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Pflege und die Sorge für andere wird bis in die Gegenwart hinein als eine Frauendomäne angesehen - privat wie professionell: Etwa 70% der pflegenden Angehörigen sind weiblich (eaf 2009). So konzentrieren sich nahezu alle Studien zur Pflege auf die Situation der pflegenden Frauen; „Männer in der Pflege“ sind ein nur wenig erforschtes Gebiet. Der Anteil von Männern als Hauptpflegepersonen nimmt jedoch stetig zu und liegt gegenwärtig bei ca. 27% (FES 2008). Allerdings sind ausschließlich die über 65-jährigen pflegenden Ehemänner für diese Steigerung verantwortlich. Angesichts der schon in den nächsten zehn Jahren zu erwartenden Zahl der Pflegebedürftigen - Schätzungen gehen von ca. zwei Millionen häuslich zu Pflegenden aus - werden sich in Zukunft um der Geschlechtergerechtigkeit willen auch die 30- bis 65-jährigen Männer stärker als bisher an der häuslichen Angehörigenpflege wie an beruflichen Sorge- und Erziehungsaufgaben (Care) beteiligen müssen. Dies bedeutet für die Organisation des Arbeitslebens, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zukünftig auch für die männliche Belegschaft möglich sein muss. Die wachsenden Aufgaben, die mit diesen Herausforderungen verbunden sind, können in Zukunft nur in einem guten Zusammenspiel von Familien und Dienstleistern, Arbeitgebern und Nachbarschaft geleistet werden.

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

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