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Das bekannt gewordene Ausmaß von sexueller Gewalt in Institutionen, häufig Jahrzehnte zurückliegend, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sexueller Missbrauch überwiegend in der Familie bzw. im familiären Umfeld erfolgt. Die polizeiliche Kriminalstatistik, die nur verfolgte Straftaten im Sinne des Strafgesetzbuches erfasst, nennt für die Straftat des sexuellen Missbrauchs an Kindern unter 14 Jahren 12.444 Fälle für 2011, das ist ein Anstieg von ca. 8% gegenüber 2009. Es wird mit einem Dunkelfeld von 1:20 gerechnet. Drei Viertel der Opfer sind weiblich. Von den Tatverdächtigen waren über 96% Männer, ein Viertel davon unter 18 Jahre alt. Dunkelfeldforschungen gehen davon aus, dass tatsächlich 5-10% der Männer und 10-15% der Frauen im Alter von 14-16 Jahren mindestens einmal sexuelle Übergriffe erlitten haben. Dabei werden Jungen häufiger von Tätern oder Täterinnen aus dem sozialen Nahraum (Nachbarn, Lehrern, Freunden der Familie, Trainern u.a.) und in Institutionen missbraucht, Mädchen dagegen überwiegend im familiären Kontext. Missbrauchte Jungen sehen sich dabei einer doppelten Mauer des Schweigens gegenüber, denn mit dem Offenlegen ihrer Verletzungen widersprechen sie dem Bild des „starken Jungen“. Die Erkenntnisse aus der Arbeit der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen (2011), die auf den telefonischen und schriftlichen Aussagen von mehr als 20.000 Betroffenen beruhen, bestätigen diese Ergebnisse. Über 60% der berichteten Fälle ereigneten sich in der Familie oder im familiären Umfeld. Unter den institutionellen Fällen sexuellen Missbrauchs waren Kirchen und kirchliche Einrichtungen insgesamt mit ca. 60% vertreten, und davon betrafen ca. 12% die evangelische Kirche. Da sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen lebenslange physische und psychische Folgeschäden haben kann, sind Prävention und frühe Intervention von großer Bedeutung. Zu oft gehen Familienmitglieder, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte oder auch Fachkräfte der Jugendhilfe oder der Gemeindearbeit nicht auf die Signale der Betroffenen ein, zum Teil aus Unkenntnis über den Umgang mit Verdachtsfällen. Erforderlich sind deshalb Hilfekonzepte in allen Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, eine regelmäßige Fortbildung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie ein bedarfsgerechtes Beratungsangebot und Hilfen für Betroffene, deren Missbrauch lange zurückliegt.

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

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