Neuen Kommentar schreiben

Berliner Symposion: Wie wird Ehe- und Familienethik "schriftgemäß"? Eine Zustimmung zur Orientierungshilfe

Auf einem theologischen Symposion in Berlin am Samstag, 28. September, hat sich die EKD der Diskussion um das Familienpapiers gestellt. Dies ist der Debattenbeitrag von Dr. Christine Gerber, Theologie-Professorin in Hamburg, im von der Autorin korrigierten Manuskript.
Veröffentlichung
Samstag, 28. September 2013
Berliner Symposion des Rates der EKD

Den Voten der Orientierungshilfe, das sei vorweg gestellt, kann ich gut folgen, und ich halte ihre sozialethischen Anliegen für eine angemessene Interpretation und Applikation biblischer Ethik. Nicht verschwiegen sei, dass ich eine präzisere theologische Begründung wünschenswert finde, da der biblische Befund eher narrativ dargestellt wird, mit Unschärfen und Fehlern im Detail.

Daher nehme ich gern die Gelegenheit wahr, der Orientierungshilfe gewissermaßen Argumente im Blick auf das NT nachzutragen, die dort kurz anklingen, und damit Gedanken zu unterstreichen, die in der Diskussion über die Orientierungshilfe wenig Aufmerksamkeit finden.

So sei meine Auffassung begründet, dass sich die Schriftgemäßheit der Sozialethik nicht daraus ergibt, dass bestimmte in der Bibel erwähnte Sozialformen bzw. Institutionen zur Norm erhoben werden, sondern daraus, dass wir die hoch greifenden Forderungen, welche die biblischen Texte an den Umgang mit anderen Menschen innerhalb und jenseits der Familie stellen, genau wahrnehmen und daraus eine Ethik der Beziehungen entwickeln, die der Vielfältigkeit menschlichen Lebens gerecht wird und die für verschiedene Lebensformen Grundlage sein kann.

In vier Schritten werde ich meine Thesen entfalten:

1. Zunächst möchte ich die Differenz unterstreichen zwischen dem, worauf unsere Rede von Ehe und Familie zielt, und dem, was das NT vor Augen hat, und daran bereits das hermeneutische Grundproblem thematisieren.

2. Zweitens ist die Pluralität der neutestamentlichen Positionen herauszustellen.

3. Ein kurzer Seitenblick soll drittens die jesuanische Kritik an der Scheidung bestehender Ehen gewärtigen.

4. Abschließend möchte ich, indem ich einen Gedanken der Orientierungshilfe aufgreife, auf ethische Maßgaben der Bibel hinweisen, die uns weiter führen als eine auf Formen fokussierte Ethik.

Ich werde mich dabei in der Kürze der Zeit auf die Fragen der Ehe konzentrieren, möchte aber betonen, dass zur Bewertung von Homosexualität und Lebenspartnerschaften analog zu argumentieren ist.1

I. Das Neue Testament spricht nicht von Ehe und Familie in unserem Sinne

1) Ein Äquivalent für unseren Begriff "Familie", der die Kernfamilie aus Eltern und Kindern bezeichnet, fehlt in der Bibel. Im Neuen Testament sind nur binäre Beziehungen im Blick, und diese sind entsprechend dem damaligen patriarchalen Konzept2 stets hierarchisch organisiert: Ehemann steht über Ehefrau, Eltern über Kindern, Herren über Sklaven. Auch Sexualbeziehungen werden in der Antike weithin als Beziehungen Ungleicher verstanden, nämlich eines aktiven und passiven Parts3. Gleichheit war für die Menschen der Antike eigentlich nur in einer Freundschaft unter freien Männern zu verwirklichen.

Unter den familiären Beziehungen verband sich gegenseitige Liebe, Harmonie, Solidarität – das, was für uns wohl eine "gute Ehe" ausmacht – am ehesten mit der Geschwisterbeziehung. Es ist bezeichnend, dass das frühe Christentum gerade diese Familienbeziehung aufnimmt und die Glaubenden metaphorisch als "Brüder und Schwestern" bezeichnet. Entsprechend wird in der Paränese die philadelphia zum Vorbild für den innergemeindlichen Umgang.4

2) Der Begriff "Ehe" fällt nur am Rande im Neuen Testament.5 Das NT handelt nicht von der Institution an sich, sondern vom konkreten Zusammenleben von "Mann und Frau" als Paar. Im Blick ist die in der ganzen Antike selbstverständliche heterosexuelle Paarbeziehung, die durch Scheidung beendet werden konnte6. Diese Beziehung war grundsätzlich asymmetrisch organisiert, was z.B. bedeutet, dass sie nur für die Frau sexuell exklusiv war. Die Regelungen zielen ganz wesentlich darauf, die patrilineare Geschlechterfolge zu sichern: Ein Mann wollte sicher sein, dass die in seiner Ehe geborenen Kinder seine leiblichen sind.7

Die konkrete rechtliche Ausgestaltung ist sehr divergent; in der Antike waren die Lebensmöglichkeiten der Menschen mehr noch als durch das Geschlecht durch ihren jeweiligen Status bestimmt. Rabbinische Texte zeigen, dass eine Eheschließung als Übergabe der Tochter an einen Mann verstanden wurde, der möglichst einer angemessenen Familie entstammte. Nach römischem Recht durften nur freie und freigelassene römische Bürger_innen heiraten, die anderen lebten in rechtlich ungesicherten Konkubinaten. Das wird auch für die meisten Ehepaare innerhalb der ersten Gemeinden gegolten haben.

"Die grundsätzliche Frage ist daher nicht, was in der Bibel steht, sondern die hermeneutische Frage nach der Weise, wie die Schrift Bedeutung für heute hat"

3) Das NT partizipiert in der Regel – mit bezeichnenden Ausnahmen, auf die ich noch zu sprechen komme – an den Werten seiner Umwelt. Das Konzept der Zweigeschlechtlichkeit der Menschheit, die Institution der patriarchalen Ehe, das Leben in patrilinear bestimmten Großfamilien, Exklusivität der Sexualitätsbeziehung (der Frau), Verachtung für sexuelle Handlungen unter Männern8 sind keine biblischen Erfindungen.

Dabei ist natürlich nicht zu bestreiten, dass die Texte spezifisch theologisch argumentieren, um diese Lebensformen und ihre Ausgestaltung zu begründen. Erinnert sei nur an die Schöpfungsberichte, die in Mk 10,5-8 und Eph 5,31 zitiert werden, an die theologisch begründete Ablehnung homosexueller Praktiken, aber auch an die Forderung im nachexilischen Judentum, Mischehen zu scheiden.9

4) Die grundsätzliche Frage ist daher – wie die Orientierungshilfe zu Recht betont10 und wie hier bereits prinzipiell anzusprechen ist –, nicht, was in der Bibel steht, sondern die hermeneutische Frage nach der Weise, wie die Schrift Bedeutung für heute hat:

Sind die biblischen Voten, die eine zeitgenössisch geltende Institution theologisch begründen, so zu verstehen, dass eben diese Institution bzw. Lebensform, die sie begründen, Gottes in der Schöpfung niedergelegten Willen abbildet?

Oder ist in einem hermeneutischen Prozess erst je und je zu klären, auf welche Weise die in den biblischen Texten bezeugte tiefe Gotteserfahrung der Menschen auch über veränderte gesellschaftliche Situationen hinweg geltend gemacht werden kann?

Die evangelische Kirche ist immer wieder den zweiten Weg gegangen, und das zu ihrem Segen. Ich möchte nur an die Diskussion über die Stellung von Frauen erinnern, die unmittelbar mit unserer heutigen Frage zusammenhängt: Die Gliedkirchen der EKD haben sich in den letzten Jahrzehnten in einem breiten Konsens die Einsicht zu eigen gemacht, dass die biblischen Forderungen, Ehefrauen sollten sich ihren Ehemännern unterordnen und in der Gemeinde schweigen, aus theologischen Gründen keine bleibende Gültigkeit haben, obwohl dies in der Bibel mit der Schöpfung und dem Willen Gottes begründet wird (vgl. bes. 1 Tim 2,9-15).

II. Innerhalb des Neuen Testaments werden verschiedene Haltungen zur Ehe sichtbar und so Spuren eines Diskurses fassbar

1) Grundlegend für das NT und die kirchliche Auffassung von Ehe und Familie ist Gen 1 – 3 als die Ätiologie der Geschlechterdualität und -beziehungen. Aber diese Erzählungen von Schöpfung und Fall sind offen für verschiedene Interpretationen, schon angesichts des spannungsvollen Nebeneinanders der beiden Schöpfungsberichte. Das zu entfalten wäre eine Aufgabe für sich11; ich kann hier nur herausstellen, dass das NT bereits eine widersprüchliche Rezeption der Schöpfungserzählungen in den ersten christlichen Gemeinschaften spiegelt.

2) Jesus und Paulus waren, entgegen den jüdischen Traditionen, die den Vermehrungsauftrag Gen 1,28 als Auftrag zur Familiengründung verstanden12, nicht verheiratet. Auch Jünger wie Petrus verließen auf den Ruf Jesu hin ihre Familie. Und die Forderung, "lass die Toten ihre Toten begraben" (Mt 8,22) ruft zum Bruch des in der gesamten Antike besonders hoch geltenden Elternehregebots13.

Für die Zeit des nahenden Gottesreiches bzw. der unmittelbar bevorstehenden Parusie haben die Ehe und die Familie an Bedeutung verloren14. Nachfolge Jesu, Bereitung für das Gottesreich sind wichtiger als die familiären Verpflichtungen, zumal mit der Erwartung des nahen Endes die sozialökonomischen Motive zur Familiengründung entfielen. Namentlich der Wunsch, sich durch Kinder eine Alterssicherung zu schaffen, war obsolet. Paulus, der die Ehelosigkeit höher bewertet als die Ehe, führt in 1 Kor 7,32-34 ein weiteres Motiv dafür an, warum Menschen wie er unverheiratet bleiben sollen, wenn sie das Charisma dazu haben: Wer verheiratet ist, sorgt sich darum, wie er dem Ehepartner bzw. der Ehepartnerin gefällt – Paulus formuliert hier paritätisch –, wer unverheiratet ist, kann sich hingegen darauf konzentrieren, wie er bzw. sie dem Herrn gefalle15.

Die Formel Gal 3,28, die vermutlich bereits vor Paulus geprägt wurde, erklärt sogar die Dualität der Geschlechter als irrelevant für die Getauften. Die Aussage, dass in Christus "nicht mehr Männliches und Weibliches ist", revoziert in deutlicher Anspielung auf Gen 1,27 die Aussage, Gott habe den Menschen als "Männliches und Weibliches" erschaffen16: In der neuen Schöpfung ist die Geschlechterdualität so unerheblich wie die Unterscheidung von jüdischen und nichtjüdischen Menschen und Sklav_innen und Freien.

Wir haben deutliche Hinweise, dass sich als alternative und für die damalige Gesellschaft geradezu subversive Lebensform im ersten Christentum die Ehefreiheit herausgebildet hat. Gerade für Frauen wird ein eheloses Leben attraktiv gewesen sein, weil es ihnen relative Selbstbestimmtheit und Sicherheit vor der großen Gefahr des Todes im Kindbett bot17.

3) Aber weder für Jesus noch für Paulus werden Menschen damit zu autonomen Solitären. Vielmehr gewinnen sie Raum für die Hinwendung zu Gott und die Beziehung mit anderen Menschen. Dies wird besonders darin deutlich, dass die Familiensprache umgewidmet wird zur Beschreibung der Zusammengehörigkeit von Jesusanhänger_innen bzw. Gemeindegliedern als "Wahlverwandtschaft"18. Zum Beleg sei nur zitiert, wie Jesus Petrus tröstet, der darauf hinweist, dass sie alles verlassen haben: "Es ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker verlässt um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfach empfange: jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker mitten unter Verfolgungen - und in der zukünftigen Welt das ewige Leben." (Mk 10,29f). Das Fehlen eines Vaters in der Liste neuer Beziehungen impliziert die Kritik an der patriarchalen Familienordnung19.

4) Doch die im NT kanonisierte Tradition und die großkirchliche Theologie haben die Auflösung der patriarchalen Ehe- und Familienkonzeptionen wieder an den Rand gedrängt20. Die späteren neutestamentlichen Schriften haben die Idee der Ehefreiheit bekämpft, und das gewiss nicht nur, weil es bei ausbleibendem Eschaton doch sinnvoll war, sich fortzupflanzen. Sie passten sich damit auch dem Konzept der Mehrheitsgesellschaft an – Kaiser Augustus etwa belohnte freie und freigelassene Frauen, die heirateten und mehrere legitime Kinder gebaren, mit Rechten21 – und nahmen so Druck von den ersten christlichen Gemeinschaften.

Um es einmal polemisch zu sagen: Gerade die "Haustafeln" (Kol 3,18-4,1; Eph 5,22-6,4; vgl. 1 Petr 2,18-3,7 und 1 Tim 2,9-15.3,1-5), die zum Leitbild einer christlich-bürgerlichen Familie wurden, folgen mit ihrer Unterstreichung der patriarchalen Ehe und Familie dem Zeitgeist und gerade nicht Paulus22. Wenn der Epheserbrief dabei die Ehe mit besonderem theologischen Aufwand begründet, dann offenbar, um unter dem Namen des Paulus dessen Relativierung der Ehe zu überschreiben23. Eph 5,22-33 wird daher oft herangezogen, um die Dignität der Ehe zu begründen. Doch die Argumentation des Eph setzt die hierarchische Paarbeziehung voraus, nämlich die Auffassung, dass der Mann das Haupt der Frau ist und die Frau als Leib des Mannes diesem letztlich gehört, so wie die Gemeinde Leib Christi ist. Wer Eph 5 zur Grundlage seiner Argumentation macht, muss konsequenterweise die patriarchale Ehe propagieren.

Deutlich ist: Ehe und Familie als Lebensformen haben – völlig unbenommen von den real gelebten Ehen – in der Zeit der ersten Christenheit sub specie aeternitatis ihre Bedeutung verloren gegenüber der Bindung an Gott, an Christus, an die Brüder und Schwestern im Glauben. Es ist keinesfalls gesetzt, dass die so relativierten Strukturen mit der sich dehnenden Zeit wieder in Geltung kommen müssen.

In den letzten vielleicht anderthalb Jahrhunderten dieser sich dehnenden Zeit haben sich die Grundlagen der Lebensformen jedenfalls wiederum verändert – gegenüber den biblischen Zeiten, aber auch gegenüber der Hochschätzung der bürgerlichen Ehe in der Neuzeit: Ich erinnere nur an die anthropologischen Einsichten, dass Frauen eigenständig denkende Subjekte sein können, dass es verschiedene sexuelle Orientierungen gibt, an die Entwick¬lung der Sozialsicherungssysteme, die Familien von ihren ökonomischen Funktionen ent¬lastet, aber Raum öffnet, deren emotionale Intimität zu entwickeln, an die Loslösung der Sexualität und Fortpflanzung von Ehe und Familie durch Geburtenkontrolle und reproduktive Medizin. All das hat die Konzepte der Lebensformen so revolutioniert, dass unsere Rede von "Ehe" und "Familie" etwas anderes meint als in den biblischen Schriften.

III. Jesu Wort zu Ehebruch und Ehescheidung stellt die Verbindlichkeit der Beziehungen heraus

Das im NT mehrfach überlieferte Jesuswort gegen die Ehescheidung24 wiegt schwer. Jesus kritisiert von der Schöpfung her die Toraregelung, die Ehemännern die Scheidung erlaubt, als Ausweichen vor "eurer Herzenshärtigkeit" (Mt 19,8). Mann und Frau seien von Gott her miteinander so verbunden, dass sie "ein Fleisch" sind.

Ich muss mich hier kurz fassen, und möchte zunächst die Radikalität der Forderung Jesu unterstreichen. Die zwei sog. Antithesen in Mt 5,27-32 unterstreichen nicht nur die Unauflöslichkeit der Ehe, sondern auch deren Exklusivität. Ehebruch beginnt bereits bei dem begehrlichen Blick auf die andere Frau (den anderen Mann), nicht erst bei dem Sexualakt (5,28). Die Ehe ist unauflöslich, so dass die Scheidung die Gefahr des Ehebruchs in sich birgt (5,32).

So wird ein hohes Ideal an Treue und Verbindlichkeit des Zusammenlebens deutlich. Doch vor Augen ist eine andere Ehekonzeption als die heutige, die eine gleichberechtigte, auf emotionaler Liebe25 fußende, Jahrzehnte währende Partnerschaft anzielt.

Die evangelischen Kirchen haben gut daran getan, das Wort als Ausdruck des Gotteswillens zu lesen, dass Eheversprechen verbindlich sind – gerade die aus Liebe geschlossene Ehe braucht Treue –, ohne doch die Möglichkeit eines Scheiterns an diesem hohen Ideal auszuschließen.

Die Orientierungshilfe stellt die lebenslange Dauer der Ehe nicht in Frage, auch wenn ihr das oft unterstellt wird.26 Ich verstehe ihre Ausführungen so – Exegese ist ja auch hier notwendig –, dass sie gerade dieses Ideal theologisch begründet voraussetzt; nur deshalb kann sie ja dieses Ideal von Treue und Verbindlichkeit auch für Lebenspartnerschaften vorschlagen (Nr. 51, S.66).

Unbenommen dessen macht sie deutlich, dass Ehen und Familien heute gerade wegen dieses hohen Ideals an Emotionalität und Gleichwürdigkeit unter hohem Druck stehen und fordert m.E. zu Recht, auch Paare und Familien, die nicht (mehr) in einer Vatermutter-kinderfamilie leben, kirchlich und seelsorgerlich zu begleiten und sich politisch wie diakonisch dafür einzusetzen, dass diese Lebensformen unterstützt werden (S.69f).

IV. Schriftgemäß wird eine Beziehungsethik nicht durch Formen, sondern durch die Orientierung an Liebe und Gerechtigkeit

1) Mein Anliegen war zu zeigen, dass es für die Ethik der Ehe und Familie keinen einfachen biblischen Befund gibt; bereits das NT bezeugt unterschiedliche Auffassungen. Und die Divergenzen zwischen den Institutionen und Geschlechterrollenverständnissen, die in der Bibel angesprochen werden, auf der einen Seite, und dem, was es heute ethisch verantwortet zu gestalten gibt, auf der anderen Seite sind so gravierend, dass eine unvermittelte Orientierung an in der Bibel erwähnten Formen und Institutionen nicht möglich ist. Um es bildlich zu sagen: Mit der veränderten Auffassung von Geschlechterrollen und Sexualität hat sich die ganze Tektonik, auf der die Institutionen stehen, verändert, so dass eine ethische Neubesinnung unabdingbar ist.

2) Dennoch kann sich eine evangelische Ethik durchaus biblisch begründen, ohne sich dem Vorwurf der Beliebigkeit auszusetzen. Ich möchte damit eine Perspektive der Orientierungshilfe in den Vordergrund rücken, die nur knapp erwähnt und in der öffentlichen Wahrnehmung kaum rezipiert wird. Mit Paul Tillich wird "Gerechtigkeit" als unabdingbares Momentum der Liebe benannt und damit zum wesentlichen Aspekt der Ehe wie Familie27. Ich möchte vorschlagen, die Rede von Gerechtigkeit und Liebe von der Bibel her zu schärfen, denn unter diesen Begriffen wird der Zusammenhang zwischen dem gebotenen zwischenmenschlichen Handeln und dem Wirken Gottes am Menschen sichtbar: Mit den Stichworten Gerechtigkeit und Liebe als agape ist einerseits – so das Matthäusevangelium – der hohe Anspruch an das Handeln des Menschen ausgesprochen28, andererseits – mit Paulus – Gottes rechtfertigendes Handeln als schöpferische Veränderung der sündigen Menschen.29

Liebe und Gerechtigkeit gegenüber anderen Menschen zu üben, gerade nicht nur an den Blutsverwandten, bedeutet etwa, ausgesetzte Kinder aufzunehmen (Mk 9,37), Gefangene zu besuchen, Fremde aufzunehmen (Mt 25,31-46), dem Bruder, der Schwester nicht zu zürnen (Mt 5,22), nicht zu richten (Mt 7,1), den Feind zu lieben und darin Gott nachzuahmen, der es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte (5,44f).

Diese Worte, die leicht zu vermehren wären, fordern Liebe zu den Mitmenschen als tätige Zuwendung, die nicht auf ein austariertes Geben und Nehmen setzt, nicht nur an das Eigene denkt, sondern dem anderen, der anderen zuvorkommend gerecht zu werden sucht und stets bereit ist zu vergeben. Diese Idee von Liebe und Gerechtigkeit kann m.E. als Zentrum einer biblisch fundierten Beziehungsethik fungieren, – gerade deshalb, weil sie in dem Vertrauen darauf gründet, dass wir Menschen von Gott zu solchem Tun befreit werden und zugleich da, wo wir anderen Menschen etwas schuldig bleiben, dies aufgehoben ist in Gottes rechtfertigendem Handeln.

3) Ich komme zum Schluss:

Die Orientierungshilfe votiert dafür, nicht von der Frage auszugehen, welche Lebensformen heute dem biblischen Zeugnis angemessenen Ausdruck geben, sondern welches Ethos die gegenseitigen Beziehungen prägen sollte, die in unterschiedlichen, variablen Lebensformen gelebt werden können. Sie tut recht daran.

Beziehungen in institutionalisierten Formen zu leben, ist entlastend, weil es von dem Zwang zur unablässigen Selbstdefinition befreit.30 Aber welche Lebensformen dem biblischen Beziehungsethos entsprechen, ist nicht zeit- und kulturübergreifend zu sagen.31 Mit veränderten gesellschaftlichen Strukturen und anthropologischen Auffassungen hat sich auch das christliche Verständnis von Lebensformen längst gegenüber den (nicht einhelligen) Konzepten von Ehe und Familie in der Bibel verändert. Daher ist es gut, wenn die Orientierungs¬hilfe mit einem profilierten Votum diese Diskussion provoziert und fordert, dass auch die Kirchen und die Diakonie wie der Staat das Zusammenleben in Ehen, Lebenspartnerschaften und Familien in sich wandelnden Formen würdigen und unterstützen.

Alle sechs Beiträge zum Berliner Symposion finden Sie hier.


Anmerkungen:

[1] Zur biblischen Verurteilung von Homosexualität (Lev 18,22 und 20,13 sowie in Röm 1,26f.; 1 Kor 6,9; 1 Tim 1,10) vgl. H. Tiedemann, Die Erfahrung des Fleisches. Paulus und die Last der Lust, Stuttgart 1998, 233-274. Auch hier gilt erstens, dass nicht eindeutig ist, welche Praktiken angesprochen und verworfen werden. Zweitens ist zwischen dem in den Texten vorausgesetzten Konzept gleich­ge­schlecht­licher Sexualität und Praxis einerseits und modernen Auffassungen von homosexuell veranlagten Men­schen und deren Lebenspartnerschaften andererseits zu unterscheiden. Darum lässt sich die Frage, ob Paare gleichen Geschlechts dieselbe gesellschaftlich-rechtliche Würdigung und kirchlich-segnende Begleitung erfahren sollen wie heterosexuelle Paare, nicht mit Verweis auf die einschlägigen Texte über homosexuelle Handlungen klären. Besonders zu beachten ist, dass Röm 1,26f das gleich­geschlechtliche Begehren als Auswirkung der Strafe Gottes für Götzendienst bewertet. Sich mit diesem Text gegen gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften von Christ_innen zu wenden, wäre unerhört zynisch. [zurück]

[2] Zum Begriff, der nicht einfach die Herrschaft von Männern über Frauen beschreibt, sondern eine Sozialstruktur, in der einzelne Männer über Sklavinnen und Sklaven, Kinder, Klientel etc. herrschen, vgl. C. Gerber – D. Vieweger, Art. Patriarchat, in: F. Crüsemann u.a. (Hrsg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 436-440. [zurück]

[3] Vgl. H. Tiedemann, Sexualität, in: K. Erlemann u.a. (Hrsg.), Neues Testament und antike Kultur Bd.2. Familie, Gesellschaft, Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn 2005, 21-25. [zurück]

[4] Vgl. Röm 12,10; 1 Thess 4,9; Hebr 13,1; 1 Petr 1,22; 2 Petr 1,7. Zur Geschwistermetaphorik und ihrer Valenz s. R. Aasgaard, Brothers and sisters in the faith. Christian siblingship as an ecclesiolo­gical mirror in the first two centuries, in: J Ådna (Hrsg.), The formation of the early church (WUNT 183), Tübingen 2005, 285–316. [zurück]

[5] Das Wort gamos begegnet nur in Hebr 13,4 im Sinne von „Ehe“. [zurück]

[6] Vgl. zu Details des Folgenden J.F. Gardner, Frauen im antiken Rom. Familie, Alltag, Recht, München 1995 (Original: Women in Roman Law and Society, 1986); T. Ilan, Jewish Women in Greco Roman Paestine. An Inquiry to Image and Status (TSAJ 44), Tübingen 1995. [zurück]

[7] Auch das Ehebruchsverbot des Dekalog und dessen Verschärfung in Mt 5,27f setzt eine asymme­tri­sche Eheauffassung voraus: Es richtet sich an Männer, die aufgefordert werden, die Ehe anderer nicht zu brechen. Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn ein verheirateter Mann seine Sklavin, die mit einem anderen Sklaven in fester Partnerschaft lebt, zum Geschlechtsverkehr zwingt, ist das nach diesen Konzept kein Ehebruch. [zurück]

[8] Die verbreitete Annahme, nur das Judentum würde Homosexualität ablehnen, ist zu undifferenziert: Auch in der griechischen und römischen Literatur wird ein kritischer Diskurs erkennbar. Ein freier Mann etwa (im Unterschied zum Sklaven), der seine naturgemäß „aktive“ Rolle aufgibt, ist auch nach römischer Vorstellung ein „Weichling“; vgl. Tiedemann, a.a.O., 252ff. [zurück]

[9] Vgl. so Esr 10, unbenommen dessen, dass die Hebräische Bibel von „Mischehen“ Josefs und Moses weiß. [zurück]

[10] „Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familiären Zusammen­lebens, bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und welche Orientierung sie damit geben“ (Nr.42 / S.58, mit Hervorhebungen). [zurück]

[11] Vgl. H. Schüngel-Straumann, Die Frau am Anfang. Eva und die Folgen, Münster 2. Aufl. 1997. Gerade die wirkungsgeschichtlich einflussreiche Vorstellung, die Frau sei aus der Rippe des Mannes als seine Gehilfin erschaffen, ist nicht einfach Gen 2 zu entnehmen. Der Text kann als Ätiologie der Tatsache, dass Menschen ihre Herkunftsfamilie verlassen und neue Beziehungen eingehen, gelesen werden. Die Orientierungshilfe paraphrasiert m.E. angemessen: Es geht um den Menschen in seiner Fähigkeit, eine intime Beziehung zu einem anderen Menschen einzugehen (S.62f). – Erfreulich ist angesichts der Wirkungsgeschichte, dass die „Durchsicht der Lutherbibel“ den zweiten Satz von Gen 2,18 dem Urtext folgend verändert. Wo es bislang lautet: "Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei“ wird es heißen: „Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht." [zurück]

[12] Vgl. Ilan a.a.O., 105-107. [zurück]

[13] Vgl. P. Balla, Peter, The Child-Parent Relationship in the New Testament and its Environments (WUNT 155), Tübingen 2003, 10ff.63f.86ff. [zurück]

[14] Vgl. zu der These, Jesus verweise in seiner Argumentation in Mk 12,25 darauf, dass die Funktion der (Levirats)Ehe, für Nachkommenschaft zu sorgen, mit der Auferstehung obsolet ist, E. Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis. Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christ­lichen Ursprünge, München 1988 (Orig.: In Memory of Her, 1983), 193ff. [zurück]

[15] Vgl. zur Sicht in 1 Kor 7, dem „Vorrang der Ehelosigkeit“ gegenüber der Ehe, die für Paulus vor allem die Bedeutung hat, der Sexualität einen Rahmen zu geben, D. Zeller, Der Vorrang der Ehelosigkeit in 1 Kor 7, in: ZNW 96 (2005) 61–77. [zurück]

[16] Dies gilt unbenommen der Frage, wie dieser Vers auszulegen ist (s. E. Schüssler Fiorenza, Gal 3,28 im Brennpunkt feministischer Hermeneutik, in dies., Grenzen überschreiten. Der theoretische Anspruch feministischer Theologie. Ausgewählte Aufsätze [Theologische Frauenforschung in Europa], Münster 2004, 167-184). [zurück]

[17] Vgl. L. Sutter Rehmann, "Und ihr werdet ohne Sorge sein...". Gedanken zum Phänomen der Ehe­freiheit im frühen Christentum, in: D. Sölle (Hrsg.), Für Gerechtigkeit streiten. Theologie im Alltag einer bedrohten Welt (FS L. Schottroff), Gütersloh 1994, 88-95. Die innerhalb der apokryph geltenden Paulus­akten überlieferte Erzählung von der Paulusschülerin Thekla zeigt, dass diese Lebensform gewünscht war – und so subversiv, dass Thekla um ihr Leben bangen muss. [zurück]

[18] Vgl. bes. Mk 3,31-35; die „familia Dei“ kann dabei auch verstanden werden als Kompensation für den Verlust familiärer Bindungen durch den neuen Glauben; s. C. Gerber, Familie als Bildspender. in: K. Erlemann u.a. (Hrsg.), Neues Testament und antike Kultur Bd.2. Familie, Gesellschaft, Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn 2005,48-52 (angemessen spricht die Orientierungshilfe S.60 von „Überschreitungen familiärer Exklusivität“). [zurück]

[19] Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis 192ff. [zurück]

[20] Zur Rekonstruktion der Diskussion vgl. Schüssler Fiorenza, a.a.O., 255ff. Bereits Paulus fällt sich selbst ins Wort und widerspricht zumal Gen 1,27, wenn er in 1 Kor 11,7 „der Frau“ die ummittelbare Gottesebenbildlichkeit abspricht. [zurück]

[21] Vgl. Gardner a.a.O., 81ff, zur lex Iulia und lex Papia. [zurück]

[22] In der historisch-kritischen Arbeit der letzten Jahrzehnte hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die sog. Haustafeln den ökonomischen Schriften ihrer Zeit folgen, indem sie den Hausvater in seinen Relationen zu Ehefrau, Sklave und Kindern darstellen (vgl. J. Woyke, Die neutestamentlichen Haus­tafeln. Ein kritischer und konstruktiver Forschungsüberblick [SBS 184], Stuttgart 2000). [zurück]

[23] Vgl. zu der hier vorausgesetzten Analyse von Eph 5,22-33 genauer C. Gerber, Die alte Braut und Christi Leib. Zum ekklesiologischen Entwurf des Epheserbriefs, in: NTS 59/1 (2013) S.192–221. [zurück]

[24] Mk 10,1-12par; Mt 5,27-32; 1 Kor 7,10. [zurück]

[25] Im NT ist von „Liebe“ in Bezug auf die Ehe nur im Kontext der Haustafeln die Rede. Wenn den Ehemännern geboten wird, ihre Frauen zu lieben (Kol 3,19; Eph 5,25.28), dann geht es nicht um eine erotische Liebe, wird doch das Verb agapan verwendet, das auch die Nächsten- und Feindesliebe bezeichnet. [zurück]

[26] „Das Scheidungsverbot Jesu erinnert die Paare und Eltern an ihre Verantwortlichkeit und macht Kirche und Gesellschaft deutlich, dass Verlässlichkeit für jede Gemeinschaft konstitutiv sind, weil sie die Schwächeren schützen und damit erst den Spielraum für Freiheit und Entwicklung eröffnen“ (Orientierungshilfe Nr. 46 / S.62, z.T. mit Hervorhebungen). Ich kann auch nicht sehen, dass – wie gelegentlich vorgeworfen – die Paare, die in Familien ent­sprechend „traditioneller“ Rollenauffassung leben, in der Orientierungshilfe abgewertet würden. Wenn darauf hingewiesen wird, dass die politischen Vorgaben sich verändert haben und, in sich zwar wider­sprüchlich, die Erwerbsarbeit beider Partner voraussetzen (S.50f), dann ist das eine Kritik an den politischen Vorgaben, nicht an der individuellen Entscheidung eines Paares. [zurück]

[27] Vgl. Orientierungshilfe S.68f (im Original mit Hervorhebungen): „An Gerechtigkeit orientierte Familien­konzeptionen kritisieren ein Liebesideal, das auf »unfairen« bzw. »ungleichen Chancen für die Einzelnen« (Rawls 1979 [Eine Theorie der Gerechtigkeit], 94 u. 555) beruht. Sie können sich dabei auf den Umgang Jesu mit rechtlosen Frauen und mit unmündigen Kindern berufen (siehe auch Orientierungshilfe 53). [zurück]

[28] Vgl. bes. Mt 5,17-20; 6,33 im Kontext. [zurück]

[29] Vgl. Röm 1,16f; 3,21-26. [zurück]

[30] Vgl. W. Härle, Ethik, Berlin 2011, 344-346. [zurück]

[31] Vgl. auch Orientierungshilfe Nr. 48, S.64: „Aus diesem evangelischen Verständnis erwächst eine große Freiheit im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen, die angesichts der Heraus­forderungen der eigenen Zeit immer wieder neu bedacht und oft auch erst errungen werden muss.“ [zurück]