Sonntag und Gottesdienst geben Gelegenheit, das zu spüren. Anders als andere gemeinsame freie Tage ist der Sonntag auch gesellschaftlich als Tag für Gemeinschaft aus dem Alltag „ausgegrenzt“ und respektiert. Der Sonntag ist eine „andere Zeit“, so wie auch die Festzeiten des Kirchenjahres. Feste wie Weihnachten oder Ostern, die auch Familien ihren Rhythmus geben und mit Familiengeschichten verbunden werden, bieten die Möglichkeit, Leben gemeinsam zu gestalten und zu feiern und dabei zu erfahren, wie unsere Alltagswirklichkeit in der Tiefe mit einer anderen, spirituellen Dimension zusammengehört.

Genauso wichtig sind Feste im Lebenslauf wie Hochzeitstage oder runde Geburtstage, die Familien zusammenführen und Anlass zum Wiedersehen und Feiern geben. In einer mobilen Gesellschaft erfordern sie aber auch ein besonderes Engagement von Familienmitgliedern, damit sie gelingen. Taufen und Beerdigungen werden bei einer kleiner werdenden Verwandtschaft oft nur noch im kleinen Kreis gefeiert. Auf den Kauf von Familiengrabstellen wird zunehmend zugunsten anonymer Gräberfelder verzichtet. Damit gehen zugleich wichtige Bezugspunkte für die Familiengeschichte verloren. Familienfeste bieten die Chance, Beziehungen zu vertiefen, Veränderungen wahrzunehmen und das Leben neu zu gestalten. Freudige Ereignisse wie Taufe und Trauung oder auch Jubiläen sind immer auch mit Umbrüchen und Abschieden im Leben der Familie verbunden. Umgekehrt bedarf der Abschied eines Menschen aus dem Familienverband der gemeinsamen Erinnerung und Trauer, damit Dankbarkeit und Neuanfänge Raum gewinnen können. Christliche Gemeinden können Familien dabei unterstützen, sensibel und kreativ mit Passagen im Lebenslauf umzugehen. Immer häufiger stehen Familien vor der Aufgabe, Familienfeste mit der Verwandtschaft der getrennt lebenden Partner oder auch mit neu hinzugekommenen Familienmitgliedern zu feiern. Damit Menschen sich darin nicht allein gelassen fühlen, bedürfen sie der einfühlsamen Begleitung.

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

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