6.7 Migration und Familienkulturen

Migration gehört zu den Erfahrungen jeder Zeit und Generation, schon biblische Geschichten berichten davon. Entscheidend ist, wie Einheimische und Zugewanderte ihr Zusammenleben gestalten. Das Ankommen in einer neuen Gesellschaft ist ein Generationenprojekt, das Migrantenfamilien dazu herausfordert, eine neue Balance von Herkunfts-Kultur und neuen kulturellen Einflüssen zu finden, um heimisch zu werden. Herausgefordert ist auch die einheimische Gesellschaft mit ihren kulturellen und religiösen Traditionen, mit ihren Familienbildern und Erziehungsstilen. Bikulturelles Aufwachsen bietet die Chance, Rituale und Lebensdeutungen unterschiedlicher Kulturen und religiöser Lebenszusammenhänge verstehen zu können und sich - bei allen Spannungen, die auch damit verbunden sind - auf die Suche nach einer eigenen kulturellen Identität und gestalteten Religiosität zu begeben. Gerade das Zusammenleben mit anderen Religionen erinnert die säkularisierte Gesellschaft erneut an die religiöse Prägung der Lebenszusammenhänge - von den Alltagsritualen wie Tisch- und Abendgebeten bis zu Hochzeiten und Beerdigungen.

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Mit dem Zuzug von Arbeitsmigranten seit den 1960er Jahren sind auch andere Familienkulturen in Deutschland relevant geworden. Migrantenfamilien leben nicht generell - wie häufig angenommen - „traditioneller“ als einheimische Familien: So haben osteuropäische, aber auch afrikanische Familien in Deutschland höhere Anteile von Alleinerziehenden als die einheimische Bevölkerung. In Deutschland fällt der Blick allerdings besonders auf die türkischen Familien, deren Anteil an den Familien mit verheirateten Elternpaaren mit knapp 92% deutlich über dem der Einheimischen liegt (79%) und ebenso alle anderen Einwanderergruppen übertrifft (BMFSFJ 2010c). Insgesamt gesehen, sind deutlich weniger Frauen mit Migrationshintergrund erwerbstätig als einheimische. Auch hier ist die besonders niedrige Erwerbsquote türkischer Frauen die Ursache. In fast allen anderen Einwanderergruppen sind Frauen sogar mehr als einheimische erwerbstätig. Von einem Familienleitbild aller Migrantenfamilien kann also nicht gesprochen werden. Wesentlich ist der kulturelle Hintergrund der einzelnen Migrantenfamilien. Vor die größten Herausforderungen sehen sich Familien aus ländlichen Regionen ihrer Herkunftsländer gestellt. Wo traditionell landwirtschaftliche Subsistenzgemeinschaften weitgehend ohne wohlfahrtsstaatliche und zivilrechtliche Rahmungen dominieren, sind Familien auf starken Zusammenhalt und gemeinschaftsorientierte Regel- und Austauschsysteme angewiesen. Die familiale Wohlfahrtsproduktion beruht hier auf einer generational und geschlechtlich segregierten Arbeitsteilung. Auch bei Familien, in deren Heimatland Modernisierungsprozesse zu Veränderungen führen, gewinnt die Familienbindung an ihrem neuen Lebensmittelpunkt in einem zunächst fremden Land nochmals an Bedeutung. Das gilt umso stärker, je mehr die aufnehmende Gesellschaft als zurückweisend, ablehnend und diskriminierend erlebt wird.

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Dies erklärt, warum zum Beispiel türkische Migrantenfamilien in Deutschland einen stärker behütenden und kontrollierenden Erziehungsstil praktizieren als Familien in der Türkei (Uslucan 2008). Dem entspricht die Skepsis der Eltern gegenüber Autonomie stärkenden Erziehungsstilen und einer individualisierenden Haltung zu Kindern. Für Kinder können Konflikte zwischen dem Erziehungsstil in der Herkunftsfamilie und dem in öffentlichen Einrichtungen wie Schule oder Kindertagesstätte zu einem Problem werden. Sie sind auf Ermutigung zur Eigenständigkeit angewiesen, um durch Bildungsaufstieg jene Erwerbsmöglichkeiten zu erreichen, die moderne Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften zu bieten haben. Zugleich brauchen sie aber angesichts der Erfahrungen von Alltagsrassismen den Rückhalt der Herkunftsfamilie. In Studien zu Autonomie und Verbundenheit im kulturellen Kontext zeigen sich neue Perspektiven (Ka??tç?ba?? 2005): Neben einem Familienmodell der Abhängigkeit, das für ländlich-bäuerliche Gesellschaften typisch ist, und dem Modell der Unabhängigkeit, das vor allem in westlichen Kulturen vorherrschend ist, entwickelt sich ein Familienmodell, das eine nicht-westliche Modernität impliziert. Es besteht in der Verbindung von materieller Unabhängigkeit und emotionaler Verbundenheit und entspricht insoweit den menschlichen Bedürfnissen von Autonomie und Angewiesenheit. Obwohl sich Migrantenfamilien untereinander genauso unterscheiden wie die einheimische Bevölkerung, werden häufig auftretende Probleme mit dem anderen kulturellen oder religiösen Hintergrund erklärt. Das ist in besonderer Weise bei Zuwanderern aus muslimisch geprägten Ländern der Fall, selbst wenn sie selbst religiös eher indifferent sind. Zahlreiche Studien zeigen jedoch, dass die soziale Lage der Familien viel einflussreicher ist als der kulturelle und religiöse Hintergrund. Unterstützende Maßnahmen sollten dies im Blick behalten. Noch gänzlich ungeklärt ist die Lebenssituation von Migrant/innen ohne geregelten Aufenthaltsstatus, die nicht selten auch mit Kindern eingewandert sind oder in Deutschland Kinder geboren haben. Wie deren Schulpflicht sowie soziale und medizinische Versorgung sichergestellt ist, wie sie die Kinderrechtskonvention der UN vorsieht, lässt die bundesdeutsche Politik derzeit ungelöst. Nicht selten sind Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen wichtige Anlaufstellen. Die Fachkräfte dort sowie an Schulen dürfen jedoch wegen ihres fürsorglichen Handelns nicht rechtlichen Risiken ausgesetzt werden.

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Je selbstverständlicher Ehen zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrundwerden, desto mehr wird es auch darauf ankommen, verschiedene Kulturen und Lebensstile, aber auch verschiedene religiöse Überzeugungen nebeneinander zu respektieren. Fühlten sich viele Familien schon in konfessionsverbindenden Ehen überfordert und oft von den Kirchen allein gelassen, wenn es um die gemeinsame Taufe oder die Eucharistie ging, so ist die Unsicherheit im Blick auf Beschneidung oder Hochzeiten religionsverschiedener Paare doppelt groß. Oft werden die eigenen religiösen Bindungen und Prägungen erst in der Begegnung mit den anderen Konfessionen und Religionen wirklich bewusst. Der häufige Versuch, die religiöse Erziehung an einen der Partner zu delegieren, kann dann kaum gelingen, wenn die religiöse Muttersprache und das gesellschaftliche Umfeld nicht übereinstimmen. Eine Säkularität aber, die die Kinder von allen religiösen Wurzeln ihrer Familien abschneidet, enthält ihnen spirituelle Erfahrungen und Lebenskräfte vor, die gerade für die Beziehungen zu sich selbst und anderen Menschen Bedeutung haben. Bikulturelles Aufwachsen bietet die Chance, Rituale und Lebensdeutungen unterschiedlicher Kulturen und religiösen Lebenszusammenhänge verstehen und deuten zu können und sich auf die Suche nach einer eigenen, gestalteten Religiosität zu begeben. Gerade das Zusammenleben mit anderen Religionen erinnert die säkularisierte Gesellschaft erneut an die religiöse Prägung aller wesentlichen Lebenszusammenhänge - von den Alltagsritualen wie Tisch- und Abendgebeten bis zu Hochzeiten und Beerdigungen.

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

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