103

Durch ihre zerstörerische Kraft widerspricht Gewalt in jeglicher Form aller Lebensdienlichkeit. Gerade dort, wo es die innigsten und liebevollsten Beziehungen geben kann, liegt die Schwelle zur Gewalt besonders niedrig. Hier zeigt sich die zerstörerische Seite einer misslungenen Balance von Angewiesenheit und Autonomie. Zum ehrlichen Umgang mit eigenem Versagen gehört das Eingeständnis, dass auch die evangelische Kirche Gewalt als Erziehungsmittel bis in die jüngste Vergangenheit toleriert hat und in eigenen Einrichtungen Kinder körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Kirche und Diakonie haben sich zu dieser Schuld bekannt, Verantwortung übernommen für Hilfemaßnahmen für die Betroffenen und sich zur Umsetzung der Empfehlungen des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ verpflichtet. Die evangelische Kirche will den Opfern von Gewalt beistehen und sie davor schützen. Wie sinnlos und zerstörerisch Gewalt ist, zeigt sich wie in einem Prisma im Kreuzestod Jesu. Er ist Protest gegen alle Strukturen, in denen Menschen sich als Opfer erleben oder zum Opfer gemacht werden. Zugleich schafft die Botschaft von der Auferstehung die Gewissheit und Hoffnung, dass Gott dieser lebenszerstörerischen Kraft nicht das letzte Wort lässt. Wer in der Nachfolge lebt, wird sowohl im eigenen Leben wie auch in der Gesellschaft an der Überwindung von Gewaltzusammenhängen arbeiten. Es gilt, Wege aus der Gewalt zu suchen, die Menschen befreien und ihnen Zukunft ermöglichen, entweder durch Trennung oder, wenn die Gewaltopfer dies wollen, auch als Paar oder als Familie. Hierzu braucht es vielfältige Unterstützung, Seelsorge und Beratung.

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

Seiten