6.5 Häusliche Pflege

Pflegebedürftige werden immer noch überwiegend in Familien gepflegt. Dabei übernehmen Frauen ganz überwiegend diese Aufgabe. Angesichts des knapper werdenden familiären Pflegepotenzials - nicht zuletzt aufgrund von Veränderungen in der Arbeitswelt und des gesellschaftlichen Wandels - wachsen die Herausforderungen an die Sozialsysteme, wird ein weiterer Ausbau der pflegerischen und hauswirtschaftlichen Dienstleistungen notwendig sein. Gleichzeitig ist die Verbesserung der kommunalen und nachbarschaftlichen Netze und eine Nahversorgung mit Produkten und Dienstleistungen des täglichen Lebens erforderlich, um den Verbleib in der eigenen Wohnung möglichst lange zu erhalten.

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Eine wichtige Ergänzung zur gesetzlichen Kranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung ist die soziale Pflegeversicherung, die seit 1995 als selbstständiger Zweig der Sozialversichung zur Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit gesetzlich eingeführt wurde. Zwar werden eie meisten pflegebedürftigen Menschen noch immer zu Hause fürsorglich und mit großem Zeitaufwand gepflegt. Über 60% aller Pflegebedürftigen müssen täglich rund um die Uhr, oft über einen Zeitraum von mehreren Jahren, gepflegt werden. Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen brauchen deshalb Unterstützung, insbesondere eine wohnortnahe Pflegeinfrastruktur. Dazu gehören mit mehr Zeitkontingenten ausgestattete mobile Pflegedienste, Kurzzeit- und Tagespflegeangebote, die bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sowie eine gute technische wie psychosoziale Beratung. Pflegende Angehörige brauchen auch Gelegenheiten, sich mit Menschen in ähnlicher Situation (Gesprächsgruppen, Selbsthilfegruppen) auszutauschen. Viele Pflegende sind selbst bereits im Rentenalter und werden durch die Pflege gesundheitlich belastet. Auch ihnen sollten Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen durch die Krankenkassen zustehen. Insbesondere aber benötigen pflegende Angehörige finanzielle Unterstützung: Die Pflegekassen zahlen einerseits je nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit (sog. Pflegestufen) Geldleistungen für die häusliche Pflege durch Familienangehörige bzw. auch selbst organisierte Personen oder ambulante Pflegedienste. Andererseits übernehmen sie Rentenversicherungsbeiträge für häusliche Pflegepersonen jedoch nur dann, wenn diese mindestens 14 Stunden wöchentlich Pflegeleistungen erbringen. Dass die Beitragshöhe von der Pflegestufe des pflegebedürftigen Menschen abhängt, ist jedoch nicht sachgerecht. Darüber hinaus ist die Übernahme von Rentenversicherungsbeiträgen auch auf die Pflege von Angehörigen mit demenzieller Erkrankung auszudehnen. Die Übernahme von Pflegeleistungen darf nicht zur Altersarmut des Pflegenden führen.

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Menschen in hilfsbedürftigen Situationen bedürfen eines garantierten Mindeststandards an Pflege, gesellschaftlicher Teilhabe und persönlicher Zuwendung. Die individuellen Bedarfe von Pflegebedürftigen und deren Angehörigen müssen künftig in den gesetzlichen Grundlagen, aber auch in der Praxis von Einrichtungsträgern und Pflegekassen besser und verbindlicher berücksichtigt werden, um Pflegebedürftigen so lange wie möglich soziale Teilhabe und Selbstständigkeit zu gewährleisten. Ältere Menschen mit körperlichen Einschränkungen sollten trotzdem am gesellschaftlichen, am kulturellen Leben, z.B. im Rahmen eines Familienbetriebes, oder auch am beruflichen und geschäftlichen Leben sowie an freiwilligem Engagement je nach ihren Fähigkeiten teilhaben können, da dies ihre Lebensfreude stärkt (EKD, Im Alter neu werden können).

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Neben dem Ausbau der professionellen Pflegedienste muss zum Beispiel stärker darüber nachgedacht werden, wie niedrigschwellig Haushaltshilfen und Dienste der sozialen Betreuung organisiert werden können, die - gegebenenfalls mit sozial gestaffelten Zuzahlungen - allen Menschen zur Verfügung stehen. Dies könnte Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen, berufstätige Eltern, aber auch Familien mit behinderten Kindern entlasten und vorzeitige und wesentlich teurere Einweisungen in stationäre Einrichtungen verhindern. Kirche und Diakonie als größte Anbieter von Pflegediensten haben eine besondere Verantwortung für den anstehenden Mentalitätswandel und sollten den Wert dieser sozialen Arbeit thematisieren. Bleibt es bei den bisherigen Arbeitsbedingungen, wird der Fachkräftemangel in der Pflege dramatische Ausmaße annehmen.

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Neben staatlichen Hilfen und verstärktem gesellschaftlichem Engagement werden familiäre Pflegeaufgaben auch weiterhin von großer Bedeutung sein. Denn in der Familie werden Krankheiten auskuriert, Behinderungen mitgetragen, schwer Pflegebedürftige oft über lange Jahre intensiv gepflegt. Auch der selbstverständliche Umgang mit Einschränkungen und Behinderungen, die Anerkennung der Person jenseits ihrer Leistung und Funktion, Toleranz und wechselseitige Verantwortung können in der Familie gelernt werden. Unterschätzt wird auch die Belastung von Kindern durch psychische Krankheiten oder Suchterkrankungen in den Familien, die die Biographie oft bis ins eigene Erwachsenenleben hinein prägen. Familien können Belastungen tragen helfen, sie können aber auch krank machen. Eine falsche Idealisierung ist deshalb fehl am Platze. Wo Familien überlastet werden, brauchen sie gesellschaftliche Hilfen und therapeutische Angebote. Besonders für den Fall, dass pflegende Angehörige fehlen, in großer Entfernung leben oder zur Pflege nicht bereit sind oder wo z.B. nach Verlust des Partners Vereinsamung droht, müssen soziale Netzwerke, freiwilliges Engagement und gemeinschaftliche, betreute und stationäre Wohnformen so aufgewertet werden, dass sie auch für ärmere Bevölkerungsschichten gute Wahlmöglichkeiten bieten.

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Pflege und die Sorge für andere wird bis in die Gegenwart hinein als eine Frauendomäne angesehen - privat wie professionell: Etwa 70% der pflegenden Angehörigen sind weiblich (eaf 2009). So konzentrieren sich nahezu alle Studien zur Pflege auf die Situation der pflegenden Frauen; „Männer in der Pflege“ sind ein nur wenig erforschtes Gebiet. Der Anteil von Männern als Hauptpflegepersonen nimmt jedoch stetig zu und liegt gegenwärtig bei ca. 27% (FES 2008). Allerdings sind ausschließlich die über 65-jährigen pflegenden Ehemänner für diese Steigerung verantwortlich. Angesichts der schon in den nächsten zehn Jahren zu erwartenden Zahl der Pflegebedürftigen - Schätzungen gehen von ca. zwei Millionen häuslich zu Pflegenden aus - werden sich in Zukunft um der Geschlechtergerechtigkeit willen auch die 30- bis 65-jährigen Männer stärker als bisher an der häuslichen Angehörigenpflege wie an beruflichen Sorge- und Erziehungsaufgaben (Care) beteiligen müssen. Dies bedeutet für die Organisation des Arbeitslebens, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zukünftig auch für die männliche Belegschaft möglich sein muss. Die wachsenden Aufgaben, die mit diesen Herausforderungen verbunden sind, können in Zukunft nur in einem guten Zusammenspiel von Familien und Dienstleistern, Arbeitgebern und Nachbarschaft geleistet werden.

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Berliner Symposion: Zwischen theologischer Aussage und sozialgeschichtlicher Lebenswirklichkeit

Die Orientierungshilfe ist zunächst an dem Auftrag zu bemessen, den der Rat der EKD der Kommission gegeben hatte: sie solle über eine kirchliche Perspektive zur Familienpolitik beraten (S. 8). In der öffentlichen Diskussion nach der Veröffentlichung sind vor allem Aspekte thematisiert worden, die nicht eigentlich im Focus der Orientierungshilfe standen. Sie betreffen das Verständnis von Ehe, Sexualität und Lebensformen und fragen nach der den betreffenden Aussagen zugrunde liegenden theologischen, vor allem biblischen Orientierung.

Berliner Symposion: Suggerierte Eindeutigkeit einer komplexen Auslegung

1) "The War over the Family"1 lautet der Titel eines Buches, das die Soziologen Brigitte und Peter L. Berger veröffentlicht haben. Die Überschrift des einleitenden Kapitels lautet: "Die Familie - Ideologisches Schlachtfeld". Wer sich durch die Nachrichten über die Evangelische Kirche in Deutschland seit der Veröffentlichung der Orientierungshilfe liest, kann in der Tat den Eindruck gewinnen, wir befinden uns auf einem Schlachtfeld.

Berliner Symposion: Wie wird Ehe- und Familienethik "schriftgemäß"? Eine Zustimmung zur Orientierungshilfe

Den Voten der Orientierungshilfe, das sei vorweg gestellt, kann ich gut folgen, und ich halte ihre sozialethischen Anliegen für eine angemessene Interpretation und Applikation biblischer Ethik. Nicht verschwiegen sei, dass ich eine präzisere theologische Begründung wünschenswert finde, da der biblische Befund eher narrativ dargestellt wird, mit Unschärfen und Fehlern im Detail.

Berliner Symposion: Die Einleitung von Christoph Markschies

Wenn, lieber Nikolaus Schneider, liebe leitende Geistliche, meine Damen und Herren, liebe Frau Gerber, liebe Herren Härle, Horn und Tanner, den Vorsitzenden der Kammer für Theologie bittet, ein theologisches Symposium zu einer Orientierungshilfe des Rates zu moderieren, dann liegt ja offenbar ein theologisches Problem vor. Sonst hätte an meiner Stelle ja irgendein anderer, irgendeine andere stehen können.

Berliner Symposion: Begrüßung von Nikolaus Schneider

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
herzlich willkommen zum theologischen Symposion des Rates der EKD.

Sie alle haben sich in den letzten Wochen und Monaten auf unterschiedliche Weise mit der Orientierungshilfe des Rates der EKD "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie stärken" auseinandergesetzt. Wir freuen uns über die rege Diskussion innerhalb und außerhalb unserer Kirche zu diesem Papier. Ein kritischer – auch selbstkritischer! – Diskurs über ethische Orientierungshilfen in existentiellen Fragen steht dem Protestantismus gut an.

Nikolaus Schneider: "Das hat mit Zeitgeist-Surferei nichts zu tun"

epd: Bei der Vorstellung des EKD-Familienpapiers haben Sie dazu aufgerufen, gesamtgesellschaftlich eine Debatte zu führen. Die ist nun im vollen Gang. Sind sie damit zufrieden?

Offener Brief: Zehn Fragen an den Rat der EKD

(1) – Bitte informieren Sie über das "Instrumentarium": "Orientierungshilfe" (auch im Unterschied zur "Denkschrift"), über das "procedere" (bis hin zur Verabschiedung), über den Status von EKD-ad-hoc-Kommissionen, über deren Autorität und Legitimation, über die Verbindlichkeit solcher Verlautbarung in den verschiedenen EKD-Gliedkirchen. Es fällt auf, dass von einzelnen führenden EKD-Vertretern aufgrund der heftigen Kritik die vom Rat herausgegebene und verantwortete "Orientierungshilfe" zu einem "Diskussionspapier" herabgestuft werden soll. Was ist denn nun "Sache"?

Offene Fragen

Frau Präsidentin, hohe Synode! Angesichts der Zeitknappheit – ich sehe Ihren mahnenden Blick - möchte ich nur drei, vier Punkte klar stellen. Zunächst einmal danke ich für die Aussprache. Wir sind in einer Kirche der Freiheit, und wir werden in der Orientierungshilfe sogar zur Diskussion und zur Stellungnahme eingeladen. Das haben wir heute getan, und das finde ich richtig und in Ordnung.

Das Papier, darauf will ich noch einmal hinweisen, ist keine Denkschrift, wie es immer wieder heißt. Es ist eine Orientierungshilfe und hat dadurch natürlich auch eine andere Qualität.

Eine Entlastung für Menschen, die mit Brüchen leben müssen

Besonders begrüßt wird die Darstellung der Vielfalt von familialen Lebensformen in der heutigen Gesellschaft. Die Ehe mit Kindern wird in diesem Zusammenhang nur als eine mögliche Lebensform beschrieben, ohne diese zu überhöhen bzw. andere Formen abzuwerten. Vielfältige Familienformen seien bereits in der Bibel beschrieben. Eine Erhebung der Familienform mit Trauschein über alle anderen Familienformen ließe sich aus der Bibel nicht ableiten, wäre geradezu eine Verengung.

Ja zur Vielfalt von Familie!

Zu Berichten über eine Initiative gegen die im Juni präsentierte Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ erklärt Christiane Reckmann, Vorsitzende des Zukunftsforum Familie e.V.:

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