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Dies erklärt, warum zum Beispiel türkische Migrantenfamilien in Deutschland einen stärker behütenden und kontrollierenden Erziehungsstil praktizieren als Familien in der Türkei (Uslucan 2008). Dem entspricht die Skepsis der Eltern gegenüber Autonomie stärkenden Erziehungsstilen und einer individualisierenden Haltung zu Kindern. Für Kinder können Konflikte zwischen dem Erziehungsstil in der Herkunftsfamilie und dem in öffentlichen Einrichtungen wie Schule oder Kindertagesstätte zu einem Problem werden. Sie sind auf Ermutigung zur Eigenständigkeit angewiesen, um durch Bildungsaufstieg jene Erwerbsmöglichkeiten zu erreichen, die moderne Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften zu bieten haben. Zugleich brauchen sie aber angesichts der Erfahrungen von Alltagsrassismen den Rückhalt der Herkunftsfamilie. In Studien zu Autonomie und Verbundenheit im kulturellen Kontext zeigen sich neue Perspektiven (Ka??tç?ba?? 2005): Neben einem Familienmodell der Abhängigkeit, das für ländlich-bäuerliche Gesellschaften typisch ist, und dem Modell der Unabhängigkeit, das vor allem in westlichen Kulturen vorherrschend ist, entwickelt sich ein Familienmodell, das eine nicht-westliche Modernität impliziert. Es besteht in der Verbindung von materieller Unabhängigkeit und emotionaler Verbundenheit und entspricht insoweit den menschlichen Bedürfnissen von Autonomie und Angewiesenheit. Obwohl sich Migrantenfamilien untereinander genauso unterscheiden wie die einheimische Bevölkerung, werden häufig auftretende Probleme mit dem anderen kulturellen oder religiösen Hintergrund erklärt. Das ist in besonderer Weise bei Zuwanderern aus muslimisch geprägten Ländern der Fall, selbst wenn sie selbst religiös eher indifferent sind. Zahlreiche Studien zeigen jedoch, dass die soziale Lage der Familien viel einflussreicher ist als der kulturelle und religiöse Hintergrund. Unterstützende Maßnahmen sollten dies im Blick behalten. Noch gänzlich ungeklärt ist die Lebenssituation von Migrant/innen ohne geregelten Aufenthaltsstatus, die nicht selten auch mit Kindern eingewandert sind oder in Deutschland Kinder geboren haben. Wie deren Schulpflicht sowie soziale und medizinische Versorgung sichergestellt ist, wie sie die Kinderrechtskonvention der UN vorsieht, lässt die bundesdeutsche Politik derzeit ungelöst. Nicht selten sind Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen wichtige Anlaufstellen. Die Fachkräfte dort sowie an Schulen dürfen jedoch wegen ihres fürsorglichen Handelns nicht rechtlichen Risiken ausgesetzt werden.