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Die Bibel hat die Teilhabe von Witwen und Waisen, von Kindern und sozial abhängigen Frauen immer besonders im Blick gehabt. Paulus kritisiert, dass die Gemeinde Abendmahl feiere, ohne Frauen und Sklaven von Beginn an einzubeziehen. Die Apostelgeschichte erzählt, dass die Benachteiligung der Witwen aus der griechischen Diaspora bei der Essensausgabe für Arme zu Protesten und Auseinandersetzungen in der Gemeinde und schließlich zur Gründung einer frühen Form von Gemeindediakonie und zur Schaffung diakonischer Ämter führte. Auf diesem Hintergrund kritisierte Johann Hinrich Wichern im 19. Jahrhundert „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“; er setzte sich wegweisend mit Unterernährung, Wohnungsnot, Bildungsarmut und Gewalterfahrungen der Benachteiligten auseinander und gründete neue diakonische Initiativen. Auch wenn Armut und die dramatische Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft inzwischen sozialpolitisch zum Thema geworden sind, bleibt doch die Frage, welchen Beitrag speziell die Kirchen und Wohlfahrtsverbände heute zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung leisten können. Wenn die benachteiligten und in Armut lebenden Familien und insbesondere ihre Kinder das Vertrauen in die Kirche nicht verlieren sollen, werden Diakonie und Gemeinden in ihren Einrichtungen und Veranstaltungen noch deutlich mehr auf diese Menschen zugehen müssen.

Debattenbeiträge zu diesem Kapitel

Ist die Ehe ein Auslaufmodell? Soziologische und theologische Überlegungen

Dass die EKD-Orientierungshilfe zur Familie eine solch intensive Debatte ausgelöst hat, wird man nur begrüßen können. Die kulturellen Wandlungen in Ehe und Familie in den letzten 60 Jahren sind immens. Beide Institutionen verstehen sich nicht mehr von selbst und bedürfen deshalb der Reflexion. Wenn ich die Reaktionen auf die Orientierungshilfe betrachte, wird deutlich, dass man idealtypisch zwei unterschiedliche Rezipientengruppen differenzieren kann.

Die theologische Orientierung der Orientierungshilfe

Die Verantwortung dafür, dass im Titel meines Referats gleich zweimal das Substantiv „Orientierung“ vorkommt, trägt weder der Veranstalter dieses Symposiums noch ich, sondern sie ergibt sich aus den Formulierungen des Textes, über den ich sprechen soll, eben die Orientierungshilfe des Rates der EKD zum Thema „Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die im Juni 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde.

Beschluss der EKD-Synode zur Familienpolitik

Die Synode der EKD dankt der Ad-hoc-Kommission und dem Rat der EKD für die Darstellung der Herausforderungen von Familie heute in der Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“. Nach der Veröffentlichung der Schrift hat eine intensive theologische Debatte dazu stattgefunden. Dabei ist die wesentliche familienpolitische Akzentsetzung des Textes aus dem Blick geraten.

Patchwork ist doch keine Theologie!

Solchen Streit hatten die Autoren nicht erwartet. Da veröffentlicht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein umfangreiches Papier zum hochaktuellen Thema Familienpolitik, eindeutig ein gesellschaftspolitisches Thema. Doch etliche Kritiker lesen es ganz gegen seine Intention, nämlich als theologisches Grundsatzpapier über Ehe und Familie.

Lebendig als Du: Die Orientierungshilfe und die Bibelwissenschaft

Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.

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