6.8 Reichtum und Armut von Familien
Kinder zu erziehen erhöht statistisch gesehen das Armutsrisiko. Auch die sozialpolitischen Transfers können dieses Risiko nicht beseitigen, da sie die betroffenen Familien nicht zielgenau erreichen. Armut ist allerdings weit mehr als das Fehlen materieller Ressourcen. In armen Familien reduzieren sich auch die Bildungschancen der Kinder, die gesundheitliche Versorgung ist ungenügend, die sozialen Netze sind kleiner, die Angebote im Wohnquartier schlechter: Armut bedeutet geringere Teilhabe und geringere soziale Ressourcen. Insofern geht es bei der Armutsprävention nicht nur um Verteilungs-, sondern auch um Befähigungs- und Teilhabegerechtigkeit.
Armut in Deutschland ist heute eine Armut von Familien, und zwar von Familien mit Kindern. Dieses Ergebnis der Armutsforschung muss in einem verhältnismäßig wohlhabenden Land wie Deutschland alarmieren, insbesondere dann, wenn Kinder zu haben und mehr als ein Kind zu haben ein „Armutsrisiko“ darstellt. Betroffen sind insbesondere Alleinerziehende, junge und kinderreiche Familien und Familien mit Migrationshintergrund. In Deutschland lag das Armutsrisiko 2010 bei über 18% (BMFSFJ 2012). Die Armutsgefährdungsquote ist ein relativer Maßstab sozialer Ungleichheit, sie gibt den Prozentanteil der Bevölkerung an, der mit einem Einkommen unterhalb 60% des Durchschnittseinkommens auskommen muss. Nach diesen Berechnungen beträgt diese Quote bei Alleinerziehenden 46% bei den Ein-Elternfamilien mit einem Kind und 62% mit zwei Kindern. Überdurchschnittlich oft sind auch Familien mit Migrationshintergrund sowie kinderreiche Familien von Armut bedroht. (BMFSFJ 2012: 98ff.).
Als Ursachen für die Zunahme prekärer Lebenslagen werden die Veränderungen im Beschäftigungssystem, aber auch die Senkung der Sozialleistungen genannt. Dazu gehören in besonderer Weise anhaltende Arbeitslosigkeit, die Ausweitung des Dienstleistungssektors mit der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse und einer steigenden Zahl von Niedriglöhnen sowie - für die Lebensplanung und Alltagsbewältigung in Familien besonders belastend - die Erwartungen an die Verfügbarkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dieser Abbau der sog. „Normalarbeitsverhältnisse“, die Kündigungsschutz und Berufsschutz enthielten sowie eine Lebens- und Familienplanung ermöglichten, wurde begleitet von der Rücknahme sozialstaatlicher Sicherungen. Als besondere Härte ist anzusehen, dass das Elterngeld im Gegensatz zum früheren Erziehungsgeld auf die SGB-II-Leistungen angerechnet wird, gerade diesen Eltern also nicht zusätzlich zur Verfügung steht. Der internationale Vergleich zeigt außerdem, dass die Höhe der staatlichen Sozialausgaben nicht allein über das Ausmaß der Armut entscheidet, vielmehr ist ausschlaggebend, wie zielgerichtet sie Familien und Kindern zugute kommen.
Dass insbesondere Alleinerziehende mit ihren Kindern unverändert hoch von Armut betroffen sind, wird seit Jahren als soziales Problem debattiert. Und doch liegen die Ursachen nicht nur in veränderten Lebensweisen, sondern in der Tatsache, dass sich Kindererziehung und volle Erwerbstätigkeit wegen fehlender Betreuungsmöglichkeiten und Ganztagsschulen nach wie vor nicht vereinbaren lassen. Hinzu kommt, dass Frauen immer noch schlechter bezahlt werden bzw. überwiegend im Niedriglohnsektor beschäftigt sind und das geringe Einkommen nicht durch ein zweites Einkommen aufgefangen werden kann. Die Kinder Alleinerziehender sind nicht nur häufiger arm, sie bleiben es auch über längere Zeiträume. Aber auch bei Familien mit mehreren Kindern ist das Einkommensgefälle durch die Aufgabe oder die Reduzierung der Erwerbstätigkeit der Mutter zugunsten der nicht bezahlten, gesellschaftlich so bedeutsamen Erziehungsleistung die Ursache für ihre Armutsgefährdung. Der Bedarf an ergänzenden Sozialleistungen sowie die Altersarmut von Müttern sind damit vorprogrammiert. Die Einführung eines Mindestlohns wäre gerade für Ein-Eltern-Familien häufig ein Weg aus der Armut.
Die gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse haben auch eine (sozial-)räumliche Dimension. In großen Städten leben heute in fünf von sechs Haushalten keine Kinder und Jugendlichen. Der Anteil von größeren Familienhaushalten in Städten hingegen schrumpft seit den 1970er Jahren. Unter diesen Familien überwiegen „arme Familien“, Migrantenfamilien und Alleinerziehende (vgl. BMAS 2008, 123ff.). Ein großer (und in manchen Quartieren heute schon der größte) Teil der nachwachsenden Generation in den großen Städten hat einen Migrationshintergrund und wächst unter Bedingungen sozialer Benachteiligung auf. Gleichzeitig ist die Armut auf dem Land verschämter und wird vor allem als Ausgrenzung erfahren (SI 2010).
Armut bedeutet mehr, als über geringe materielle Ressourcen zu verfügen. Die Situation sozial benachteiligter Familien insgesamt ist durch eine Häufung sozialer Risikolagen gekennzeichnet: geringe Schul- und Berufsbildung, diskontinuierliche Erwerbsarbeit und hohe, generationsübergreifende Arbeitslosigkeit sowie die überdurchschnittliche Anzahl chronischer Erkrankungen. Zudem sind die Teilhabechancen armer Familien an Bildung allgemein und auch an der Berufs- und Weiterbildung erheblich eingeschränkt. In kaum einem anderen Land im OECD-Vergleich spielen die soziale Herkunft und der Status der Eltern für den Lernerfolg der Kinder eine so große Rolle wie in Deutschland, d. h., die Armutsrisiken dieser Familien werden quasi „vererbt“. Gerade Kinderarmut ist auch mehr als das Fehlen materieller Ressourcen. Es bedeutet, dass die Betroffenen nicht nur sozial benachteiligt, sondern persönlicher Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten beraubt und im Hinblick auf Bildung, Gesundheit und Wohnsituation auf Teilhabe am kulturellen Erbe unterversorgt sind. Wenn man diese qualitativen und nicht-monetären Kriterien anlegt, ist die Zahl der benachteiligten Kinder sogar noch wesentlich höher anzusetzen.
Die Daten zur höheren Armutsgefährdung von Alleinerziehenden, aber auch zu Familien mit drei und mehr Kindern zeigen, dass ein scharfer Riss durch die Gesellschaft geht - und zwar zwischen denen, die mit Kindern leben, für sie und andere sorgen, und denen, die keine Kinder haben und damit dem Arbeitsmarkt uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Die Lebenssituation unterscheidet sich nicht nur im Hinblick auf die Einkommen, sondern auch im Hinblick auf die verfügbare Zeit, den Lebensstil und das Erziehungsverhalten. Der Ein- oder Zweiverdienerhaushalt ist die entscheidende Trennlinie, die Alleinerziehende und Familien mit Kindern einem Armutsrisiko aussetzt, da - nach wie vor insbesondere in (West-)Deutschland - Kinder zu haben in der Regel für Frauen zugleich die Unvereinbarkeit von Beruf und Familienpflichten bedeutet. Das gilt prinzipiell auch für die Unvereinbarkeit von häuslicher Pflege und Berufstätigkeit.
Die Bibel hat die Teilhabe von Witwen und Waisen, von Kindern und sozial abhängigen Frauen immer besonders im Blick gehabt. Paulus kritisiert, dass die Gemeinde Abendmahl feiere, ohne Frauen und Sklaven von Beginn an einzubeziehen. Die Apostelgeschichte erzählt, dass die Benachteiligung der Witwen aus der griechischen Diaspora bei der Essensausgabe für Arme zu Protesten und Auseinandersetzungen in der Gemeinde und schließlich zur Gründung einer frühen Form von Gemeindediakonie und zur Schaffung diakonischer Ämter führte. Auf diesem Hintergrund kritisierte Johann Hinrich Wichern im 19. Jahrhundert „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“; er setzte sich wegweisend mit Unterernährung, Wohnungsnot, Bildungsarmut und Gewalterfahrungen der Benachteiligten auseinander und gründete neue diakonische Initiativen. Auch wenn Armut und die dramatische Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft inzwischen sozialpolitisch zum Thema geworden sind, bleibt doch die Frage, welchen Beitrag speziell die Kirchen und Wohlfahrtsverbände heute zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung leisten können. Wenn die benachteiligten und in Armut lebenden Familien und insbesondere ihre Kinder das Vertrauen in die Kirche nicht verlieren sollen, werden Diakonie und Gemeinden in ihren Einrichtungen und Veranstaltungen noch deutlich mehr auf diese Menschen zugehen müssen.