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Für die westdeutsche Familienpolitik war die ostdeutsche - als kollektivistisch bezeichnete - Sozial- und Familienpolitik eine Negativfolie staatlicher Einflussnahme, vor der in den 1950er Jahren die Verbreitung des bürgerlichen Familienmodells nun für alle Bevölkerungsschichten begründet wurde. Denn über Krieg und Katastrophen und selbst Diktaturen hinweg hatte sich die Familie als Hege- und Schutzraum, als letzte Grundlage der sozialen Zuflucht und Sicherheit erwiesen und eine erstaunliche Widerstandskraft bewahrt. In den 1950er Jahren ermöglichte es nun das Wirtschaftswunder breiten Schichten in Westdeutschland, das Ideal der bürgerlichen Familie zu leben. Dass Frauen nicht „arbeiten mussten“, dass Kinder „keine Schlüsselkinder“ waren, war bis Ende der 1960er Jahre der Stolz vieler Familien im Westen. Die besondere Bedeutung der Familie für die Rückkehr zur Normalität und die Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse und damit auch für die Restrukturierung traditioneller Geschlechterrollen wird in vergleichenden Studien für alle westlichen, am Krieg beteiligten Industrienationen hervorgehoben. Die kollektive Sehnsucht nach Normalität und „heiler Welt“ hat Mythen, Ideale und wirkmächtige Rollenbilder (zum Beispiel im Blick auf die Mutterrolle und Mütterlichkeit) aufleben lassen, die schon damals nicht mehr in die prosperierende Industriegesellschaft passten.