6.4 Generationenbeziehungen und Fürsorglichkeit

Familien sind Übungsstätten für soziales Lernen und bilden ein Netzwerk der Unterstützung zwischen den Generationen. Sie fördern die Weitergabe von Erfahrungen und begleiten die kommenden Generationen auf ihrem Weg ins Leben. In vielen Fällen bieten sie bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit nach wie vor Fürsorglichkeit und paktische Hilfe an. Trotz zunehmender Mobilität ist die wechselseitige familiäre Generationensolidarität, die sich auch in finanziellen Transfers von den Älteren an die Jüngeren ausdrückt, ungebrochen. Kinder schätzen ihre Eltern und Großeltern und erfahren von ihnen vielfältige Unterstützung und umgekehrt.

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Der demographische Wandel äußert sich nicht nur in der sinkenden Geburtenrate und einer geringeren Zahl von Kindern je Familie, auch die höhere Lebenserwartung von Männern und Frauen spielt eine Rolle. Die nachberufliche Phase dauert nicht selten 20 bis 30 Jahre, in der im Durchschnitt längere Zeit bei guter Gesundheit gelebt werden kann. Die beiden Dimensionen des demographischen Wandels - weniger Geburten und längeres Leben - verändern die Gestaltung und die Struktur der Familien. Heute ist es keine Seltenheit, dass vier oder gar fünf Generationen gleichzeitig leben, wenn auch nicht unter einem Dach. Andererseits wird der zeitliche Abstand zwischen den Generationen, bedingt durch das ansteigende Erstgeburtsalter der Frauen, in Zukunft größer werden. Zu bedenken ist, dass Generativität nicht nur eine Frage der Biologie und Abstammung, Kinder zu haben vielmehr ein Segen ist. Denn nicht alle, die sich Kinder wünschen, können auch eigene Kinder bekommen - trotz aller Angebote der Reproduktionsmedizin. Andererseits kann die ausschließliche Ausrichtung des Lebens auf ein eigenes Kind für das Kind selbst zum Problem werden. Deshalb kann die Bereitschaft, für andere Kinder da zu sein, soziale Patenschaften zu übernehmen oder Mentor/Mentorin für junge Schülerinnen und Schüler zu werden, für beide Seiten eine bereichernde Erfahrung sein.

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Generationenbeziehungen, insbesondere zu den eigenen Kindern und Enkeln, stellen eine wichtige Ressource für Autonomie und Lebensqualität im Alter dar und sind eine bedeutsame Stütze zur Überwindung von Lebensrisiken. Sie sind heute in der Regel durch ein hohes Maß an Solidarität geprägt. Obwohl sich das Familienleben in der Regel nicht mehr im gemeinsamen Wohnen abspielt, sondern wegen der räumlichen Trennung in der sog. „multilokalen Mehrgenerationenfamilie“, fühlen sich auch erwachsene Kinder und Eltern emotional eng verbunden; sie stehen häufig miteinander in Kontakt und unterstützen sich gegenseitig. Ältere Familienmitglieder unterstützen die Jüngeren sowohl durch Geld- und Sachleistungen als auch durch tätige Hilfe. Ohne die Solidarität zwischen den Generationen käme manche junge Familie in finanziellen Notsituationen, aber auch bei plötzlichen Kinderbetreuungs-Engpässen in große Schwierigkeiten.

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Aus dem Deutschen Alterssurveys (BMFSFJ 2010b) geht hervor, dass private innerfamiliäre Geld- und Sachleistungen ganz überwiegend von alt nach jung, d. h. in entgegengesetzter Richtung zu den öffentlichen Transferströmen fließen: Während rund 36% der 70- bis 85-Jährigen ihre Kinder und Enkel mit Geld- und Sachleistungen bedenken, erhalten nur knapp über 2% dieser älteren Generation eine finanzielle Unterstützung von ihren Familienangehörigen. Wird diesem „privaten Generationenvertrag“ allerdings künftig durch Rentenkürzungen die Basis entzogen, besteht die Gefahr, dass die Generationensolidarität zumindest in den unteren Einkommensschichten geschwächt wird. Umgekehrt erhalten Ältere, vor allem wenn sie hilfsbedürftig werden, vielfältige praktische Hilfen zur Bewältigung des Alltags - von Einkauf, Behördengängen, Arztbesuchen und Instandhaltung der Wohnung bis hin zur Pflege. Die Unterstützung beruht in sehr hohem Maße auf Gegenseitigkeit, und zwar bis ins hohe Alter (Im Alter neu werden können, Orientierungshilfe EKD 2009).

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Für die Mehrheit der Älteren ist die Großelternschaft eine Sinn gebende Altersrolle, sie verbinden damit ein hohes Maß an Wohlbefinden, Erfüllung und Zufriedenheit. Zugleich sind sie in diesen Bezügen selbst auch Lernende. Drei Viertel aller Großeltern geben an, dass ihnen diese Aufgabe persönlich sehr wichtig sei, und nahezu 80% beschreiben ihre Beziehung zu den Enkelkindern als eng (BMFSFJ 2010b). Auch wenn Großeltern nicht die Hauptverantwortung für die Sozialisation der Enkelkinder tragen, leisten sie häufig Erhebliches für die kognitive und soziale Entwicklung der Kinder. Als zusätzliche Bezugspersonen kommt ihnen auch im Hinblick auf die Weitergabe des Glaubens große Bedeutung zu.

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Insgesamt haben Generationenkonflikte in der Familie in den letzten Jahrzehnten eher ab- als zugenommen. So zeigt die Shell-Jugendstudie 2010, dass sich die heutige Generation junger Menschen in ihrer Mehrzahl gut mit ihren Eltern versteht. Nur 7% berichten von „häufigen Meinungsverschiedenheiten“, und nur eine Minderheit von 1% hat den Kontakt völlig abgebrochen. Heute erleben Jugendliche ihre Eltern immer häufiger als Partner, nehmen deren Hilfe in Problemsituationen gern in Anspruch und ziehen deutlich später von zu Hause aus als noch vor einigen Jahrzehnten. Eine große Mehrheit der Eltern gibt an, enge oder sehr enge Beziehungen zu ihren Kindern zu unterhalten. Nach den Befunden des Deutschen Alterssurveys (BMFSFJ 2010b) hat die Mehrzahl der Befragten mindestens wöchentlich einmal Kontakt zu ihren erwachsenen Kindern - Mütter regelmäßiger als Väter. Die Intensität der Generationenbeziehungen ist allerdings stark von den Familienkonstellationen bestimmt. Kinder, die bei einer allein erziehenden Mutter aufwachsen, haben häufig nur flüchtige Beziehungen zum Vater und eine engere Beziehung zur Mutter als in Zwei-Eltern-Konstellationen aufwachsende Kinder.

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Somit eröffnen insbesondere erweiterte Familien Erfahrungsräume, in denen soziales Verhalten gelernt und geübt wird. Junge wie Alte haben auf diese Weise teil an Erfahrungen, die weit über den eigenen Erlebnisraum hinausreichen. Nicht zuletzt im Miteinander der Generationen wächst der soziale Zusammenhalt in der Gesellschaft.Die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander vermitteln ein Gespür für andere Lebenslagen und Bedürfnisse. Wesentlich bleibt aber auch, dass Menschen Freude daran entwickeln, kommende Generationen auf ihrem Weg ins Leben zu begleiten, die Welt mit ihnen neu zu entdecken, ihnen eigene, schöne wie schwere Erfahrungen weiterzugeben. Dass wir eben nicht für uns allein leben, sondern nach vorn und hinten in einer Lebenskette stehen, kann als spannungs- und konfliktreich erfahren werden, es kann aber auch ein tiefes Lebensvertrauen geben, das mit Gottvertrauen verbunden ist.

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Auf diese Hoffnung bezieht sich das Elterngebot: „Du sollst Vater und Mutter ehren, damit du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird“, heißt es im so genannten Elterngebot der Bibel, das nicht für Kinder, sondern für erwachsene Menschen geschrieben ist. Das Gebot setzt in alttestamentlicher Zeit – in einer Gesellschaft ohne Sozialversicherungssysteme – voraus, dass die Kinder unmittelbar und direkt die Versorgung ihrer Eltern übernehmen. Wer die Elterngeneration, die ihn erzogen und geprägt hat, achten kann, kann auch Vertrauen in die eigene Zukunft haben und mit Hoffnung auf die Zeit blicken, die er selbst nicht mehr prägen und gestalten wird. Das Generationenerbe geht über das materielle Erbe und die finanzielle Sicherung hinaus.

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Wer dem Geist dieses Gebotes folgt, muss in der heutigen Gesellschaft jedoch neu fragen, was es heißt, Generationen übergreifend Verantwortung zu übernehmen. Dies wird Konsequenzen für die Gestaltung der Versorgungssysteme haben müssen. Der für die Sozialversicherungen, insbesondere für die Renten- und Pflegeversicherung grundlegende Gedanke des Generationenvertrages wird durch das immer stärkere Ungleichgewicht zwischen der größeren Zahl der älteren und geringer werdenden Zahl der jüngeren, im Erwerbsleben stehenden Generation in Frage gestellt. Denn dieser fiktive Vertrag sieht vor, dass die nachfolgende Generation mit ihrem Arbeitseinkommen und den daraus abgeleiteten Versicherungsbeiträgen jeweils für die Versorgung der vorigen aufkommt, die wiederum selbst Beiträge in die Versicherung gezahlt bzw. die Erziehungsaufgaben für die vorige Generation übernommen hat. Skeptisch wird die Zukunft des Generationenvertrags vor allem von Jugendlichen eingeschätzt, weil er ihrer Meinung nach angesichts des Strukturwandels der Erwerbsverhältnisse nicht mehr tragfähig ist (vgl. die Shell-Jugendstudie 2010). Notwendig sind darum intensive Diskussionen über neue Wege der Gerechtigkeit und der Solidarität zwischen den Generationen. Denn bezeichnenderweise lässt die lediglich versicherungsmathematische Rechnung das in Zukunft noch viel gravierendere Problem der fehlenden Ressourcen und Zeit der Sorge für andere (einer fürsorglichen Praxis in Erziehung und Pflege) außer Acht.

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Berliner Symposion: Zwischen theologischer Aussage und sozialgeschichtlicher Lebenswirklichkeit

Die Orientierungshilfe ist zunächst an dem Auftrag zu bemessen, den der Rat der EKD der Kommission gegeben hatte: sie solle über eine kirchliche Perspektive zur Familienpolitik beraten (S. 8). In der öffentlichen Diskussion nach der Veröffentlichung sind vor allem Aspekte thematisiert worden, die nicht eigentlich im Focus der Orientierungshilfe standen. Sie betreffen das Verständnis von Ehe, Sexualität und Lebensformen und fragen nach der den betreffenden Aussagen zugrunde liegenden theologischen, vor allem biblischen Orientierung.

Berliner Symposion: Suggerierte Eindeutigkeit einer komplexen Auslegung

1) "The War over the Family"1 lautet der Titel eines Buches, das die Soziologen Brigitte und Peter L. Berger veröffentlicht haben. Die Überschrift des einleitenden Kapitels lautet: "Die Familie - Ideologisches Schlachtfeld". Wer sich durch die Nachrichten über die Evangelische Kirche in Deutschland seit der Veröffentlichung der Orientierungshilfe liest, kann in der Tat den Eindruck gewinnen, wir befinden uns auf einem Schlachtfeld.

Berliner Symposion: Wie wird Ehe- und Familienethik "schriftgemäß"? Eine Zustimmung zur Orientierungshilfe

Den Voten der Orientierungshilfe, das sei vorweg gestellt, kann ich gut folgen, und ich halte ihre sozialethischen Anliegen für eine angemessene Interpretation und Applikation biblischer Ethik. Nicht verschwiegen sei, dass ich eine präzisere theologische Begründung wünschenswert finde, da der biblische Befund eher narrativ dargestellt wird, mit Unschärfen und Fehlern im Detail.

Berliner Symposion: Die Einleitung von Christoph Markschies

Wenn, lieber Nikolaus Schneider, liebe leitende Geistliche, meine Damen und Herren, liebe Frau Gerber, liebe Herren Härle, Horn und Tanner, den Vorsitzenden der Kammer für Theologie bittet, ein theologisches Symposium zu einer Orientierungshilfe des Rates zu moderieren, dann liegt ja offenbar ein theologisches Problem vor. Sonst hätte an meiner Stelle ja irgendein anderer, irgendeine andere stehen können.

Berliner Symposion: Begrüßung von Nikolaus Schneider

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
herzlich willkommen zum theologischen Symposion des Rates der EKD.

Sie alle haben sich in den letzten Wochen und Monaten auf unterschiedliche Weise mit der Orientierungshilfe des Rates der EKD "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie stärken" auseinandergesetzt. Wir freuen uns über die rege Diskussion innerhalb und außerhalb unserer Kirche zu diesem Papier. Ein kritischer – auch selbstkritischer! – Diskurs über ethische Orientierungshilfen in existentiellen Fragen steht dem Protestantismus gut an.

Nikolaus Schneider: "Das hat mit Zeitgeist-Surferei nichts zu tun"

epd: Bei der Vorstellung des EKD-Familienpapiers haben Sie dazu aufgerufen, gesamtgesellschaftlich eine Debatte zu führen. Die ist nun im vollen Gang. Sind sie damit zufrieden?

Offener Brief: Zehn Fragen an den Rat der EKD

(1) – Bitte informieren Sie über das "Instrumentarium": "Orientierungshilfe" (auch im Unterschied zur "Denkschrift"), über das "procedere" (bis hin zur Verabschiedung), über den Status von EKD-ad-hoc-Kommissionen, über deren Autorität und Legitimation, über die Verbindlichkeit solcher Verlautbarung in den verschiedenen EKD-Gliedkirchen. Es fällt auf, dass von einzelnen führenden EKD-Vertretern aufgrund der heftigen Kritik die vom Rat herausgegebene und verantwortete "Orientierungshilfe" zu einem "Diskussionspapier" herabgestuft werden soll. Was ist denn nun "Sache"?

Offene Fragen

Frau Präsidentin, hohe Synode! Angesichts der Zeitknappheit – ich sehe Ihren mahnenden Blick - möchte ich nur drei, vier Punkte klar stellen. Zunächst einmal danke ich für die Aussprache. Wir sind in einer Kirche der Freiheit, und wir werden in der Orientierungshilfe sogar zur Diskussion und zur Stellungnahme eingeladen. Das haben wir heute getan, und das finde ich richtig und in Ordnung.

Das Papier, darauf will ich noch einmal hinweisen, ist keine Denkschrift, wie es immer wieder heißt. Es ist eine Orientierungshilfe und hat dadurch natürlich auch eine andere Qualität.

Eine Entlastung für Menschen, die mit Brüchen leben müssen

Besonders begrüßt wird die Darstellung der Vielfalt von familialen Lebensformen in der heutigen Gesellschaft. Die Ehe mit Kindern wird in diesem Zusammenhang nur als eine mögliche Lebensform beschrieben, ohne diese zu überhöhen bzw. andere Formen abzuwerten. Vielfältige Familienformen seien bereits in der Bibel beschrieben. Eine Erhebung der Familienform mit Trauschein über alle anderen Familienformen ließe sich aus der Bibel nicht ableiten, wäre geradezu eine Verengung.

Ja zur Vielfalt von Familie!

Zu Berichten über eine Initiative gegen die im Juni präsentierte Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ erklärt Christiane Reckmann, Vorsitzende des Zukunftsforum Familie e.V.:

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