Brauchen wir eine neue evangelische Institutionenethik?
0. Rückfragen zur Aufgeregtheit der Debatte
0.1. Die Orientierungshilfe des Rates der EKD "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken" (kurz: OH) hat eine intensive Debatte ausgelöst, wie es sie seit der sog. Ostdenkschrift von 1965 wohl nicht mehr gegeben hat. Dabei haben sich vor allem kritische Stimmen zu Wort gemeldet. Nicht das eigentliche Anliegen der Schrift, eine sozialpolitische Bilanz der aktuellen Situation von Familien zu leisten und sie vor dem Hintergrund dieser gegenwärtigen Herausforderungen zu stärken, standen dabei im Mittelpunkt der Kritik, sondern das im Genre der sozialethischen Denkschriften und Orientierungshilfen immer proportional recht kurze theologische Kapitel. Wäre die Intention der OH gewesen, eine grundsätzliche evangelische Stellungnahme zu Ehe, Familie und Lebensformen zu verfassen, hätte man die Theologie und Verstehenslehre (= Hermeneutik) des jetzigen Textes zweifellos noch deutlicher ausbauen müssen. Als eine solch grundsätzliche Stellungnahme sind die theologischen Ausführungen gelesen worden. Entsprechend wurden sie als insuffizient bemängelt. Das überrascht nicht, ist aber gegenüber der Intention des Textes, auch verglichen mit der Rezeption vergleichbarer vorheriger Texte, nicht fair. Andererseits entwickeln Textrezeptionen oft eine Eigendynamik, die auch unabhängig von der ursprünglichen Intention der Autoren ernst zu nehmen ist – gerade dann, wenn starke Emotionen zu Tage treten, wie es bei der Debatte um die OH der Fall ist.
0.2. Dass umgekehrt die Kritik nicht einfach unwidersprochen stehen gelassen zu werden braucht, zählt genauso zu den Selbstverständlichkeiten solch aufwühlender Debatten. In diesem Sinne erscheint mir eine Beobachtungen beachtenswert, die ethisch zwar kein hinreichendes Gegenargument gegen die geäußerte Kritik darstellt, die aber doch zu denken geben sollte. Benannt ist sie deshalb, weil die dahinter liegenden Probleme bei der Skizzierung einer evangelischen Institutionentheorie wichtig zu beachten sind. Es fällt auf, dass entgegen der Behauptung, dass die Kritik aus sehr unterschiedlichen und heterogenen Lagern stamme, also die Mitte der Gesellschaft repräsentiere und gerade durch diese "große", teils ungewohnte Koalition (von akademischen Theologen, Kirchenleitenden und Journalisten aus den gehobenen Printmedien) eine besondere Plausibilität erhalte (vgl. u.a. Härle 2013), in ihrer Pauschalität nicht stimmt.
"Es scheint mir so zu sein, dass im Wesentlichen ältere Männer oder liberal-konservative Journalisten mit ihrer Kritik vorgeprescht sind"
Diesseits einer noch ausstehenden sozialwissenschaftlichen Analyse scheint es mir jedoch so zu sein, dass – Ausnahmen mögen die Regel bestätigen – im Wesentlichen ältere Männer (pensionierte Pfarrer, emeritierte Professoren oder ältere Kirchenleitende) oder liberal-konservative Journalisten mit ihrer Kritik vorgeprescht sind. Frauen und jüngere Männer finden sich fast überhaupt nicht. Ebenso wird die OH von den kirchlichen Werken und Verbänden, die mit dem gelebten Leben in Ehe, alternativen Lebensformen und Familien tagtäglich konfrontiert sind, eher begrüßt als kritisiert.
Auch wenn sich die Diskussion der theologischen Fragen mit diesem Hinweis keineswegs erübrigt, darf man schon die Frage aufzuwerfen, inwieweit diejenigen, die die OH kritisieren, die Probleme derjenigen, die nicht in einer traditionellen lebenslangen Ehe mit Kindern leben, tatsächlich aus eigener Erfahrung kennen. Exklusivitäts- oder Exzeptionalitätsvertreter der traditionellen Vorstellungen von Ehe und Familie müssen sich zudem fragen lassen, auf wessen Kosten es ihnen möglich ist, diese Position zu vertreten und alternative Lebensformen und damit die Menschen, die darin ernsthaft leben wollen, abzuwerten. Bedauerlicherweise vermisst man bei den Kritikern Vorschläge, wie eine konstruktive Vermittlung eines alternativen theologischen Ansatzes mit den sozialpolitischen Konsequenzen der OH, die ja durchweg begrüßt wurden, möglich sein soll. Mit diesen Rückfragen an manche Kritiker verbindet sich keineswegs die Behauptung, die bisweilen allerdings der OH unterstellt wird, dass klassische Ehe-und-Familien-Biographien keinen Wert besäßen. Aber im Sinne der Goldenen Regel (Mt 7,12) darf umgekehrt ein Ethos der selbstkritischen Ehrlichkeit erwartet werden.
0.3. Wendet man die teils harsche Kritik an der OH, sie verspiele die Sonderheit von Ehe und Familie und werte homosexuelle Lebensformen inadäquaterweise auf, konstruktiv, so sind vielfach zwei Desiderate, ein methodologisches und ein inhaltliches, identifiziert worden: Methodologisch wurde die Notwendigkeit eingeklagt, das leitende Schriftverständnis in aktuellen Äußerungen evangelischer Theologie und Kirchenäußerungen zu klären. Inhaltlich kam die Erwartung zur Sprache, es müsse eine neue evangelisch-theologische Institutionentheorie entwickelt (resp. sich ihrer vorhandenen Ansätze erinnert) werden, die aktuell hilft, das Verhältnis von äußerer Form und ethischen Kriterien bei der Beurteilung von Lebensformen präziser zu bestimmen. Die folgenden Ausführungen wenden sich primär der zweiten Fragestellung zu. Angesichts des knappen Raumes beabsichtigen sie selbstverständlich nicht, eine dezidierte eigene Institutionentheorie zu präsentieren. Vielmehr benennen sie nur einige m.E. unverzichtbare methodologische und inhaltliche Mindestbedingungen und Bausteine, die bei der Formulierung einer modernitätssensiblen evangelisch-theologischen Institutionentheorie zu bedenken sind.
0.4. Eine evangelisch-theologische Institutionentheorie muss zum einen verantwortbar mit Blick auf die normativen Quellen der evangelischen Religionskultur, vorrangig mit Blick auf die Bibel, nachrangig mit Blick auf die kirchlichen Lehrtraditionen, entwickelt werden. Zugleich wird sie ein hohes Maß an methodisch geleiteter Gegenwartssensibilität besitzen müssen. Denn die Ausstrahlungen biblischer Texte nimmt man nicht wahr, wenn einem ein nüchternes Gegenwartssensorium fehlt. Wenn also die Herausforderungen der Gegenwart solide zu identifizieren und im Lichte des von der biblischen Botschaft geprägten Glaubens zu deuten sind, muss die entscheidende Frage beantwortet werden können: Wie sind Schrifttreue und Gegenwartssensibilität miteinander auszuloten? Wie kann die Ausrichtung an Gottes in der Schrift bezeugter Selbstbekundung so erfolgen, dass sie dem in der Moderne lebende Mensch eine rational verantwortliche Perspektive gelingenderen Lebens eröffnet? Ohne Überlegungen dieser Art ist nicht einsichtig zu machen, wie zweitausend Jahre alte und ältere Texte oder Impulse eine für die Gegenwart relevante Institutionentheorie, die u.a. eine Erschließungskraft für die Deutung von Ehe und Familie besitzt, inspirieren sollen. Daher bedarf es zunächst entsprechender hermeneutischer Vorklärungen.
1. Hermeneutische Standards einer schrifttreuen und modernitätssensiblen theologischen Ethik
1.1. Evangelische Ethik wie Evangelische Theologie überhaupt sehen sich auf die Bibel als ihre Quelle und Norm verwiesen. Diesen Bezug können sie nicht beweisen, sondern nur im Vollzug plausibilisieren. Die Bibel ist – wie Barth eindrücklich in KD I entfaltet – kein "papierner Papst" (Barth 1960: 583), sondern gewinnt ihre Autorität nur, indem sie sich als wahr – wieder Barths Wortwahl – "imponiert" (Barth 1955: 110) – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Bibel ist bedeutsam, weil sie eine lebensbedeutsame Botschaft transportiert, nicht umgekehrt: Die Botschaft ist bedeutsam, weil sie in der Bibel steht. In christlicher Sicht ist es die Botschaft von dem Gott, der die Welt mit sich in Jesus Christus versöhnt hat und der in und durch ihn dem gottlosen Sünder unverdient seine Rechtfertigung und Erlösung endgültig zugesagt hat und dem ihm vertrauenden Menschen seine befreiende Nähe schenkt und der schließlich von diesem geglaubten Heil her als Schöpfer und Geber und Bewahrer des Bundes mit Abraham, Mose und Israel und als Vollender der Welt identifiziert wird. Liest man von hierher die biblischen Texte, dann sieht man, dass in zahlreichen Geschichten (in den Bundesschlüssen, im Exodus, in der Gesetzesgabe, in Erfahrungen mit dem Königtum, im Reden durch und vor Propheten, in Deutungen von Exilserfahrungen, in der Tempelfrömmigkeit, in Weisheitsreden) Gott als der Treue gegen alle menschliche Untreue vorgestellt wird. Als Zusammenfassung dieser seinerseits pluriformen Zentralbotschaft hat sich in der lutherischen Tradition die hermeneutische Kurzformel Luthers "ob sie Christum treyben" (Luther WA.DB 7: 384) eingebürgert.
"Umso weniger biblische Texte von der frohen Botschaft künden, umso weniger gewichtig sind sie für die Lebenspraxis der Gläubigen in der Jetztzeit"
Mit diesem Schlüssel darf in der Vielfalt biblischer Textwelten gewichtet werden. Ihm entsprechend sind vor allem die Texte zu beachten, die ihrem Inhalte nach das Heil in Jesus Christus, sprich: den Gott, der sich darüber so gemeinschaftstreu definiert hat, bezeugen. Es geht also primär um das Evangelium, den Glauben, die Person, und dann erst um Gesetz und Taten. Das bedeutet: Die Menschen, die diesem Gott vertrauen, sollen und dürfen dessen Gemeinschaftstreue in Dankbarkeit kollektiv und individuell entsprechen. Aus dem Zusammenspiel von Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Frieden soll sich die Zielvision einer Gottes Lebenswillen antwortenden Gemeinschaft herauskristallisieren. Diese soll idealiter alle, vorrangig Arme, Unterdrückte und Bedrängte, Marginalisierte und Verletzliche einschließen. Das Liebesgebot und die von ihm her gelesene Goldene Regel sind nicht nur Ausdruck dieses der Gemeinschaftstreue Gottes entsprechenden Ethos der Christen, sondern erhalten ihre Motivation, aber auch ihre Entlastung gegenüber moralischer Überforderung genau dadurch, dass sie primär als Antwort auf die tragende und tröstliche Verheißung Gottes für die Seinen begriffen werden dürfen. Der Hinweis, dass die Bibel als Heilige Schrift geglaubt wird und so Quelle und Norm der Theologie ist, hat somit zunächst einmal einen religiös-performativen Selbstvergewisserungscharakter.
1.2. Aus diesen Einsichten lässt sich ableiten: Die Bibel ist primär kein Moralbuch, sondern ein Buch, genauer, eine vielbändige Bibliothek der Bezeugung der geglaubten Wirklichkeit Gottes in dieser Welt und der Konsequenzen, die Menschen aus diesem Glauben ziehen. Es gilt also, bevor irgendwelche ethischen Schlussfolgerungen aus ihr gezogen werden, diese Grundbotschaft in ihrem Wie herauszuschälen. Dies ist insofern nicht einfach, als die genannte Grundbotschaft eben nur "in, mit und unter" diesen Texten UND ihren spezifischen religiösen Performanzweisen (insbesondere in der Verkündigung des Gottesdienstes; auch darauf weist Barth in KD I ausdrücklich hin) zu haben ist. Umgekehrt bedeutet dies: Umso weniger biblische Texte von der frohen Botschaft künden, umso weniger gewichtig sind sie für die Lebenspraxis der Gläubigen in der Jetztzeit. Theologisch-ethisch bedeutet dies: Umso mehr konkrete zeitbedingte Lebensführungsmuster in den biblischen Texten durchscheinen, umso souveräner darf der gegenwärtige Umgang mit solchen biblischen Texten sein und umso selbstverständlicher können außerbiblische und -theologische Wissens- und Kulturbestände für die Auseinandersetzung mit den entsprechenden Fragen herangezogen werden. Im Zusammenhang der Ethik erinnere ich an die deutlichen Worte des damaligen Ratsvorsitzenden Manfred Kock in der aufgewühlten Stammzelldebatte 2001/2002: "Darum hat die protestantische Tradition immer nur in wenigen Fragen Eindeutigkeit und Einstimmigkeit verlangt, nämlich in den Grundfragen des Glaubens, mit denen die Kirche steht und fällt." (EKD 2002: 4) Ob die Frage der Exklusivität der Ehe im Verhältnis zu anderen Lebensformen eine solche Grundfrage im Sinne eines status confessionis darstellt, ist strittig.
1.3. Um bei der Deutung von biblischen Texten und ihren religiösen Gebrauchsweisen die pro-vozierende Fremdheit der Botschaft nicht allzu leichtfertig durch die Projektion eigener Wünsche in die Botschaft hinein zu gefährden, sind neben der glaubenshermeneutischen Klammer, die Bedeutsamkeit von biblischen Texte und Traditionen nach der Erschließungsformel des "ob sie Christum treyben" zu prüfen, weitere Filter anzusetzen. Zunächst ist mit den vielfältigen Methoden der historischen Kritik der ursprüngliche Sinn der für gegenwärtige Fragen möglicherweise als relevant erachteten Texte zu eruieren. Dies schließt u.a. die Beachtung ihrer jeweiligen Stellung im Kanon von Hebräischer Bibel und/oder Altem Testament und/oder Neuem Testament ein. Texte des Alten Testamentes sind – was hier nur konstatiert werden kann (vgl. dazu ausführlicher Gräb-Schmidt/Preul 2013) – aus vielfältigen Gründen mit noch mehr hermeneutischer Sensibilität zu rezipieren als Texte des Neuen Testaments. Für Texte beider Kanonteile gilt, den Bruch von der antiken Gesellschaft in die Gegenwart wahrzunehmen. Schließlich leben wir in einer völlig anderen Gesellschaftsformation, deren Grundlagen von der damaligen teils aus guten, teils aus kontingenten, teils aus bedauerlichen Gründen deutlich abweichen. Deshalb stellen sich zahlreiche sittliche Probleme (einschließlich bestimmter Institutionengestaltungen und -begründungen) von damals heute nicht mehr. Umgekehrt sind neue hinzugekommen, für die es an unmittelbar sich anbietenden biblischen Deutungen und Weisungen mangelt.
"Ethische Standards zu achten, ist kein Eingeständnis der Schwäche theologischen Unterscheidens, sondern Ausdruck der Einsicht, dass der Geist Gottes auch außerhalb der Räume kirchlicher oder theologischer Sprachspiele wirken kann"
1.4. Zusätzlich sind weitere Unterscheidungen in den Blick zu nehmen, die quer zum Kriterium 'zeitliche und sachliche Nähe zur Grundbotschaft' stehen. Auf der Ebene des biblischen Textes und der ihn Rezipierenden spielen sich anthropologische und gesellschaftliche Hintergrundüberzeugungen ein: Die Verfasser der biblischen Texte erweisen sich ebenso wie ihre heutigen Leser als konservativ oder progressiv (politisch und/oder religiös), als pessimistisch oder optimistisch, als affirmativ oder kritisch gegenüber der bestehenden Ordnung, als darin eher schöpfungsorientiert oder eher eschatologisch ausgerichtet, mit eher starkem Gesellschafts- oder eher starkem Individuumsbezug, mit durchaus sehr unterschiedlicher Bestimmung der soteriologischen Bedeutung der eigenen Taten. All diese Differenzen finden sich in der biblischen Bibliothek und in der religiösen wie theologischen Lektüre derselben.
1.5. Schließlich sind theologisch-ethische Unterscheidungen zu bedenken. Denn eine Rückfrage nach der Bedeutung der Bibel für die theologische Ethik kann nicht so tun, als ob man nicht um die in der Theologiegeschichte, insbesondere in ihren reformatorischen Teilen, herausgearbeiteten Unterscheidungen wüsste. Denn durch hermeneutische Unterscheidungen und Figuren wie Gesetz und Evangelium, Zwei-Reiche-Lehre und Königsherrschaft Christi, aber auch durch die Kenntnis materialdogmatischer Topoi und Unterscheidungen (Schöpfungslehre, Anthropologie [simul justus et peccator], Ekklesiologie, Soteriologie, Eschatologie) werden biblische Lebens-, Welt- und Orientierungsdeutungen beobachtet. Nach evangelisch-theologischem Verständnis dienen die Lehrtraditionen, auch die kirchlichen Bekenntnistraditionen, der Deutung der biblischen Grundbotschaft und haben nicht das Recht, sie zu beschränken.
1.6. Zugleich ist anzuerkennen, dass eine bspw. zum Zwecke der Skizzierung einer Institutionentheorie erfolgende theologisch-ethische Lektüre der biblisch bezeugten Glaubensbotschaften sich an etablierten Standards der normativen Ethik abarbeiten muss resp. darf. Ich denke dabei neben den methodischen und konzeptionellen Standards der allgemeinen Ethik vor allem an Mindestbedingungen friedlichen und von wechselseitiger Anerkennung zeugenden Zusammenlebens: Menschenwürde, Menschenrechte, aber auch Nachhaltigkeit im Umgang mit der außermenschlichen Umwelt. Diese Standards zu achten, ist kein Eingeständnis der Schwäche theologischen Unterscheidens, sondern Ausdruck der Einsicht, dass der Geist Gottes auch außerhalb der Räume kirchlicher oder theologischer Sprachspiele wirken kann. Inhaltlich spricht für diese Vermutung, dass sich besagte Standards menschheitsgeschichtlich ja nicht einfach gegen die skizzierte Grundbotschaft (vgl. 1.1.), sondern in einem intrinsischen Wechselverhältnis mit ihr herauskristallisiert haben. Vor allem der Umstand, dass die Standards wechselseitiger Anerkennung in einer langen Geschichte von massiven Unrechtserfahrungen ihre immer wieder neu zu entdeckende Not-Wendigkeit erwiesen haben, spricht für diese Entsprechungsvermutung. Von einer solchen Annahme auszugehen, bedeutet nicht, biblische Aussagen kulturgeschichtlich durch neuzeitliche Grundwerte abgelöst zu sehen. Die Souveränität, sich durch diese mehrheitlich außertheologisch entwickelten normativen Standards in der eigenen Bibellektüre herausfordern zu lassen, kann, darf, ja muss eine theologische Ethik besitzen – jedenfalls dann, wenn sie die Grundbotschaft für die Gegenwart fruchtbar machen will.
"Sozialethische und -politische Debatten ergeben sich nicht im luftleeren Raum, sondern arbeiten sich an der konkreten Gegebenheit im Lande ab"
Niemand, auch nicht die AutorInnen der OH, vertritt die ihnen unterstellte These "Karlsruhe locuta, causa finita!" (Tanner 2013) Aber es ist Ausdruck der Aufmerksamkeit für Menschenwürde- und Menschenrechtsfragen, dass die Evangelische Kirche in Deutschland ernstnimmt, wenn es in einem Rechtsgebiet eine ständige Rechtsprechung aus Karlsruhe gibt. Da dies bei der Gleichstellung von hetero- und homosexuellen Lebenspartnerschaften mit dem traditionellen Ehe- und Familienmodell der Fall ist, sollte man einen solchen Befund aufmerksam würdigen, ohne sich deshalb in der Formulierung und Begründung der eigenen Position von Karlsruhe abhängig zu machen. Wer dies der OH unterstellt, hat allerdings eine eigentümliche Leseart. Denn in dem ohne Zweifel mit der unglücklichen Überschrift "Verfassungsrechtliche Vorgaben…" versehenen Rechtskapitel der OH findet sich keineswegs nur eine Bezugnahme auf Karlsruher Urteile, sondern finden sich zunächst einmal Ausführungen zum Grundgesetz und weitere sozialrechtliche Ausführungen. Und selbst die Formulierung "verfassungsrechtliche Vorgaben" ist im Rahmen des Genres sozialethischer Text der EKD verständlich. Denn sozialethische und -politische Debatten ergeben sich nicht im luftleeren Raum, sondern arbeiten sich an der konkreten Gegebenheit im Lande ab – und dazu zählt nun einmal vorrangig die Karlsruher Verfassungsrechtsprechung. Mit diesem letzten Kommentar zur Rezeption der OH ist zugleich der Übergang zur Thematisierung einer evangelischen Institutionentheorie vollzogen, die offensichtlich nicht nur die skizzierten hermeneutischen und ethischen Mindestbedingungen zu berücksichtigen hat, sondern weiterer formaler und materialer Bausteine bedarf.
2. Bausteine einer evangelischen Institutionentheorie
2.1. Wenn in der gegenwärtigen Debatte um die OH der Ruf nach einer neuen evangelischen Institutionentheorie laut erschallt, dann verbindet sich damit die Erwartung, dass angesichts des offensichtlich nicht als Orientierung, sondern als Desorientierung wahrgenommenen Textes wieder Sicherheit, Ordnung und Stabilität in Fragen der Lebensführung einkehren möge. Offensichtlich hegen manche die Hoffnung, man könne nach der Skizzierung eines evangelischen Verständnisses von Institutionen dieses allgemeine Verständnis einfach auf bestimmte Anwendungsfelder übertragen, um so die spezifischen Problemlagen, die sich dort jeweils ergeben, galant zu umgehen. M.E. hat die Debatte um die OH gezeigt, dass dies nicht geht. Selbst wenn man, wie es im Folgenden geschehen soll, einige allgemeine Kennzeichen von Institutionen identifiziert, müssen doch gleichberechtigt die besonderen Herausforderungen je bestimmter Institutionen beachtet werden (vgl. dazu Abschnitt 3). Wer allgemeine Charakteristika von Institutionen wahrnimmt, hat damit bestenfalls notwendige, keinesfalls aber hinreichende Bedingungen des Verständnisses von Kirche, Ehe, Bildungsanstalten oder Sportvereinen – um nur vier heterogene Institutionen zu erwähnen – erfasst.
2.2. Schon die Rede von Institutionen im Allgemeinen, erst recht im theologischen Redekreis, ist alles andere als klar und setzt oft mehr voraus, als hinterher eingelöst wird. Das gilt erst recht, wenn aus solchen stillschweigend als geteilt vorausgesetzten Annahmen konkrete ethische Forderungen abgeleitet werden sollen. Sehr allgemein wird man unter einer 'Institution' ein "Muster" begreifen können, "das auf Dauer gestellt wird und aufgrund seiner Zeitfestigkeit Erwartungen stabilisiert." (Nassehi 2008: 61) Institutionen, so sie ihren Zweck erfüllen, schaffen also Erwartungs- und Handlungssicherheit, stabilisieren individuelles Verhalten und damit auch gesellschaftliche Kommunikationen und deshalb die Gesellschaft als ganze. Durch die Komplexitätsreduktion, sich nicht in jeder Kommunikation komplett neu erfinden zu müssen, sondern auf bewährte Kommunikationspfade setzen zu können, ermöglichen sie zugleich Komplexitätssteigerungen. Sofern sie die Möglichkeit zur Gestaltung und Nutzung des durch sie bereitgestellten Spielraumes für individuelle Kreativität bieten, können Institutionen also durchaus einen Freiheitsgewinn gewähren. Dass über die Funktionen der Generierung von Erwartungssicherheit, der Entlastung gegenüber komplizierten Neuerfindungen und der Gesellschaftsstabilisierung hinaus auch Konformität und Normalisierungszwang Institutionen begleiten, darf nicht vergessen werden. Diese Effekte sind nicht einfach ein bisweilen auftretendes Übel von Institutionen, sondern die notwendig dazugehörende andere Seite von Komplexitätsreduktion und Freiheitsgewinn.
2.3. Wegen der Ambivalenz zwischen Entlastungsfunktionen für die persönliche Lebensgestal-tung einerseits und Konformitätsdruck andererseits geht eine einigermaßen gehaltvolle Institutionentheorie, sei sie theologisch, sei sie soziologisch, sozialpsychologisch oder juristisch ausgerichtet, keineswegs in der Funktionsbeschreibung von Institutionen auf, sondern sollte Fragen der Aneignung, der fortlaufenden Gestaltung und grundsätzlichen Kritisierbarkeit von Institutionen (vgl. Huber 1985: 122) einschließen. Wenn man – wie Eilert Herms es tut – drei Arten des terminologischen Gebrauchs von 'Institution' unterscheidet, nämlich einerseits die Benennung von Organisationsformen wie Staaten, Kirchen, Wirtschaftsunternehmen, NGOs, andererseits von anerkannten normativen Regeln gesellschaftlicher Kommunikation wie Geld, Recht, Ehe, Familie, Eigentum und drittens den Bezug auf persönliche Gewohnheiten und Maximen (vgl. Herms 2001: 749), dann ergibt sich schon aus der Unterscheidung und In-Beziehung-Setzung dieser drei Verständnis- und Gebrauchsweisen von Institutionen eine Dynamik, die vom Verdacht, Institutionen seien primär heteronom, befreit, aber zugleich auch als Gestaltungsauftrag zu lesen ist. Denn nur wenn auch persönliche Bindung (Bedeutung 3) an institutionelle settings (Bedeutung 1 + 2) erfolgt, können diese auf Dauer mit Leben gefüllt werden. Umgekehrt prägen selbstverständlich organisationelle und normative Stetigkeiten und Verhaltenserwartungen die Ausbildung persönlicher Grundüberzeugungen. Wo dieses Wechselverhältnis gestört wird, halten sich Institutionen nicht.
"Einen Artenschutz für Institutionen gibt es in Neuzeit und Moderne nicht, allem Sehnen danach zum Trotz"
Institutionen sind also nicht einfach Bedingung von Freiheit, sondern werden nur kultiviert, wenn freie Menschen sie aufnehmen und fortschreiben. Auf dieses Bedingungsverhältnis hat Wolfgang Huber, wie schon vor ihm Helmut Schelsky (vgl. Schelsky 1957: 166), gegen die von Arnold Gehlen vorgelegte biologistische Deutung von Institutionen aufmerksam gemacht (Huber 1985: 121). Nach Gehlen haben Institutionen den Instinktmangel des Mängelwesens Mensch zu kompensieren und ermöglichen als vorgegebener und entsprechend zu akzeptierender Ordnungsrahmen überhaupt erst den Gebrauch von Freiheit. Demgegenüber insistiert Huber zu Recht darauf, dass im "Prozess der Zivilisation" (N. Elias) institutionelle Regeln nicht mehr primär aufgrund formeller oder informeller Sanktionen, sondern aus Einsicht befolgt oder eben dort, wo die Einsicht verloren geht, kritisiert, ggf. reformiert, abgeschafft und damit nicht mehr befolgt werden. Einen Artenschutz für Institutionen gibt es in Neuzeit und Moderne nicht, allem Sehnen danach zum Trotz! Vermutlich war das auch früher im Prinzip schon so, aber das ideologische und machtpolitische Immunsystem gegen Infragestellung funktionierte in der vorneuzeitlichen Gesellschaft noch selbstverständlicher, so dass die Transformationsdynamiken, die sich ja auch bei genauerer Beobachtung im sog. Mittelalter finden, die Gesamtordnung der Gesellschaft nicht so herausfordern konnten, wie dies heute der Fall ist.
In jedem Fall dürfte sich die wechselseitige Befruchtung der drei Formen und Gebrauchsweisen von Institutionen nur mit Leben füllen lassen und damit in ihren gesellschaftlichen und personalen Funktionen erhalten, wenn es gelingt, den Zweck der jeweils befragten Institution einsichtig zu machen. Daraus folgt für diejenigen, die in primärer Naivität auf die skizzierten Wirkungen von Institutionen – im hiesigen Fall: der traditionellen Ehe und Familie – hoffen, die ernüchternde Einsicht: Zwar lässt sich nach wie vor eine verbreitete Hochschätzung zentraler Institutionen konstatieren, wie sie beispielsweise in dem weit verbreiteten Wunsch, eine institutionell abgesicherte und erfüllende Partnerschaft, offen für Nachwuchs, zu führen, zum Ausdruck kommt. Aber die Stabilität zahlreicher Institutionsmuster ruht durchaus auf dünnem Grund, insofern die vermeintliche Selbstverständlichkeit des Gegebenen durch das Schalwerden eines institutionellen settings, durch Überforderungen (wie sie vielfach für die Ehe konstatiert werden, die nach Auskunft nicht weniger Soziologen an ihrem eigenen Ideal, das kaum jemand zu erfüllen fähig ist, zu scheitern droht) oder auch durch Konkurrenzangebote, die deutlich machen, dass auch andere institutionelle Lebensformen attraktiv sind, schneller als gedacht entmythologisiert werden kann.
Weil alle drei Destabilisierungsfaktoren in der sog. wertepluralen und "posttraditionalen Gesellschaft" (Giddens 1996) zu Hauf zu finden sind, kann man sich der Wirkung von Institutionen bestenfalls in einer Art "sekundärer Naivität" (P. Wust) überlassen. "Sekundäre Naivität" meint dabei, dass man um die grundsätzliche Fragilität von Institutionen in der Moderne weiß, aber dennoch den Wunsch hegt, in bestimmten stabilen settings zu leben oder sich ihnen sogar ganz anzuvertrauen und auch bereit ist, diese Institutionen, soweit sie als lebensdienlich erlebt werden, aneignend und transformativ mit Leben zu füllen. Mit dieser Einstellung kann man sich auf Begründungsmuster einlassen, die ihrerseits nicht einfach naiv sind, sondern die genannten Ambivalenzen verarbeiten. Solche Begründungen sind dann eher als Modi des (Selbst-)Verstehens denn als Rechtfertigungen von Institutionen zu begreifen (vgl. Fischer 2012). Solche vom Verstehen zu begreifenden Begründungsreflexionen und -debatten um strittige Institutionen dienen meistens dem eingeschränkten Zweck, den mit ihnen und ihrer Geltung ringenden Organisationen (hier: der Evangelischen Kirche in Deutschland) den gegenwärtigen Status der angefragten Institution zu erläutern: Lohnt sich ein Festhalten an der überlieferten Institution oder muss sie verändert oder gar abgeschafft werden? Im Sinne dieser Verarbeitungsfähigkeit von Ambivalenz seien einige theologische Kandidaten von Institutionenbegründungen kritisch betrachtet.
2.4. Es scheint ausgemacht zu sein, dass man sich in einer modernitätssensiblen evangelischen Institutionentheorie nicht mehr auf Natur-, Erhaltungs- oder Schöpfungsordnungen beziehen kann. Auch die OH geht diesen Weg. Wenn mit einem Handstreich eine (jedenfalls was das Naturrecht anbetrifft) bis in die Antike zurückreichende, keineswegs nur in der katholischen Kirche rezipierte Tradition verabschiedet wird und Gleiches auch mit den Vorstellungen zur Ordnungsgestalt von Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, wie sie in evangelischen Theologien entwickelt worden sind, geschieht, dann sollte man freilich Vorsicht walten lassen. Sehr wohl können im Naturrecht oder in der Lutherischen Standeslehre identifizierte Stetigkeiten wichtige Phänomene des Lebens erkennen lassen: Selbsterhaltung, Reproduktion, Ehe und Familie, Arbeit und Ökonomie, politische Organisationen, Recht, Gottesdienst und Kirche. Dabei sind z.T. beeindruckende Deutungen dieser Stetigkeiten entstanden. Allerdings ist zu fragen, und genau darin liegt häufig das Problem solcher Natur-, Schöpfungs- oder Erhaltungsordnungstheologien, wie das jeweilige Verhältnis zur Grundbotschaft des Glaubens (vgl. 1.1.) gedeutet und begründet wird. Dass es in der Geschichte der Menschheit allerdings eine breite Vielfalt der Deutung dieser sog. Natur-, Schöpfungs-, und Erhaltungsordnungen gegeben hat, die daran zweifeln lassen, ob man wirklich von Stetigkeiten sprechen sollte, zeigt schon ein kurzer Blick in ein Überblickswerk der historischen Kulturanthropologie (vgl. Reinhard 2004: 199-254).
"Nicht von der Schöpfungstheologie solle eine theologische Institutionenbegründung ausgehen, sondern von dem binnentheologisch formulierten Kriterium, ob sie "die Treue Gottes zum Menschen als seinem freien Gegenüber bezeug[en]"
Die ethisch entscheidende Frage aber lautet: Kommt den behaupteten Stetigkeiten in der Beschreibung und Begründung dieser Institutionen eine solche Stabilität zu, dass sie der in der Grundbotschaft begründeten Transformation der Lebensführung keinen Raum und keine Strahlkraft für die Gestaltung dieser Institutionen mehr bieten, oder zeigen sie sehr wohl eine Offenheit für solche Transformationsdynamiken aus dem Geiste der Gemeinschaftstreue, die sich im Vorletzten (vgl. Bonhoeffer 1998: 137-162) in einer inklusiven Gerechtigkeit, einer Solidaritäts- und Fürsorgesensibilität für Marginalisierte und in einem auf die Befähigung eines jeden ausgerichteten Freiheitspathos ausdrückt? Barths Erschließung der Schöpfung von der Rechtfertigungslehre her in KD III, Bonhoeffers Mandatenlehre, die die Schöpfungsordnungen vom rechtfertigenden Wort her zu begreifen versucht, oder Ernst Wolfs Gestaltungstheorie von Institutionen bieten Beispiele für Argumentationstypen, die Elemente der Schöpfungsordnungslehren aufgreifen, ohne in eine vom "ob sie Christum treyben" losgelösten und so die Einheit des Willens des geglaubten Gottes aufs Spiel setzenden Eigengesetzlichkeitslehre abzudriften.
Blickt man auf den wichtigsten dieser Ansätze, Wolfs Institutionentheorie, so ist dabei ein auch kompositorisch eindrückliches System entstanden (vgl. Wolf 1975: 168-289). Insofern Wolf Institutionen definiert als "soziale Daseinsstrukturen der geschaffenen Welt als Einladung Gottes zu ordnender und gestaltender Tat in der Freiheit des Glaubensgehorsams vor Gott" (Wolf 1975: 173), hat er in der Tat einen binnentheologisch zunächst plausiblen Zugang gefunden, eine schöpfungstheologische Grundlegung von Institutionen zu öffnen für Gestaltungsmodi aus dem Geiste der vom Glauben (und damit auch der Liebe des Glaubens) erschlossenen Freiheit. Indem er Institutionen mit Hans Dombois als Einheit von göttlicher Stiftung und menschlicher Annahme begreift (vgl. Wolf 1975: 172), findet Wolf einen Mittelweg zwischen konservativer Ordnungstheologie und einer die Stetigkeiten des Lebens nicht hinreichend würdigender Situationsethik (vgl. Wolf 1975: 173). Dies geschieht in einer Formatierung, die Institutionengestaltungen an die oben skizzierte, bei ihm vor allem von der Rechtfertigungslehre her gelesene einladende Treue Gottes bindet. Wenn Wolf dann jedoch in geradezu kompositorischem Zwang, gemäß der von ihm in Aufnahme traditioneller lutherischer Elemente identifizierten Dreigestaltigkeit menschlichen Lebens, nämlich im Gegenüber zu Gott, zu anderen Menschen und zur Welt die Institutionalität von Bund, Mitmenschlichkeit und Herrschaftsauftrag identifiziert, der die exemplarischen Institutionen Kirche und Staat, Ehe und Familie und Eigentum und Arbeit entsprechen sollen, die wiederum jeweils durch die Rahmung gebietender, verbietender und gewährender Rechte gestaltet werden, dann blockiert doch das System die Wirklichkeitsbeschreibung zu stark.
Ähnliches gilt im Übrigen auch für die ansonsten ohne Zweifel beeindruckenden gesellschafts- und institutionentheoretischen Überlegungen von Eilert Herms. Sofern sie zeigen, was man ohne sie gar nicht sähe, besitzen theoretische Rahmungen zwar durchaus ihr Recht. Aber der Systemzwang ist wohl zu groß, denn – wie Wolfgang Huber mit Blick auf Wolf zu Recht kritisiert – "[d]er gesamte institutionelle Bereich der Kultur bleibt außerhalb der Betrachtung: Bildung und Wissenschaft, Kommunikation und Kunst, Freundschaft und Geselligkeit haben keinen Ort. Die kennzeichnenden Institutionen der technischen Welt werden ebenso wenig einbezogen wie die transnationalen Formen politischer Ordnung." (Huber 1985: 125) Huber selbst schlägt daher einen anderen Weg vor: Nicht von der Schöpfungstheologie, die doch dazu neigt, bestimmte Formen der Institutionalität über Gebühr zu würdigen und andere Formen erst gar nicht in den Blick zu nehmen, solle eine theologische Institutionenbegründung ausgehen, sondern von dem binnentheologisch formulierten Kriterium, ob sie "die Treue Gottes zum Menschen als seinem freien Gegenüber bezeug[en]", und von der nicht nur binnentheologisch, sondern auch außer-theologisch nachvollziehbaren Prüfregel, ob sie "Menschen … die wechselseitige Verlässlichkeit ermöglichen und zugleich der Freiheit Raum geben." (Huber 1985: 126) Dieses eher von der Soteriologie her gewonnene Institutionenverständnis ist also deutlich sparsamer in der Identifizierung von vornherein theologisch legitimierten Institutionen. Es geht zwar durchaus vom Gegebensein von Institutionen aus, befragt sie aber je und je nach ihrer Freiheits- und Kommunikationsdienlichkeit aus dem Geiste der geschenkten Treue Gottes, die als Liebe weiterzugeben ist.
2.5. Fazit: Hubers Grundgedanke, dass eine evangelische Institutionentheorie nicht primär nach der Verankerung bestimmter Institutionen im schöpfungs- oder erhaltungsgemäßen Willen Gottes fragen sollte, sondern aus der in Jesus Christus definitiv für die Völker offenbar gewordenen und sie einladenden Treue Gottes zu entwickeln ist, ist aufzugreifen und gerade für das Verständnis der funktional ausdifferenzierten, wertepluralen und posttraditionalen Gesellschaft weiterzuentwickeln. Dabei ist zunächst gegenüber allen Verfallstheoretikern nüchtern festzuhalten, dass es institutionelle settings und die wechselseitige Befruchtung von Organisationen, Normen und Werten und persönlichen Grundüberzeugungen immer gegeben hat und gibt. So wenig, wie die pauschale These vom Werteverfall sich aufrechterhalten lässt, so wenig gibt es einfach einen Prozess der Deinstitutionalisierung in Neuzeit und Moderne. Stattdessen lässt sich ein Transformationsprozess von mit Sanktionen drohen könnenden Institutionen hin zu solchen, die ihre Bindungswirkung aus ihrem im Prinzip plausibilisierbaren, jedoch nur im Krisenfall erfragten Zweck erlangen, beobachten. Damit werden Institutionen insgesamt zwar fragiler, weniger stabil, sind wahrscheinlich dem Risiko geringerer Dauer ausgesetzt, aber für die Zeit ihrer Plausibilität meistens von stärkerer motivationaler Kraft als solche, die nur durch äußeren Druck funktionieren.
"So wenig, wie die pauschale These vom Werteverfall sich aufrechterhalten lässt, so wenig gibt es einfach einen Prozess der Deinstitutionalisierung in Neuzeit und Moderne"
Institutionalität und Institutionen sind daher in der Moderne keineswegs obsolet, aber ohne Kriteriologie, die wiederum selbst immer wieder auf ihre Plausibilität befragt werden muss, nicht zu haben. Wer Gegenteiliges behauptet, stellt sich nicht hinreichend den Herausforderungen der Moderne oder manipuliert wissentlich. Natürlich wird damit auch die Institutionen hinterfragende Reflexion – um an den berühmten Aufsatz von H. Schelsky zu erinnern (vgl. Schelsky 1957) – ihrerseits auf Dauer gestellt. Es entsteht die paradoxe Situation, dass Institutionen eben nicht mehr einfach vorausgesetzt, sondern im Prinzip und für den Zweifelsfall nur durch dauernde Reflexion auf ihre Lebenstauglichkeit geprüft werden können. Aber dieser von Verfallstheoretikern zwar beargwöhnte, zumindest in der Moderne jedoch unumkehrbare komplexe Prozess hat den ansonsten von den meisten geschätzten Vorteil, dass sich auf längere Zeit nur solche Institutionen halten, die überhaupt das Potential zur Lebensdienlichkeit besitzen.
Wolfgang Hubers Prüfkriterium, ob Institutionen der Ermöglichung und Entfaltung kommunikativer Freiheit dienen, entspricht sowohl dem unüberbietbar in Luthers Freiheitstraktat auf den Punkt gebrachten christlichen Verständnis von Freiheit aus der Dialektik von Glaube und Liebe und verweist so auf die evangelisch-theologische Schriftauslegungstradition. Nicht als Gegensatz, sondern als Bekräftigung von Hubers Grundgedanken ist daran zu erinnern, dass das aus der geglaubten Gemeinschaftstreue Gottes gewonnene Verständnis von Freiheit die Inklusion aller unter vorrangiger Berücksichtigung der Schwachen einschließt. Gerade die alttestamentliche Tradition hilft, im Glauben an den dort an vielen Stellen eindringlich bezeugten gemeinschaftstreuen Gott eine Sensibilität für Ungerechtigkeiten und Exklusionsgefährdungen auch in der Gegenwart zu identifizieren. Wer von der soteriologisch gedeuteten Freiheit her institutionelle Verhältnisse prüft, kann – nicht im Sinne eines dictum probantium, sondern weil sich an dieser Stelle in provozierender Klarheit der Umgang mit Institutionen zumindest in der christlichen Gemeinde zeigt – nicht an der Aussage von Gal 3,28 vorbeigehen: "Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus." Weder ethnische Herkunft noch sozialer Status noch Geschlechterrollen dürfen den Umgang von Christen untereinander im Letzten prägen.
Nun zeigt der Inhalt des Philemonbriefes, dass sich Paulus selbst wohl nicht konsequent an seine ekklesiologisch-sozialanthropologische Figur als Kriterium für die Gestaltung von Institutionen gehalten hat. Der Impuls von Gal 3,28 entspricht aber sowohl einem Gleichberechtigt-Sein in Christus als auch dem an anderen Stellen (nicht nur bei Paulus, sondern in weiten Teilen der neutestamentlichen Traditionsstränge) stark gemachten Liebesethos. Jedenfalls führt ein Weg vom diesem dekonstruierenden Verständnis von Status und Institutionen, das bei Paulus ohne Zweifel nur auf die Mitglieder der Gemeinde bezogen wird, zur These von der gleichen Würde aller Menschen. Wenn Christine Gerber darauf hinweist, dass die Haustafeln der Deuteropaulinen wieder Statusunterschiede einziehen und entsprechend den Zeitgeist der antiken Stadtkultur atmen, triff sie den entscheidenden Punkt (vgl. Gerber 2013): Selbst in einer moderaten Interpretation wird man aus Gal 3,28 ableiten müssen, dass Institutionen ihre Legitimation verlieren, wenn sie Menschen auf einen bestimmten Status festlegen und nicht – nochmals mit Huber gesprochen – primär "wechselseitige Verlässlichkeit ermöglichen und zugleich der Freiheit Raum geben." Mit Gal 3,28 muss man also keineswegs alle Unterschiede aufheben, aber doch zumindest anerkennen, dass damit eine Dynamik in Gang gesetzt ist, faktisch immer schon gegebene Institutionen zu kritisieren und neu zu gestalten, wo sie diesen Kriterien von Verlässlichkeit und kommunikativer Freiheitsermöglichung widersprechen.
3. Konsequenzen für das Verständnis der Institutionen 'Ehe' und 'Familie' sowie für das alternativer Lebensformen
Aus den vorangegangenen Überlegungen seien einige wenige Schlussfolgerungen für die aktuelle Debatte um die OH gezogen.
3.1. Es gibt Ehe, Familie und alternative Lebensformen, es hat sie immer gegeben, es wird sie immer geben. Wer befürchtet, dass eine Gleichstellung alternativer Lebensformen mit Ehe und Familie deren Attraktivität mindern würde, nimmt die sozialwissenschaftliche Datenlage nicht ernst, hat unbegründete Verlustängste, ist von Phobien gegenüber alternativen Lebensformen geprägt oder verfolgt andere Ziele. Die größte Überzeugungsarbeit für die Attraktivität der Ehe, darauf hat Klaus Tanner am Ende seines Berliner Vortrages zu Recht hingewiesen, wird nicht durch theoretische Begründungsfiguren geleistet (vgl. 2.3.), sondern durch die gelebte Praxis (vgl. Tanner 2013).
3.2. Zwar hat es die Institution der Ehe (sei sie nun explizit so genannt oder nicht) immer schon gegeben, sie ist aber in einer solchen Vielfalt gelebt worden, dass man sich durchaus fragen kann, ob mit Blick auf die theologisch-ethische Kriteriologie wirklich von einer Kontinuität von biblischer Zeit hin zur Gegenwart gesprochen werden kann. Christine Gerber (vgl. Gerber 2013) und Jürgen Ebach (vgl. Ebach 2012) mahnen jedenfalls zur Vorsicht. Nun hält sich seit Menschengedenken das Merkmal der natürlichen Reproduktion in auf Dauer gestellten Beziehungen durch, aber selbstverständlich wurden Kinder auch außerhalb von Ehen geboren und blieben Ehen kinderlos. Wichtiger ist es, daran zu erinnern, dass es gerade hinsichtlich der Gegenseitigkeit, der Symmetrie zwischen den Partnern, dem Verständnis von Treue, Verlässlichkeit, Verbindlichkeit zu einer Intensivierung der Ehepraxis gekommen ist, die man so – trotz einzelner beachtlicher Geschichten – nicht in die Schilderungen der Ehe der Patriarchen, aber auch in die Sozialstruktur der frühchristlichen Gemeinden zurückprojizieren kann (vgl. nochmals Ebach 2012; Gerber 2013).
"Statt Freude darüber zu empfinden, dass das Leitbild ausstrahlt, brechen offensichtlich vielfach kleingläubige, mutlose Verlustängste auf, eines privilegierten Status beraubt zu werden"
Sehr wohl ist es aber möglich, die immer gegebenen gegengeschlechtlichen Lebensformen darauf hin zu befragen, ob sie dem oben skizzierten Kriterienset für Institutionen (vgl. 2.5) entsprechen oder nicht. In diesem Sinne ist nicht so sehr von vermeintlichen Schöpfungsordnungen, sondern von der Ermöglichung von wechselseitiger Verlässlichkeit und von in Liebe grundierter Freiheit her zu fragen, was Ehe und Familie prägen soll. Wilfried Härle hat dazu überzeugend sechs Dimensionen festgehalten (vgl. Härle 2013), die sich nach meiner Wahrnehmung alle auch, einschließlich der entscheidenden theologischen Begründung aus dem in der Treue Gottes in Jesus Christus sich erschließenden Gotteswillen, in der OH finden:
1. Geschlechtlichkeit als gute, aber herausfordernde Gabe Gottes,
2. Exklusivität der Beziehung,
3. rechtliche Schutzbedürftigkeit und -würdigkeit der auf Dauer gestellten Beziehung,
4. Verurteilung von Ehebruch und Ehescheidung,
5. Gleichwürdigkeit und Gleichwertigkeit der Ehepartner,
6. die grundsätzliche Bedeutung von Kindern für das Eheleben.
3.3. Wo und weil Ehe in diesem Sinne Freude, Treue, Verlässlichkeit, Respekt auf Augenhöhe, Offenheit für Generativität ermöglicht, wo in Familien eine generationenübergreifende Bereitschaft herrscht, Verantwortung füreinander zu übernehmen, überzeugen diese Bilder als Visionen, sind also attraktive Leitbilder. So dienen sie Menschen in alternativen Lebensformen als Orientierung. Das gilt aber nicht für die Ehe an sich oder die aus einer Ehe erwachsende Familie an sich, sondern für die von diesen Kriterien her gedeutete Institution Ehe. Daraus sind abschließend zwei Konsequenzen zu ziehen:
3.3.1. Gerade wer die Institutionalität von Ehe und Familie stärken will, wird dies nicht primär durch das Pochen auf theologische Ordnungstheologien tun, sondern indem er (oder sie) sich dafür einsetzt, Ehe und Familie als Raum von Verlässlichkeit und Freiheitsermöglichung zu stärken. Gerade die sozialpolitischen Teile der OH geben hier wertvolle Anregungen und zeigen darin ihre eher versteckte, aber sehr wohl vorhandene und in den kritischen Kommentaren nicht hinreichend gewürdigte theologische Dignität. Umgekehrt formuliert: diesen theologisch-ethisch relevanten Zusammenhang nicht gesehen zu haben, ist ein entscheidendes Defizit zahlreicher kritischer Beiträge.
3.3.2. Als erstaunlich und betrüblich ist es zu bezeichnen, wenn zahlreiche Kritiker der OH die Ehe als Leitbild hochhalten, wofür sie nach den zurückliegenden Ausführungen ja auch guten Grund haben, aber sich zugleich vehement dagegen wehren, dass Menschen, die nicht heterosexuell sind, in einer so verstandenen Institution leben wollen. Statt Freude darüber zu empfinden, dass das Leitbild ausstrahlt, brechen offensichtlich vielfach kleingläubige, mutlose Verlustängste auf, eines privilegierten Status beraubt zu werden. Sicher, die natürliche Möglichkeit, Kinder zu bekommen, gehört zu den Besonderheiten einer heterosexuellen Beziehung. Aber gibt es nicht auch Adoptionsfamilien, in denen Generativität auf eine nicht-biologische Weise gelebt wird und die wir doch wie selbstverständlich als Ehe und Familie bezeichnen? Gibt es nicht ebenso bemerkenswerte Regenbogenfamilien, wie es schreckliche Gewalt in heterosexuellen Ehen und ihren Familien gibt? Um nicht missverstanden zu werden: Das Umgekehrte kann natürlich auch zutreffen! Weil doch alles so viel komplizierter ist, verliert man leicht die Orientierung. Man gewinnt sie aber nicht im Sinne eines Pfeifens im Walde zurück, wenn man alleine auf überkommene Ehe- und Familienbilder setzt, ohne eine theologisch-ethische Würdigkeit alternativer Lebensformen vorzunehmen.
3.4. Aus den skizzierten Bedingungen und Bausteinen eines evangelischen Institutionenverständnisses von Ehe und Familie lassen sich Konsequenzen für das Verständnis und den Umgang mit Menschen mit homosexueller Orientierung gewinnen:
3.4.1. Zunächst verbietet sich ein kontextloses Zitieren einzelner alt- und neutestamentlicher Spitzensätze gegen homosexuelle Menschen und ihre Lebensführung. Dabei muss überhaupt nicht geleugnet werden, dass eine historisch-kritische Rekonstruktion der Aussageintention besagter Stellen zu dem Ergebnis kommt, dass im Alten Israel, aber auch bei Paulus homosexuelle Praktiken scharf verworfen wurden. Die berechtigte Kontextualisierung dieser Ablehnung, für das Alte Israel: der Wahrung der familialen und gesellschaftlichen Ordnung, bei Paulus: die Beurteilung der Homosexualität als einer (wenn auch nicht einer ausschließlichen) Praktik gottwidriger Haltung, ändert nichts an der Einschätzung: Homosexualität wird auf breiter Front in der Bibel abgelehnt.
3.4.2. Aber nicht nur das kontextlose Zitieren von einzelnen biblischen Aussagen erscheint aus den bisherigen Überlegungen problematisch, auch der Versuch, die heute sich aufdrängenden Fragestellungen mit dem unmittelbaren Verweis auf das Sexualethos biblischer Zeiten perspektivieren zu wollen, greift zu kurz. Mit den zuvor genannten Filtern (vgl. 1.3.-1.5.) sei an die erheblichen Unterschiede in der allgemein-gesellschaftlichen Formatierung und den damit zusammenhängenden Lebensführungspraktiken zwischen der biblischen und unserer Zeit erinnert. Wollte man ein solches biblisches Ethos als Ganzes kohärent nutzen, wären zu viele Weisungen – verwiesen sei nur auf den breiten Strom patriarchalen Denkens und Lebens – in Kauf zu nehmen, die wir aus guten Gründen, nicht zuletzt aufgrund des als limitierend eingeführten Menschenwürde- und Menschenrechtsethos, nicht bereit sind zu akzeptieren.
"Man muss darauf verzichten, [...] als "Bundeswerteagentur" (W. Huber) für bestimmte, schon schal gewordene Deutungen der Institutionen Ehe und Familie herzuhalten"
3.4.3. Vielmehr sollte die skizzierte Grundbotschaft der Schrift (vgl. 1.1.) für die ethische Beurteilung von Homosexualität und genutzt werden. Mit Gal 3,28 spricht zunächst nichts gegen die gleiche geistliche Würdigkeit aller Gemeindeglieder, egal welche sexuelle Orientierung sie prägt. Im Gegenteil: der Zweifel an ihr trägt die Beweislast. Wie andere in der Gemeinde müssen sich Schwule und Lesben allerdings befragen lassen, ob ihre Lebensweise dem ihnen zugesprochenen neuen Sein in Christus entspricht. Leben sie (in all den Grenzen menschlichen Vermögens und entsprechend konfrontiert mit Scheitern) ihre Partnerschaft – wie es die OH für Ehepartner oder das Pfarrdienstgesetz der EKD für die Lebensführung von Pfarrerinnen und Pfarrern mit ihren Partnern fordern – in Verlässlichkeit, gegenseitiger Verantwortung und wollen sie zum Aufbau der Gemeinde beitragen, ist nicht einzusehen, warum ihnen die gleiche geistliche Anerkennung wie anderen Gemeindegliedern und Pfarrerinnen und Pfarrern – mit allen auch institutionell verbindlichen Rechten und Pflichten –nicht zu teil werden soll.
3.5. Brauchen wir eine neue Institutionenethik, um den Anfragen an das evangelische Verständnis von Ehe, Familie und alternativen Lebensformen zu begegnen? Ja und Nein. Nein, denn im Geiste der Gemeinschaftstreue faktisch gegebene Institutionen auszulegen und zu gestalten, stellt nun wirklich keine grundstürzende Neuigkeit dar. Ja, denn an diese Verbindlichkeit und Freiheit fördernde Chance zu erinnern und sie zu vorzuleben, gerade in posttraditionalen Zeiten, ist allerdings immer wieder neu nötig: Begreift man das Liebesgebot als Erfindungsregel für Institutionengestaltung und sieht in der immer wieder ins Feld geführten Kriterienliste von Verantwortung, Verbindlichkeit und Verlässlichkeit, von Treue und Dauer Ausdrucksformen dieser Erfindungsregel für die Beurteilung von Institutionen, dann muss man nun wirklich keine Angst haben, dass eine Orientierung daran billiger Zeitgeist sei und die Institutionen Ehe und Familie ihrer attrahierenden Ausstrahlung desavouiert würden. Unterstellungen dieser Art kann man deshalb selbstbewusst zurückweisen.
Allerdings muss man dann darauf verzichten, die vor allem von liberal-konservativen Journalisten eingeklagte Erwartung zu bedienen, als "Bundeswerteagentur" (W. Huber) für bestimmte, schon schal gewordene Deutungen der Institutionen Ehe und Familie herzuhalten. Wie man sich stattdessen mutig an den Menschen, ihren Hoffnungen, aber auch an ihren realen Ängsten ausrichten kann, hat die OH vorgemacht. Sie mag an manchen Punkten theologisch nicht ausführlich genug gewesen sein. Dieses Defizit kann und darf durch die gegenwärtige Debatte ausgeglichen werden. Die mit der OH eingeschlagene Richtung ist richtig, weil sie die Menschen in ihrem Dasein ernstnimmt und die Institutionengestaltung an ihnen ausrichtet – und um die Menschen muss es am Ende gehen (vgl. Mk 2,27).
Literatur
Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik, Bd. I/1, 7. Aufl., Zollikon/Zürich 1955.
–: Kirchliche Dogmatik, Bd. I/2, 5. Aufl., Zollikon/Zürich 1960.
Bonhoeffer, Dietrich: Ethik (Dietrich Bonhoeffer Werke 6), hg. v. Ilse Tödt u.a., 2. überarb. Aufl. Gütersloh 1998.
Ebach, Jürgen: Wir müssen doch noch einmal bei Adam und Eva anfangen, in: Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Familienfragen (Hg.): Familienbilder in Kirche und Gesellschaft, Berlin 2012, 19-30.
Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen. Argu-mentationshilfe für aktuelle medizin- und bioethische Fragen. Ein Beitrag der Kammer für Öf-fentliche Verantwortung der EKD (EKD Texte 71), Hannover 2002.
Fischer, Johannes: Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht, Stuttgart 2012.
Gerber, Christine: Wie wird Ehe- und Familienethik "schriftgemäß"? Eine Zustimmung zur Orientierungshilfe, unter: http://www.ekd.de/download/20130928_gerber_symposium.pdf (01.10.2013).
Giddens, Anthony: Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft, in: Ulrich Beck/Anthony Gid-dens/Scott Lash (Hg.): Reflexive Modernisierung, Frankfurt/M. 1996, 113-194.
Gräb-Schmidt, Elisabeth/Preul, Reiner (Hg.): Das Alte Testament in der Theologie (Marburger Jahrbuch Theologie 25), Leipzig 2013.
Härle, Wilfried: Die Orientierungshilfe (OH) der EKD "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit". Eine kritische Stellungnahme in konstruktiver Absicht, unter: http://www.ekd.de/download/20130928_haerle_symposium.pdf (01.10.2013).
Herms, Eilert: "Institution", in: Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart/Berlin/Köln 2001, 748-752.
Huber, Wolfgang: Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung. 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1985.
Luther, Martin: Drucktext der Lutherbibel 1522-1546: Das Neue Testament. Zweite Hälfte: Episteln und Offenbarung, in: Weimarer Ausgabe. Deutsche Bibel, Bd. 7.
Nassehi, Armin: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen, Wiesbaden 2008.
Reinhard, Wolfgang: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004.
Schelsky, Helmut: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 1 (1957), 153-174.
Tanner, Klaus: Stellungnahme zur Orientierungshilfe: Zwischen Autonomie und Angewiesenheit, unter: http://www.ekd.de/download/20130928_tanner_symposium.pdf (01.10.2013).
Wolf, Ernst: Sozialethik. Theologische Grundfragen, Göttingen 1975.
Kommentare
Willkommen auf Asteroid 325!
Warum so kompliziert? Geht es nicht um etwas ganz anderes? Wenn jüngere Menschen sich zur OH nicht äußern, dann ist das vor allem ein Indiz dafür, dass es ihnen egal ist, was "die Kirche" als Institution so sagt. Und vielleicht haben sie sogar recht damit ... verhält sich doch die Kirche mit der OH kaum anders als der König auf dem Asteroiden 325 in Saint-Exuperys Buch "Der Kleine Prinz" Dort heißt es:
Der König hielt in hohem Maße darauf, dass man seine Autorität respektiere. Er duldete keinen Ungehorsam. Er war ein absoluter Monarch. Aber da er sehr gütig war, gab er vernünftige Befehle.
"Wenn ich geböte", pflegte er zu sagen, "wenn ich einem General geböte, sich in einen Seevogel zu verwandeln, und wenn dieser General nicht gehorchte, es wäre nicht die Schuld des Generals. Es wäre meine Schuld."
"Darf ich mich setzen?" fragte schüchtern der kleine Prinz.
"Ich befehle dir, dich zu setzen", antwortete der König und zog einen Zipfel seines Hermelinmantels majestätisch an sich heran.
Aber der kleine Prinz staunte. Der Planet war winzig klein. Worüber konnte der König wohl herrschen?
"Herr", sagte er zu ihm "ich bitte, verzeiht mir, dass ich Euch frage..."
"Ich befehle dir, mich zu fragen.", beeilte sich der König zu sagen.
"Herr... worüber herrscht Ihr?"
"Über alles.", antwortete der König mit großer Einfachheit.
"Über alles?"
Der König wies mit einer bedeutsamen Gebärde auf seinen Planeten, auf die anderen Planeten und auf die Sterne.
"Über all das?" fragte der kleine Prinz.
"Über all das.", antwortete der König.
Denn er war nicht nur ein absoluter Monarch, sondern ein universeller.
"Und die Sterne gehorchen Euch?"
"Gewiss." sagte der König. "Sie gehorchen aufs Wort. Ich dulde keinen Ungehorsam."
Solche Macht verwunderte den kleinen Prinzen sehr. ... Und da er sich in der Erinnerung an seinen kleinen verlassenen Planeten ein bisschen traurig fühlte, fasste er sich ein Herz und bat den König um eine Gnade:
"Ich möchte einen Sonnenuntergang sehen... Machen Sie mir die Freude... Befehlen Sie der Sonne unterzugehen..."
"Wenn ich einem General geböte, nach der Art der Schmetterlinge von einer Blume zu andern zu fliegen oder eine Tragödie zu schreiben oder sich in einen Seevogel zu verwandeln, und wenn dieser General den erhaltenen Befehl nicht ausführte, wer wäre im Unrecht, er oder ich?"
"Sie wären es.", sagte der kleine Prinz überzeugt.
"Richtig. Man muss von jedem fordern, was er leisten kann." antwortete der König.
"Die Autorität beruht vor allem auf der Vernunft. Wenn du deinem Volke befiehlst, zu marschieren und sich ins Meer zu stürzen, wird es revoltieren. Ich habe das Recht, Gehorsam zu fordern, weil meine Befehl vernünftig sind."
"Was ist also mit meinem Sonnenuntergang?" erinnerte der kleine Prinz, der niemals eine Frage vergaß, wenn er sie einmal gestellt hatte.
"Deinen Sonnenuntergang wirst du haben. Ich werde ihn befehlen. Aber in meiner Herrscherweisheit werde ich warten, bis die Bedingungen dafür günstig sind."
"Wann wird das sein?" erkundigte sich der kleine Prinz.
"Hm, hm!" antwortete der König, der zunächst einen großen Kalender studierte, "Hm, hm! Das wird sein gegen... gegen... das wird heute Abend gegen sieben Uhr vierzig sein! Und du wirst sehen, wie man mir gehorcht."
--
Eine Kirche, die nur nachplappert, was die Gesellschaft sowieso schon tut, ist nicht die Leitinstanz einer vermeintlichen civil religion, sondern provoziert das Gefühl, sie sei überflüssig. Das ist übrigens auch der entscheidende Unetrschied zur Ostdenkschrift: Die entfachte Debatten, weil sie der Gesellschaft etwas Neues zeigte, was sich dann auch durchgesetzt hat. Die OH aber übergießt das, was ist, mit einer Sauce der Zustimmung, die selbst denen, die sie damit unterstützen will, peinlich ist (Viele Alleinerziehende und Regenbogen-Familienangehörige hätten sich nichts sehnlicher gewünscht, als in einer stabilen Ehe leben zu können und leiden darunter, dass es nicht geklappt hat. Denen ist mit einem: "Was wollt Ihr eigentlich, Eure Lebensform ist doch o.k" überhaupt nicht geholfen ...)
Sie nimmt die Menschen grade nicht ernst!
Das ist ihr vernichtendes Defizit! Sie will auf biegen und brechen Familie durch eine gender-gerechte Care-Ökonomie ersetzen, sie ent-privatisieren, funktionaliseren . Gegen Luhmann, der Familie als einziges soziales System sah, in dem das selbstreferentielle System als Vollperson agiert und eben nicht funktional (Schelsky? Echt jetzt?) Es blendet alle wissenschaftlichen Studien der letzten 10 Jahre aus, die einmütig ein Come-Back von Privatheit und Familie ausmachen, die Kontrastfolie des Institutions-Tods. Deshalb ist die OH so realitätsfern wie es nur geht.
Und Barth als Zeugen zu instrumentalisieren, ohne den fundamentalen Widerspruch seiner Theologie zur OH zu benennen, deren Ansatz ein zwanghaft anthropologischer und deren "Gerechtigkeits"- begriff ein geradezu a-theistischer ist, ist schon mutig. Auch auf Hubers vorliegende scharfe Kritik an der OH gehen sie nicht ein (weil noch ein alter, weißer, maskuliner Bürgerlicher?)
Als aktive evangelische Christin, die schon seit über 30 Jahren mit Familien Gemeinde baut und Kirche gestaltet, nervt mich am meisten die bevormundende Attitüde mit der die AutorInnen in unsere Lebensgestaltung reinreden wollen. Wir anderen leben im Gegensatz zu den Altfeministinnen, die im Autorenkreis so dominanten Anteil an den Statements zu haben scheinen, post-gender und post-ideologisch. Pech, dass das Ding einfach so früh dem profundesten Entmythologisierer linker Ideologie in die Hände fiel, Jan Fleischhauer. Seiner Diagnose schließe ich mich an: die OH hat lediglich dahingehend orientiert, dass EKD als Institution nicht mehr lebensdienlich ist und den Verfall einfach beschleunigt.
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